Regie: Victor Kossakovsky
USA Norwegen
Dokumentarische Form, 93 Minuten
Gunda
/ 4 Minuten zu lesen
"Gunda“ beginnt mit dem unbewegten Blick auf die titelgebende Sau, die – Kopf vorne - hörbar atmend im holzgerahmten Eingang ihres Kobens lagert, bevor nach einigen Minuten langsam die ersten Ferkel quiekend von hinten über den Mutterleib nach vorne ans Licht und dann in Richtung Zitzen krabbeln. Danach beobachtet die Kamera im Stall von ganz nah den Konkurrenzkampf der Kleinen um die besten Milchsaugstellen und die folgende Erschöpfung. Erst nach etwa vierzig Minuten gibt es erstmals eine raumgreifende und idyllisch anmutende Totale auf eine baumgesäumte Wiese, wo die Ferkel um die Muttersau tollen. Neben Gunda und ihrem Nachwuchs sind eine Gruppe zerzauster Haushühner, die aus einem großen Gitterkasten ein weitläufig eingezäuntes Gelände betreten, und eine stattliche Herde Rinder, die im flirrenden Morgenlicht aus dem Stall in eine weite baumbestandene Landschaft galoppieren und dann einzeln näher betrachtet werden, die Protagonisten dieses Dokumentarfilms.
"Gunda“ kommt wie alle Filme von Victor Kossakowsky ganz ohne Off-Kommentar aus und wirkt so mit seinem beharrlichen Blick auf das Geschehen wie ein Abbild des Lebens selbst, wenn die Kamera minutenlang auf den miteinander in Überlebenskonkurrenz ringenden Ferkeln verweilt oder Schritt für Schritt mit den Hühnern durchs Unterholz spaziert. Doch Naivität ist beim Schauen von Dokumentarfilmen immer falsch, bei Kossakovsky erst recht. Denn der russische Dokumentarist ist ein Meister der subtilen Inszenierung, der etwa in "Tishe!“ (RUS 2003) eine gestandene Komödie nur aus Szenen montiert, die sein Kamerablick aus der eigenen Wohnung auf die Straßen von Petersburg eingesammelt hat.
Ein emotionalisierendes Plädoyer für mehr Tierrechte
Auch in "Gunda“ täuscht schon das Setting, das suggeriert, Schwein(e), Hühner und Rinder würden zwar einsam und ohne menschliches Zutun, aber doch am gleichen gemeinsamen Ort leben. Erst im Abspann ist deutlich zu lesen, dass die Bilder von unterschiedlichen Bauernhöfen und Tierasylen in Norwegen, Spanien und Großbritannien stammen: Letzteres sind privat betriebene Auffangstationen, wo meist alternde (manchmal auch junge) Tiere vor dem Abdecker oder dem Schlachter gerettet werden und ein friedliches Gnadenbrot bekommen. Geschickte Kamerabewegungen, die einheitliche schwarz-weiße Ästhetik und ein suggestives Sounddesign schaffen hier die Illusion einer dramaturgischen Einheit des Ortes. Dabei nutzt Kossakovsky – auch technisch ein versierter und leidenschaftlicher Tüftler – Drohnenaufnahmen, schafft es aber auch, mit der Kamera direkt vor der Schweineschnauze am Boden zu kriechen.
Und er schaut unseren tierischen Mitgeschöpfen immer wieder direkt ins Gesicht, so dass sie dem Publikum in Augenhöhe gegenübertreten. In dieser Tradition knüpft "Gunda“ an Filme wie Nicolas Philiberts "Nénette“ (FR 2010) oder zuletzt "Becoming Animal“ (CH GB CA 2018) von Emma Davie und Peter Mettler an, die versuchen, über das Medium Film das menschliche Bewusstsein um die Dimension tierischer Erfahrung zu erweitern. Ökologische Zusammenhänge hatte Kossakovsky schon in seinem letzten Film "Aquarela“ (GB DK USA 2018) zu seinem Thema gemacht, wo Folgen der Klimaerwärmung wie die beschleunigte Polarschmelze (mit gigantischen herabstürzenden Eisbergen) und zerstörerischen Tropenstürmen weite Strecken der Erzählung bestimmen und die bedrohlichen Aggregatzustände seines Filmstoffes Wasser beleuchten. Dabei geht es auch einmal spektakulär zu, wenn etwa in der Anfangssequenz wie aus dem Nichts ein PKW vom allzu frühzeitig aus dem Winterfrost aufgetauten Baikal-See ins eisige Wasser bricht.
Menschen kommen in "Gunda“ nur indirekt mit den Folgen ihrer Handlungen für die Tiere und ihre Lebenswelt vor. Stattdessen konfrontiert uns Kossakovskys Kamera mit dem Agieren der Schweine, Hühner und Rinder selbst. Es ist eine lebendige Präsenz, die uns als Menschen fasziniert - auch, weil wir nicht wissen, was hinter den aufmerksamen oder schläfrigen Augen vorgeht. So tendieren wir – Spiegelbild der "Animalisierung“ auf dem Screen – zu vermenschlichenden Projektionen, die eine lange Tradition im kulturellen Schaffen der Menschheit haben. Philiberts oben genannter Filmessay über eine Orang-Utan-Dame im Zoo von Paris thematisiert solche Deutungen und auch den Voyeurismus im beharrlichen Blick auf das Tier unter anderem durch die Montage kommentierender menschlicher Stimmen. So bekommt "Nénette“ als Film eine selbstreflexive Dimension. Kossakovsky dagegen nutzt die vermenschlichenden Projektionen zur emotionalen Steuerung durch die Montage von Bild und Ton. Denn auch wenn "Gunda“ völlig ohne Kommentar und die in vielen Naturfilmen dominante Musikbegleitung auskommt, ist der Sound deswegen ja keineswegs neutral - etwa wenn im richtigen Moment fröhliches Vogelzwitschern oder heftiges Grunzen eingeblendet wird. Und der vermeintlich fröhlich befreite Kuhgalopp hat – auch mangels Kontextualisierungen im Film - vermutlich einen ganz handfesten Grund in einer im Film nicht sichtbaren Futterquelle.
Lange geschulte Erwartungen des Publikums an narrative Kontexte und psychologische Konventionen tun das Übrige und lassen die zeitlupenartig gedrosselte Bewegung der Hühner aus ihrem Käfig hinaus gleich als Geschichte von Ausbruch und Befreiung deuten. Besonders deutlich wird das am Ende, wenn Kossakovsky nach dem nur indirekt gezeigten Abtransport von Gundas Nachwuchs Szenen montiert, die Verlust und Trauer der Muttersau suggerieren sollen. Nichts gegen die vermutlich intendierte und von der Autorin durchaus unterstützte Botschaft unserer moralischen Pflicht zu mehr Rücksicht auf Tierwohl und Tierrechte! Aber filmisch ist "Gunda“ in diesen Momenten kaum weniger manipulativ als "Bambi“. So ist Kossakovsyks Dokumentarfilm ein starkes ethisches und emotionales Plädoyer für den Eigenwert unserer nicht-menschlichen Mit-Tiere, aber auch eine gute Schule, sich mit der Erzeugung dieser Emotionen durch filmische Mittel auseinanderzusetzen.
Silvia Hallensleben schreibt seit vielen Jahren für das Filmmagazin "epd Film" und für Tages- und Wochenzeitungen wie "Der Tagesspiegel", "taz", "Jüdische Allgemeine" oder "DIE ZEIT". Zudem ist sie weltweit als Festivaljurorin tätig.
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