Regie: Sergei Loznitsa
Ukraine, Niederlande 2014
Dokumentarische Form
Altersempfehlung: ab 16 Jahren, ab 11. Klasse
Eine Menschenmenge hat sich versammelt. Dicht an dicht stehen Frauen und Männer – ältere, mittelalte und auch einige jüngere. Es ist kalt, der Atem dampft, viele tragen Pelzmützen, andere haben Kapuzen auf. Nahezu alle Gesichter blicken in Richtung der Kamera, die offenbar leicht erhöht auf einer Bühne steht. Aus dem Off kündigt ein Redner die Nationalhymne an. Als sie eingespielt wird, stimmen die Menschen fast ausnahmslos in den Gesang ein. Und als die Hymne endet und der Redner (auf Ukrainisch) ruft "Es lebe die Ukraine", erwidert die Menge "Es leben die Helden". Das Bild einer geeinten und patriotischen Bevölkerung.
Mit diesem zweieinhalbminütigen Prolog beginnt Sergei Loznitsas Dokumentarfilm "Maidan" (2014) über die Interner Link: Protestbewegung, den sogenannten Euromaidan, auf dem Platz der Unabhängigkeit (Majdan Nesaleschnosti) in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw, die im Winter 2013/14 zum Sturz des prorussischen Präsidenten Janukowytsch führte. Der Ukrainer Loznitsa, 1964 im heutigen Belarus geboren und seit 2001 wohnhaft in Berlin, ist seit jeher ein politischer Filmemacher. In seinen Dokumentar- und Spielfilmen setzt er sich vor allem mit der sowjetischen Geschichte und den postsowjetischen Gesellschaften auseinander. Dabei zeichnet sich seine Arbeit besonders durch den hochgradig reflektierten Einsatz filmästhetischer Mittel aus, der nicht zuletzt auf eine Aktivierung des Publikums zielt.
Formal strenge Annäherung an eine Revolution
Schon in dieser ersten Einstellung offenbart sich Loznitsas Film als Gegenentwurf zu gängigen dokumentarischen Formaten und ihren teilweise manipulativen Techniken. So hält die Kamera die Szene ungewohnt ausdauernd in einer einzigen starren Totalen fest, ohne einordnenden Kommentar und untermalende Filmmusik. Der Bildausschnitt hebt weder die schiere Masse als Ganzes noch einzelne Personen hervor. Auch tritt die Menge nicht durch eine Externer Link: Schuss-Gegenschuss-Montage in einen "optischen" Dialog mit dem Redner. Loznitsa führt so gleich zu Beginn die Leitideen und zentralen Gestaltungprinzipien des Films ein: Zum einen erzählt "Maidan" keine individuelle Heldengeschichte. Die Held/-innen sind vielmehr die protestierenden Menschen in ihrer Gesamtheit. Zum anderen unterstützen Bild und Ton nicht dabei, die emotionale Wahrnehmung des Publikums zu steuern. Stattdessen sind die Zuschauenden gefordert, sich die Vorgänge selbst zu erschließen – sich selbst ein Bild zu machen. Das widerspricht durchaus konventionellen Sehgewohnheiten, wie der Vergleich mit einem weiteren Dokumentarfilm über den Euomaidan zeigt: In der Netflix-Produktion Externer Link: "Winter on Fire: Ukraine’s Fight for Freedom" (GB, USA, UA 2015, Regie: Evgenyj Afyneewskyj) sind hochdramatische Handkameraaufnahmen mit emotionalisierender Musik unterlegt. Einzelne Akteur/-innen der Proteste werden deutlich hervorgehoben, kommentieren die Ereignisse in nachträglich gefilmten Interviews und lassen die Zuschauer/-innen die Ereignisse aus ihrer persönlichen Sicht nachempfinden.
"Maidan" dagegen reiht über seine gesamte Dauer zwei- bis dreiminütige unbewegte Externer Link: Halbtotalen und Totalen aneinander und verwendet ausschließlich Externer Link: Originalton. Die chronologisch angeordneten Impressionen zeigen anfangs eine friedliche, beinahe volksfesthaft anmutende Protestveranstaltung. Freiwillige bereiten Essen zu, schaffen Brennholz für Feuertonnen heran oder errichten Absperrungen, Bürger/-innen musizieren, diskutieren oder deklamieren, Schriftsteller/-innen tragen patriotische Texte vor, Priester halten Andacht. Niemand jedoch spricht direkt in die Kamera und nie fokussiert die Kamera Einzelne. Stets betonen die Aufnahmen das Ausschnitthafte, etwa wenn Passant/-innen das Bild durchqueren oder sich auf der Tonebene Geräusche, Gesänge, Durchsagen oder Gesprächsfetzen kakophonisch mischen. Erst in der Externer Link: Montage der Fragmente ergibt sich so etwas wie ein Gesamtbild des Euromaidan als eine vielfältig zusammengesetzte Bewegung. Als der Film nach etwa 45 Minuten erneut die Situation des Prologs aufgreift, lässt sich so der erste Eindruck mit den anschließend gemachten Beobachtungen abgleichen.
Vom friedlichen Protest zu bewaffneten Straßenkämpfen
Wichtig ist: Loznitsa macht seine Regie in klar komponierten, starren Kameraeinstellungen transparent. So finden sich zum Beispiel immer wieder Symmetrien und Frontalansichten. Der Bildstil steht damit im Gegensatz zur in reportageartigen Dokumentarfilmen häufig verwandten Externer Link: Handkameraästhetik, die Spontanität und Authentizität suggeriert. Auch strukturiert er die Bildfolgen durch gelegentliche Schwarzbilder oder anhand von Texttafeln, die das Gezeigte kontextualisieren. Auf diese Weise erfährt das Publikum – allerdings erst nach zwanzig Minuten – den Auslöser der Majdan-Proteste: die Weigerung Janukowytschs, ein Assoziationsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Später markieren die Texteinblendungen die Eskalationsstufen der Ereignisse: Die Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das Ultimatum der Regierung zur Räumung des Unabhängigkeitsplatzes und schließlich das brutale Durchgreifen des Sicherheitsapparats und die Straßenkämpfe, die mehr als hundert Todesopfer fordern.
In den Filmaufnahmen vollzieht sich die Zuspitzung zunächst schleichend. Wahrnehmbar wird sie etwa in Protestierenden, die Militärkleidung tragen – vereinzelt sogar Armeehelme –, aber auch in einzelnen aggressiven Parolen. "Maidan" verheimlicht dabei keineswegs, dass außer den ukrainischen Nationalfarben Gelb und Himmelblau, ab und an auch das Rotschwarz präsent ist, das an die Ukrainische Aufstandsarmee, eine paramilitärische Einheit im Zweiten Weltkrieg und zu Sowjetzeiten, erinnert und als Interner Link: Erkennungszeichen ukrainischer Nationalist/-innen dient. Als die Situation dann eskaliert, entwickelt sich die Dramatik nicht unter forciertem Einsatz filmischer Mittel – wie beispielsweise in der Netflix-Dokumentation —, sondern quasi durch das Geschehen selbst. Eine Ausnahme bildet die erste von zwei Externer Link: Kamerabewegungen im Film, die bezeichnenderweise durch eine von Sicherheitskräften geworfene Tränengasgranate verursacht wird, die den Kameramann zwingt, das Bild neu auszurichten. Der Moment kennzeichnet in "Maidan" den Ausbruch physischer Gewalt. Wie zuvor fängt die Kamera nun in unbewegten und ausdauernden Totalen die Kämpfe ein: Steine und Molotow-Cocktails werfende Protestierende, prügelnde und schießende Milizionäre, brennende Barrikaden. Die Positionierung des Films tritt dabei deutlicher hervor: Die Kamera steht auf Seiten der Aufständischen. Die Polizeikräfte bleiben in den Aufnahmen anonym, meist im Bildhintergrund.
Loznitsas Film spart auch schockierende Gewalt nicht aus: Er zeigt die (mutmaßliche) Tötung eines Protestierenden, aber auch die eines Polizisten. In beiden Fällen verharrt die Kamera jedoch in der Distanz. "Maidan" lässt keinen Zweifel an der Grausamkeit des Geschehens. Er bildet es ab, ohne zu überwältigen. Vor allem aber dokumentiert er, was mit Blick auf den russischen Angriffskrieg im Jahr 2022 eine neue Aktualität erhält: Den Mut und die Widerständigkeit der ukrainischen Menschen und deren Bewusstsein für ihre eigene Identität.
Verfügbarkeit: Interner Link: bpb-Mediathek
Filminformationen
Originaltitel: Майдан [Maydan]
Land: Ukraine, Niederlande
Jahr: 2014
Gattung: Dokumentarische Form
Sprache: Ukrainisch, Russisch
Regie und Drehbuch: Sergei Loznitsa
Kamera: Sergei Loznitsa, Serhiy Stefan Stetsenko, Mykhailo Yelchev
Montage: Sergei Loznitsa, Danielius Kokanauskis
Ton: Vladimir Golovnitski
Produktion: Sergei Loznitsa, Maria Choustova
Preise: Nuremberg International Human Rights Film Festival — Internationaler Nürnberger Filmpreis der Menschenrechte (2015)
FSK: 12
Länge: 130 Minuten
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