Regie: Iryna Tsilyk
Ukraine, Litauen 2020
Dokumentarische Form
Altersempfehlung: ab 15 Jahren, ab Klasse 10
Ein Leben an der Konfliktlinie
Seit April 2014 ist der ostukrainische Donbass Schauplatz Interner Link: kriegerischer Auseinandersetzungen. Mit tatkräftiger Unterstützung der russischen Regierung liefern sich dort pro-russische Separatisten schwere Kämpfe mit Militärtruppen der ukrainischen Regierung. Schon vor der Ausweitung des Krieges im Zuge der russischen Invasion 2022 litt die Zivilbevölkerung im Donbass massiv unter der allgegenwärtigen Kriegsbedrohung, was viele Menschen zur Flucht in andere Regionen der Ukraine veranlasst hat.
In ihrem Dokumentarfilm "The Earth Is Blue as an Orange" porträtiert Iryna Tsilyk eine Familie, die trotz dieser großen Gefahrenlage in ihrem Heimatort Krasnohoriwka, einer Kleinstadt nahe Donezk, an der sogenannten Konfliktline geblieben ist. Obwohl schon nach wenigen Minuten ein erster Eindruck davon vermittelt wird, wodurch das Leben von Hannah und ihren vier Kindern im Konfliktgebiet gekennzeichnet ist, handelt es sich bei Tsilyks Film nicht um eine klassische Kriegs-Dokumentation. Im Zentrum von "The Earth Is Blue as an Orange" stehen stattdessen die Dreharbeiten für einen Film, den die Familie gemeinsam entwickelt.
Film im Film und Krieg im Film
Der Kurzfilm, den die Familienmitglieder drehen, ist zunächst ein Bewerbungsvideo von Myroslava, einer der Töchter, für die Filmschule. Wie schnell deutlich wird, dient das Projekt den Familienmitgliedern aber auch zur Verarbeitung der Erfahrungen, die sie im Laufe des Kriegs gemacht haben. Durch den Fokus auf das gemeinsame Projekt werden die Protagonist*innen nicht als Opfer ihrer Umstände dargestellt, sondern als aktiv handelnde Personen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und künstlerisch verarbeiten. Als sie sich abwechselnd vor die Kamera setzen, um von ihren Gedanken und Erfahrungen aus der Kriegszeit zu erzählen, berichten die Familienmitglieder von Stress und Gereiztheit, aber auch von moralischen Dilemmata – soll die Familie fliehen und die Großeltern zurücklassen, oder zurückbleiben und in Angst leben? Während solche Reflexionen aus Myroslavas Bewerbungsfilm den Krieg in den Mittelpunkt rücken, zeigt Tsilyks Film auch ungezwungene Eindrücke aus dem Alltag, etwa wenn die Familienmitglieder musizieren oder gemeinsam am Tisch sitzen und Witze machen. Hier können auch die Zuschauer*innen für einige Minuten aufatmen, bevor die Drohkulisse des Krieges sich wieder in den Mittelpunkt zwängt – etwa, wenn das Dorf der Familie mitten in der Nacht beschossen wird.
Der Bewerbungsfilm von Myroslava ist nicht nur eine Gelegenheit, die Kriegserfahrungen der Familie zu reflektieren. Durch die "Film-im-Film"-Konstellation von "The Earth Is Blue as an Orange" kommt es nicht zuletzt auch zu einer Externer Link: Selbstreflexion über den Sinn des Filmemachens (womit sich der Film in die Tradition des Externer Link: reflexiven Kinos einreiht). Ausgehend von Tsilyks dokumentarischer Begleitung des Familienprojekts kann diskutiert werden, unter welchen Umständen Filmemachen in Konfliktzeiten möglich ist und welchem Zweck es dienen kann.
Filmschaffende zwischen Beobachtung und Involviertheit
In dem Rollengefüge zwischen vermeintlich unvoreingenommener Beobachterin und betroffener Person nimmt Myroslava eine dynamische Position ein. Zunächst lebt sie mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter in Krasnohoriwka. Im Verlauf des Films bekommt sie jedoch ein Stipendium, um fernab ihrer Familie (und bis 2022 zumindest auch fernab des Kriegsgeschehens) in Kyjiw Film zu studieren. Hiermit wird indirekt auf die ambivalente Rolle von Filmemachenden hingewiesen, die meist Prozesse dokumentieren, in die sie nicht unmittelbar involviert sind. Konsequent außenstehend zu bleiben, ist jedoch für viele Filmschaffende schwer möglich – auf besonders dramatische Weise wird dies während des aktuellen Krieges in der Ukraine deutlich, wo sich Filmschaffende, die das Kriegsgeschehen dokumentieren, unter den Kriegsopfern wiederfinden, so etwa der litauische Filmemacher Mantas Kvedaravičius.
Auch Tsilyk, die im Zuge der Dreharbeiten mit der Familie gelebt hat und gemeinsam mit ihr die im Film dokumentierten Kriegsereignisse aus nächster Nähe beobachtet hat, entwickelte ein sehr enges Verhältnis zu ihren Protagonist*innen und konnte ihnen letztlich auch zur Flucht verhelfen. Die Familie war zu einer Premiere von "The Earth Is Blue as an Orange" nach Litauen gereist und konnte nach der russischen Invasion im Februar 2022 dort bleiben. Im Film spiegelt sich die große Nähe zwischen Regisseurin und Protagonist*innen nicht zuletzt in der Externer Link: Kameraführung wider, die sich auf engstem Raum entfaltet und die die Protagonist*innen nah begleitet. Es zeigt sich auch darin, dass oft nicht ganz klar ist, welcher der beiden Filme eigentlich gerade gedreht wird – das gemeinschaftliche Projekt der Familie unter Federführung von Myroslava oder Tsilyks "The Earth Is Blue as an Orange".
Kollektiv geteilte Erlebnisse
Tsilyks Dokumentarfilm endet mit einer öffentlichen Vorführung des familiären Kurzfilms vor einem kleinen aber sichtbar interessierten Publikum im heimischen Gemeindesaal. Mit Blick auf die aktuelle Lage in der Ukraine — und viele weitere Konfliktherde der Welt — sind Tsilyks Dokumentarfilm ebenso wie das Familienprojekt auch als Verarbeitung von kollektiv geteilten Erlebnissen und individuellen traumatischen Erfahrungen relevant.
Vor dem Hintergrund einer Medienlandschaft, die schnell- und kurzlebig ist und auf emotionalisierende Bilder setzt, erinnert der Film an den Wert einer der ältesten Formen der Überlieferung von Erfahrungen: das gesprochene Wort. Immer wieder lässt die Regisseurin die Familie zu Wort kommen. Statt sich auf Kriegshandlungen zu fokussieren, die in "The Earth Is Blue as an Orange" nur indirekt und vereinzelt dokumentiert werden, setzt sich der Film über die geschilderten Erfahrungen ihrer Protagonist*innen mit den Ereignissen auseinander – etwa wenn Myroslavas Schwester von ihrer die Sorge berichtet, aufgrund des Krieges zerstreuter geworden zu sein. Veränderungen, die für die Kamera allein nicht sichtbar wären, können so dokumentiert werden. Der Film vermittelt damit letztlich einen Eindruck davon, was der Krieg für den Alltag und das Innenleben eines Menschen bedeutet.
Verfügbarkeit: Video-on-Demand auf Externer Link: Vimeo
Filminformationen
Originaltitel: Земля блакитна, ніби апельсин
Land: Ukraine, Litauen
Jahr: 2020
Gattung: Dokumentarische Form
Sprache: Ukrainisch, Russisch
Regie und Drehbuch: Iryna Tsilyk
Kamera: Viacheslav Tsvietkov
Montage: Ivan Bannikov, Iryna Tsilyk, Danielius Kokanauskis
Ton: Jonas Maksvytis
Produktion: Anna Kapustina, Giedrė Žickytė
Mit: Ganna Gladka, Myroslava Trofymchuk, Anastasiia Trofymchuk, Vladyslav Trofymchuk, Stanislav Gladky, Olena Gladka, Olga Gladka, Danylo Dydenko
Preise: Sundance 2020: Directing Award: World Cinema Documentary, Cinema Eye Honors Awards2021: The Spotlight Award, Docudays UA International Documentary Human Rights Film Festival 2021: Gewinner DOCU/UKRAINE und DOCU/WORLD uvm.
Länge: 74 Minuten
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