Einleitung
Auf einer Podiumsdiskussion im Londoner Genesis Cinema anlässlich der Zweiten Ausgabe des Hong Kong Film Festivals UK im März 2023 berichtete der Hongkonger Filmemacher Kiwi Chow über das Ausmaß der Zensur, die er derzeit als Regisseur im „neuen Hongkong“ erlebt. Gemeint ist damit die Zeit in Hongkong seit der Verabschiedung des Gesetzes zum Schutz der nationalen Sicherheit in Hongkong (National Security Law, NSL) 2020 oder 二次回歸 – wörtlich übersetzt die „zweite Rückkehr zum Mutterland“.
Für einen unabhängigen Filmemacher wie Chow wird die Arbeit an neuen Projekten zunehmend unmöglich. Er erzählte dem Publikum, dass die Selbstzensur in Hongkong inzwischen ein nie dagewesenes und unvorstellbares Ausmaß erreicht hätte: Ein Schauspieler sei von seiner Agentur gezwungen worden, aus Chows neuem Projekt auszusteigen, eine andere Schauspielerin und ihre Agentur hätten einer Beteiligung zunächst zugestimmt, gleichzeitig aber bereits eine Verpflichtung bei ihrer Agentur in Festlandchina unterzeichnet, sich nicht mit „den falschen Leuten“ einzulassen. Kinos oder Drehorte wollten vor einer möglichen Zusammenarbeit zunächst das Drehbuch prüfen. Er finde kaum noch Produktionsfirmen oder Investoren für seine Filme. Stattdessen müsse er sich die Mittel für neue Projekte über Crowdfunding oder auf anderen Wegen beschaffen.
„Ich arbeite ständig am Limit, mit dem Gefühl der Gefahr. Für den Fall meiner Verhaftung muss ich immer einen Ersatzregisseur einplanen. Ich weiß nie, wie lange es noch gut geht“, erklärte Chow auf der Podiumsdiskussion. „Selbstzensur ist ein ernstzunehmendes Problem. Die Regierung muss noch nicht einmal etwas tun oder das Drehbuch überprüfen, weil das bereits die Schauspieler*innen und die Kinos machen.“
Was Chow als Filmemacher in Hongkong erlebt, mag zwar überraschen, kommt aber keineswegs aus heiterem Himmel. Er ist einer der Regisseure der Anthologie Ten Years (Sap Nin, Jevons Au/Kiwi Chow/Zune Kwok/Ng Ka-Leung/Wong Fei-Pang, HK 2015), einer dystopischen Zukunftsvision Hongkongs, die in Peking in Ungnade gefallen ist. Außerdem führte er Regie bei Revolution of our Times (Si doi gaak ming, HK 2021), einem Dokumentarfilm über die Proteste in Hongkong 2019, der auf dem Filmfestival in Cannes seine Premiere feierte. Doch in Hongkong dürfen beide Filme nicht mehr gezeigt werden; zusammen mit zahlreichen anderen Spielfilmen, Kurzfilmen und sogar Animationsfilmen sind sie in den letzten Jahren einem Verbot oder der Zensur zum Opfer gefallen. Hongkong – ehemals ein als „Hollywood des Ostens“ bekanntes Zentrum der Film- und Unterhaltungsindustrie und Hort der Meinungsfreiheit – ist inzwischen kaum noch von anderen Städten in China zu unterscheiden, wo die Zensur von Filmen, Kunst und anderen kreativen Ausdrucksformen nach Einführung des Hongkonger Sicherheitsgesetzes einfach zum Alltag der Menschen gehört.
Wer Hongkong in der Zeit von den 1970ern bis 2020 erlebt hat, für den wird die „neue Normalität“ in der Stadt nach Einführung des Sicherheitsgesetzes ein Schock sein. Doch die Zensur von Filmen und anderen künstlerischen Ausdrucksformen ist in Hongkong nicht neu. Ein System der Zensur mit den entsprechenden Maßnahmen hat es schon immer gegeben, nur passt das jeweilige herrschende Regime die Regeln immer zu seinem politischen Vorteil an. Dieser Artikel vermittelt einen kurzen Überblick über die Geschichte der Filmzensur in Hongkong während der britischen Kolonialherrschaft und über die wichtigsten Veränderungen seit der Übergabe Hongkongs an die Volksrepublik China im Jahr 1997.
Filmzensur im Britischen Hongkong (1909-1997)
Von der Frühphase der britischen Kolonialherrschaft bis zur japanischen Besatzung
Mit der rasanten Entwicklung des Kinos zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewann auch die Filmzensur zunehmend an Bedeutung. Im Jahre 1909 verabschiedete Großbritannien den Cinematograph Act, der nicht nur als Rechtsgrundlage für die Vergabe von Lizenzen an Filmtheater, sondern bald auch als Referenzpunkt für die Filmzensur in den damaligen Kolonien des British Empire diente.
Das britische Kolonialregime führte in seinen Kolonien strenge Zensurbestimmungen ein – auch in Hongkong, das die Briten zunächst besetzt und anschließend 1841 im Verlauf des Ersten Opiumkriegs (1839-1842) zur Kolonie erklärt hatten. Die Bestimmungen sollten im Wesentlichen dazu beitragen, die Verbreitung britischer Vorstellungen und Werte unter der Bevölkerung in den damaligen Kolonien zu steuern und zu kontrollieren. Allerdings wurde dies in den verschiedenen Kolonien unterschiedlich gehandhabt. Im Falle Hongkongs gab es keine Zensurbehörde.
Dazu gehörten zum Beispiel die Darstellung „des weißen Mannes in abwertender Weise oder als Verbrecher“, „‚imperialistisches‘ Verhalten, z. B. ein bewaffneter Konflikt zwischen Chinesen und Weißen“ und „ethnische Fragen, insbesondere mit Blick auf Mischehen zwischen Weißen und Angehörigen anderer ethnischer Gruppen“. Sexuelle Beziehungen zwischen weißen Frauen und nicht-weißen Männern galten ebenfalls als problematisch, solche zwischen weißen Männern und nicht-weißen Frauen dagegen weniger. Eine Bestimmung betraf auch Filme mit Darstellungen von bolschewistischer oder Gruppengewalt, denn „Chinesen verlieren leicht die Beherrschung und derzeit gibt es schon genügend Gruppengewalt“. Filme, „die indische Staatsangehörige in einem schlechten Licht zeigen“, waren verboten, da eine erhebliche Zahl von Polizeibeamten in der damaligen britischen Kolonie aus Indien stammte, wie es in einem Schreiben des US-Konsulats von 1926 heißt.
Anti-Nazi-Propaganda: Plakat des US-Films CONFESSIONS OF A NAZI SPY (© picture alliance/Everett Collection)
Anti-Nazi-Propaganda: Plakat des US-Films CONFESSIONS OF A NAZI SPY (© picture alliance/Everett Collection)
Eine 1931 per Gesetz eingerichtete Zensurbehörde setzte sich aus dem Generalinspekteur der Polizei, dem Sekretär für chinesische Angelegenheiten und dem Bildungsdirektor zusammen. Die neue Einrichtung beinhaltete jedoch auch eine Beschwerdestelle und einen Ausschuss mit drei von der lokalen Frauenvereinigung The Helena May Institute ernannten Frauen, die sich ebenfalls an der Prüfung von Filmen beteiligten.
In den 1930er Jahren verschärfte sich die Zensur merklich mit dem Ausbruch des Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs 1937, einem Konflikt von hoher politischer Brisanz: Denn obwohl die Mehrheit der Hongkonger Bevölkerung aus China stammte, lebten zu dieser Zeit auch zahlreiche Menschen aus Japan vor Ort. So wurden z. B. in China spielende Kriegsszenen verboten. Auch die Zensur von Filmen mit deutschen und japanischen Protagonist*innen bot – vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen in den Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – immer häufiger Anlass zu Auseinandersetzungen. Die japanische Regierung übte Druck auf die Kolonialregierung Hongkongs aus, keine Filme zu zeigen, die sich 1939 gegen die japanischen Interessen richteten. Filmen, die offenbar mit der Ideologie des deutschen Nationalsozialismus sympathisierten, erteilten die Zensoren zunächst eine Genehmigung, um sie zu einem späteren Zeitpunkt dann doch zu verbieten. Im Jahr 1939 kam der Anti-Nazi-Film Confessions of a Nazi Spy (Ich war ein Spion der Nazis, Anatole Litvak, USA 1939) von Warner Bros. trotz Protesten des deutschen Generalkonsuls in die Hongkonger Kinos.
Zensur während des Kalten Kriegs und vor dem Hintergrund politischer Unruhen in China (1940er bis 1970er Jahre)
Als mit der japanischen Kapitulation im August 1945 drei Jahre und acht Monate japanischer Besatzung endeten und Hongkong erneut unter britische Herrschaft fiel, entwickelte sich die Stadt innerhalb kürzester Zeit zu „einem politischen und kulturellen Kampfplatz der Kommunisten und der Kuomintang“.
Nach dem Sieg der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Bürgerkrieg und der Gründung der Volksrepublik China (VRCh) setzte eine Massenmigration von Filmschaffenden (sowie Kapitalisten und Industriellen) aus China nach Hongkong ein. Die Kolonialregierung verschärfte daraufhin die Zensurbestimmungen, um kommunistische Propaganda und linkes Filmschaffen im Keim zu ersticken.
Chinesischer Bürgerkrieg
Der Chinesische Bürgerkrieg (1927-1949) zwischen der von der Kuomintang regierten Republik China und der Kommunistischen Partei Chinas endete, als die KPCh im Anschluss an die Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg die Oberhand gewann und Kontrolle über Festlandchina erlangte. Die Kuomintang floh daraufhin nach Taiwan.
Zweite Taiwanstraßenkrise
Die Zweite Taiwanstraßenkrise wurde ausgelöst, als die KPCh 1958 Truppen zur Bombardierung der vorgelagerten Inseln Kinmen und Matsu entsandte. Großbritannien wurde daraufhin zum unfreiwilligen Verbündeten Taiwans, um die USA zu unterstützen und gleichzeitig einen weiteren brutalen Krieg in der Region zu verhindern, da sich Ostasien noch nicht von den Folgen des Zweiten Weltkriegs und des Koreakriegs (1950-1953) erholt hatte.
Allerdings änderte sich die Lage im folgenden Jahrzehnt allmählich, als die Kolonialbehörden in Hongkong ab Mitte der 1960er Jahre auch Filme verboten, die China als beleidigend empfinden könnte. Großbritannien war grundsätzlich um eine Wiederherstellung umfassender diplomatischer Beziehungen mit der VRCh bemüht und verbot daher unter anderem auch Filme aus Taiwan, in denen Kommunisten aus China als „Banditen“ bezeichnet wurden. Gleichzeitig legte die Zensurbehörde 1965 in einer Stellungnahme fest, „ein Film [dürfe] nicht allein deshalb verboten werden, weil er politisch ist oder ausschließlich der Propaganda dient“. Den Zensoren wurde nahegelegt, ihre Arbeit duldsamer zu handhaben und zugleich auf die Befindlichkeiten zwischen den beiden gegnerischen Lagern in Taiwan und der VRCh Rücksicht zu nehmen.
Mai 1967 in Hongkong: Bei Protesten schleudert ein Demonstrant einen Stein in Richtung Polizei (© picture alliance/Associated Press)
Mai 1967 in Hongkong: Bei Protesten schleudert ein Demonstrant einen Stein in Richtung Polizei (© picture alliance/Associated Press)
Die Ausschreitungen während der Unruhen von 1967 markieren einen Wendepunkt in der Geschichte Hongkongs: Was im Mai 1967 als Arbeitskampf begann, weitete sich zu monatelangen gewaltsamen Protesten gegen die Kolonialregierung aus. Viele Protestierende sympathisierten in dieser Zeit, als die
In den Jahren 1965 bis 1974 fielen insgesamt 34 von 357 verbotenen Filmen der politischen Zensur zum Opfer. Zwischen 1973 und 1987 wurden 21 Filme aus politischen Gründen verboten.
Zensur in der Goldenen Ära des Hongkong-Kinos (1980er-1997)
Nach den Unruhen von 1967 begann für Hongkong – nicht zuletzt in der Unterhaltungsindustrie – eine neue Ära des wirtschaftlichen Wohlstands. Die Gründung von Studios wie den Shaw Brothers (1958) und später Golden Harvest (1970) sowie die Einweihung eines Fernsehsenders im Jahr 1967 (TVB mit seinem Mitbegründer Run Run Shaw von den Shaw Brothers) und die Umstrukturierung des öffentlichen Rundfunksenders Radio Television Hong Kong (RTHK) trieben die Entwicklung der Hongkonger Film- und Unterhaltungsindustrie voran und prägten über die Populärkultur – von Film- und Fernsehserien bis hin zu Cantopop – die einzigartige und aufkeimende kulturelle Identität der Stadt. Lokale Größen wie Bruce Lee, Jackie Chan oder John Woo erfreuten sich in den 1970er und 1980er Jahren internationaler Beliebtheit. Der Cantopop entwickelte sich außerdem zu einem Musikgenre, das chinesischsprachige Communities in aller Welt miteinander verbindet.
Doch die politische Zensur von Filmen war noch immer weitverbreitet. Cecile Tang Shu-Shuens China Behind (Zai jian zhongguo, HK 1978), ein im Jahr 1966 angesiedeltes Drama über den Fluchtversuch von vier Studierenden von China nach Hongkong während der Kulturrevolution, durfte bis 1981 in Hongkong nicht öffentlich gezeigt werden und tauchte erst 1987 in den Programmen kommerzieller Kinos auf. Das langjährige Verbot des Films wurde damit begründet, dass er „gewisses Material enthält, das den guten Beziehungen zwischen Hongkong und einem anderen Territorium schaden könnte“, so der Chefzensor im Jahre 1974, Pierre Lebrun. Auch das pro-kommunistische Lager in Hongkong äußerte sich kritisch über den Film. Die taiwanischen Filme The coldest Winter in Peking (Huang tian hou tu, Pai Ching-Jui) über die Absurdität der Kulturrevolution und If I were real (Jia ru wo shi zhen de, Wang Toon), eine Verfilmung von Sha Yexins Theaterstück über Korruption in der Kommunistischen Partei, wurden von der Prüfstelle für Fernsehen und Unterhaltung (Television and Entertainment Licensing Authority) mit dem Argument verboten, sie enthielten „politische Propaganda“ und seien „nicht im Interesse Hongkongs“. Das Verbot wurde erst 1989 aufgehoben.
Während die Behörden bemüht waren, Filme mit politischen Inhalten vom Publikum fernzuhalten, machte sich die Öffentlichkeit Sorgen über Darstellungen von Gewalt und Inhalten, die sich nicht für ein jüngeres Publikum eigneten. Es war John Woos Klassiker A Better Tomorrow (Ying hung boon sik, HK 1986), der diese Debatte und schließlich auch die Einführung eines Systems der Altersfreigabe auslöste.
Altersfreigabe in Hongkong
Die Kolonialregierung Hongkongs nahm in Kap. 392 der Movie Screening Ordinance von 1988 ein System der Altersfreigabe von Filmen auf, das Filme in drei verschiedene Kategorien unterteilte: Kategorie I für alle Altersgruppen, Kategorie II (mit den Unterkategorien IIA, nicht für Kinder geeignet, und IIB, nicht für jüngere Menschen und Kinder geeignet) und Kategorie III, nur für Personen ab 18 geeignet. Im Jahrbuch der Hongkong-Regierung von 2003 heißt es dazu: „Das Ziel besteht darin, Erwachsenen einen uneingeschränkten Zugang zu Filmen zu gewährleisten und gleichzeitig Personen unter 18 Jahren vor potenziell schädlichen Inhalten zu schützen“.
Leben mit ungewisser Zukunft: Faye Wong in CHUNGKING EXPRESS (© picture alliance/United Archives/IFTN)
Leben mit ungewisser Zukunft: Faye Wong in CHUNGKING EXPRESS (© picture alliance/United Archives/IFTN)
Auch nach der Einführung einer Altersfreigabe für Filme blieb die politische Zensur von Filmen bis 1994 bestehen und wurde erst drei Jahre vor der Übergabe Hongkongs an China aus den Zensurbestimmungen, der 1988 formulierten Film Censorship Ordinance, gestrichen. Nichtsdestotrotz waren die 1990er Jahre ein goldenes Jahrzehnt des Hongkong-Kinos voller lebendiger und ausdrucksstarker Geschichten, denen es nicht an politischen Anspielungen auf die Ängste im Zusammenhang mit der Übergabe Hongkongs an China mangelte: Von Komödien wie Alfred Cheungs Her fatal Ways (Biu je, nei ho ye!, HK 1990) oder Stephen Chows Klassiker All for the Winner (Do sing, Jeffrey Lau/Corey Yuen, HK 1990) und From Beijing with Love (Gwok chaan ling ling chat, Stephen Chow/Lee Lik-Chi, HK 1994) bis hin zu Wong Kar-Wais Chungking Express (Chung hing sam lam, HK 1994).
Filmzensur in Hongkong nach der Übergabe (1997-2023)
Selbstzensur und der Festlandmarkt (2003-2013)
Von den späten 1990ern bis in die frühen 2000er Jahre durchlief das Hongkong-Kino eine schwere Krise. Die jährlichen Produktionszahlen sanken von etwa 300 Filmen in der Hochphase auf unter 100. Die Produktionsfirmen suchten die Schuld bei der grassierenden Piraterie. Doch dann lieferte der Gangster-Thriller Infernal Affairs (Mou Gaan Dou, Andrew Lau/Alan Mak, HK) für alle die große Überraschung. Der Ensemblefilm mit Superstars Andy Lau und Tony Leung Chiu-Wai brach nach seinem Kinostart 2002 alle Publikumsrekorde und spielte an den Kassen der Hongkonger Kinos 55 Millionen HK$ (6,5 Millionen Euro) ein. Seitdem ist der Film ein Klassiker des Hongkong-Kinos geworden. Er hat nicht nur im Jahr nach seinem Start bei den Hong Kong Film Awards und den Golden Horse Awards in Taiwan abgeräumt, sondern auch Filmschaffende in aller Welt maßgeblich beeinflusst – darunter Martin Scorsese, der Regie beim Hollywood-Remake The Departed (Departed – Unter Feinden, USA/HK 2006) führte, das mehrere Oscars (unter anderem für den besten Spielfilm) gewann.
Der Erfolg von Infernal Affairs lieferte den handfesten Beweis, dass das Hongkong-Kino nichts von seiner Lebendigkeit verloren und sich seine Freiheit und kreative Energie aus der Zeit vor der Übergabe bewahrt hatte. Trotz des Konjunkturabschwungs während der Asienkrise Ende der 1990er Jahre waren die Zukunftsaussichten in Hongkong zu dieser Zeit noch ungetrübt. Die Meinungsfreiheit war intakt, wie es
Gut und Böse? Andy Lau (l.) und Tony Leung Chiu-Wai (r.) in INFERNAL AFFAIRS (© courtesy of Media Asia Film Distribution (HK) Limited)
Gut und Böse? Andy Lau (l.) und Tony Leung Chiu-Wai (r.) in INFERNAL AFFAIRS (© courtesy of Media Asia Film Distribution (HK) Limited)
Während Filme, künstlerische Ausdrucksformen und unabhängige Medien, die sich kritisch gegenüber der Lokalregierung oder Peking äußerten, zur damaligen Zeit in Hongkong noch erlaubt waren, erlebten Unternehmer, die auch auf dem riesigen Markt in Festlandchina Geschäfte machen wollten, schon bald, dass sie sich an die dort geltenden Regeln halten mussten. So auch im Falle von Infernal Affairs, der in Festlandchina mit einem anderen Ende veröffentlicht wurde. Im Original kommt Andy Laus Figur – ein bei der Polizei eingeschleuster Maulwurf der Mafia – ungeschoren davon, während Tony Leungs Figur – ein bei der Mafia eingeschleuster verdeckter Ermittler – sterben muss. Um den Film durch die chinesische Zensur zu bringen, wurde ein alternatives Ende mit einer moralischen Botschaft gedreht: In dieser Fassung wird Lau festgenommen und „der Böse“ kommt ins Gefängnis.
Der Fall Infernal Affairs macht die weitreichenden kulturellen und systemischen Unterschiede zwischen Hongkong und Festlandchina deutlich. Darüber hinaus war die Produktion eines alternativen Endes, das die Zensoren in Festlandchina besänftigen sollte, nur ein Vorgeschmack auf die Veränderungen, die der Hongkonger Filmlandschaft in den nächsten Jahrzehnten noch bevorstanden.
Am 29. Juni 2003 unterzeichneten Festlandchina und Hongkong mit dem Closer Economic Partnership Arrangement (CEPA) ein Freihandelsabkommen, um den Festlandmarkt für Waren und Dienstleistungen sowie für die Filmwirtschaft aus Hongkong zu öffnen. Die angeschlagene Hongkonger Filmindustrie betrachtete das Abkommen zunächst als Rettungsanker, weil es Filmen aus Hongkong uneingeschränkten Zugang zum Festlandmarkt mit seinen 1,3 Milliarden Menschen gewährte: So galten ab Januar 2004 beispielsweise Koproduktionen zwischen Hongkong und dem Festland als inländische Produktionen und waren damit von der Quote von 20 nicht-chinesischen Filmen pro Jahr ausgenommen. Reine Hongkong-Produktionen sollten ebenfalls nicht unter die Quote fallen, mussten jedoch einen Festlandvertrieb finden, was sich insbesondere für Filme in kantonesischer Sprache als Herausforderung erwies. Gemeinschaftsproduktionen wurden ebenfalls erleichtert, weil sich das Verhältnis von Crewmitgliedern aus Hongkong gegenüber denen aus Festlandchina von 30 auf 50 % erhöhte.
Kriegsepos: Filmstill aus John Woos RED CLIFF (© China Film Group/Everett Collection/picture alliance)
Kriegsepos: Filmstill aus John Woos RED CLIFF (© China Film Group/Everett Collection/picture alliance)
Der lukrative Festlandmarkt übte auf Filmstudios und prominente Filmschaffende in Hongkong einen besonderen Reiz aus. Im Jahrzehnt nach Inkrafttreten des CEPA gab es eine wahre Fülle an Hongkong-China-Koproduktionen, die es im Veröffentlichungsjahr bis in die Top Ten an den chinesischen Kinokassen schafften, darunter das Kriegsepos The Warlords (Tou ming zhuang) von Peter Chan und Yip Wai-Man aus dem Jahr 2007, Benny Chans Gangster-Thriller Invisible Target (Nam yi boon sik, 2007), das historische Action-Epos Bodyguards and Assassins (Shi yue wei cheng, 2009) von Teddy Chan, die Ip-Man-Serie (Ye Wen, Wilson Yip, 2008-2019), John Woos zweiteiliges Kostümdrama und Kriegsepos Red Cliff (Chi bi, HK/CHN/JPN/TWN/KOR/USA 2008 und 2009), Tsui Harks Detective Dee and the Mystery of the Phantom Flame (Di renjie zhi tongtian diguo, 2010), der Gangster-Thriller Overheard 2 (Sit ting fung wan 2, 2011) von Alan Mak und Felix Chong und Soi Cheangs The Monkey King (Xi you ji: Da nao tian gong, 2014).
Auch wenn einige Filmschaffende aus Hongkong in Festlandchina große kommerzielle Erfolge feiern, zeigt der Fall Infernal Affairs, dass sie sich an die dort geltenden Regeln halten müssen, um ihre Filme durch die Zensur für einen Vertrieb auf dem Festland zu bringen. Bestimmte Themen und Inhalte sowie jeglicher Hinweis auf übernatürliche Kräfte, die nicht zur chinesischen Tradition gehören, sind inzwischen tabu. Dies betrifft auch politische Komödien oder Geisterfilme, die in den 1980er und 1990er Jahren kennzeichnende Genres des Hongkong-Kinos waren. Filmschaffende sehen sich somit zu einer Selbstzensur ihrer Arbeit und der Geschichten, die sie erzählen wollen, gezwungen, wenn sie sich den Zugang zum lukrativen – und für viele inzwischen finanziell unverzichtbaren – Festlandmarkt sichern wollen.
Der Fall Ten Years (2015-16)
Als Peking seinen Einfluss auf Hongkong in den frühen 2010er Jahren immer mehr zementierte und damit die Angst vor einem Verlust an kultureller Identität und Grundrechten schürte, brachten die Menschen ihrer Unzufriedenheit mit den Behörden immer häufiger in politischen Aktionen zum Ausdruck. Dabei kam ein jahrelanger politischer Konflikt zum Vorschein, der mit der Zeit immer mehr eskalierte.
Das Hongkonger Filmpublikum hatte in dieser Phase auch ein Erweckungserlebnis. Im Zuge der politischen und gesellschaftlichen Bewegungen schärfte sich ihr Bewusstsein für die einzigartige kulturelle Identität Hongkongs. Blockbuster-Koproduktionen mit Festlandchina konnten nur mäßige Erfolge an den Kinokassen verbuchen, nachdem das Publikum erkannt hatte, dass diese Filme nicht für sie, sondern für ein Publikum nördlich der Grenze gemacht worden waren. Sie bevorzugten Filme, die sich an das Publikum vor Ort richteten, mit Insider-Witzen, wie Pang Ho-Cheungs Komödie Vulgaria (Dai Juk Hei Kek, HK 2012), die im Jahr ihrer Veröffentlichung zur zweitumsatzstärksten heimischen Filmproduktion avancierte, oder mit unterschwelligen politischen Botschaften, wie Fruit Chans Science-Fiction-Horrorfilm The Midnight after (Na yeh ling san, ngoh choh seung liu wong gok hoi mong dai bou dik hung van, HK 2014), der es 2014 auf Platz fünf der umsatzstärksten heimischen Filmproduktionen schaffte.
Mit dem Ende der Occupy-Central-Bewegung, die mit ihrer Forderung nach einer allgemeinen Direktwahl des Hongkonger Regierungschefs ohne vorherige Vorauswahl durch Peking scheiterte, war die Hongkonger Zivilgesellschaft an einem neuen Tiefpunkt angelangt. In dieser Zeit kam der Episodenfilm Ten Years in die Kinos, eine dystopische Zukunftsvision von Hongkong im Jahr 2025. Der mit einem geringen Budget von nur 500 000 HK$ (weniger als 60 000 €) produzierte Independent-Film wurde zum Kassenschlager und bei den Hong Kong Film Awards 2016 als bester Film ausgezeichnet.
Gemeinschaftserlebnis: Öffentliche Vorführung des im Kino zensierten TEN YEARS, Hongkong 2016. (© Alex Hofford/picture alliance/dpa/EPA)
Gemeinschaftserlebnis: Öffentliche Vorführung des im Kino zensierten TEN YEARS, Hongkong 2016. (© Alex Hofford/picture alliance/dpa/EPA)
Ende 2015 genehmigte die Zensurbehörde die öffentliche Aufführung und der Film lief zunächst in mehreren Programmkinos an. Doch Anfang 2016 wendete sich das Blatt, als die Staatszeitung Global Times Ten Years in einem Leitartikel als „lächerlich“ und dem „Pessimismus“ verfallen bezeichnete. Die Kinos nahmen den Film aus dem Programm und kein Filmtheater wollte ihn trotz seines Publikumserfolgs weiter zeigen. Er spielte – verglichen mit seinem kleinen Produktionsbudget – ganze 6 Millionen HK$ oder mehr als 700 000 € ein und lockte mehr Menschen an die Kinokassen als Star Wars: Episode VII – The Force Awakens (Star Wars: Episode VII – Das Erwachen der Macht, J. J. Abrams, USA 2015). Als der Film auf die Shortlist für die Hong Kong Film Awards 2016 gesetzt wurde, entschlossen sich Festland-Medien zu einem Boykott der Preisverleihung.
Das Schicksal von Ten Years war zu dieser Zeit lediglich der Beginn einer neuen Form der Zensur in Hongkong: Eine Zensur, die nicht mit rechtlichen Mitteln durchgesetzt wird und für die die Regierung keine öffentliche Verantwortung übernehmen muss. Ein einziger Leitartikel in einer Staatszeitung kann bereits Befehlscharakter haben. Anschließend wissen alle Beteiligten, insbesondere diejenigen mit persönlichen Interessen auf dem Festlandmarkt (viele Kinobetreiber und Filmfirmen aus Hongkong investieren in China), auf der Stelle, was sie tun müssen, um ihre Loyalität gegenüber Peking unter Beweis zu stellen.
Die Zeit nach Einführung des Hongkonger Sicherheitsgesetzes (2020-2023)
Prodemokratische Massenproteste: Am 16. Juni 2019 gehen Millionen Menschen in Hongkong gegen die Einführung eines Auslieferungsgesetzes auf die Straße. (© picture alliance/Photoshot)
Prodemokratische Massenproteste: Am 16. Juni 2019 gehen Millionen Menschen in Hongkong gegen die Einführung eines Auslieferungsgesetzes auf die Straße. (© picture alliance/Photoshot)
Das Jahrzehnt politischer Unruhen in Hongkong endete, als Peking 2020 im Anschluss an die Proteste des Jahres 2019, der größten politischen Bewegung in Hongkong seit den Unruhen von 1967, das weitreichende Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in Hongkong einführte. Die zunächst friedlichen Proteste gegen eine geplante Änderung des Auslieferungsgesetzes, nach der sich Verdächtige künftig vor einem Gericht in Festlandchina hätten verantworten müssen, hatten sich innerhalb kurzer Zeit zu einer Demokratiebewegung ausgeweitet, die die ganze Stadt erfasste und in vielen Fällen zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen jungen Protestierenden und der Sicherheitspolizei führte. Über mehrere Monate beteiligten sich in Hongkong mehr als zwei Millionen Menschen an den Protesten, mehr als 10 000 von ihnen wurden in dieser Zeit verhaftet.
Am 30. Juni 2020 trat das neue Sicherheitsgesetz in Kraft, das Subversion, Abspaltung, die Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten und terroristische Aktivitäten verbietet. Mit seinen unklaren Formulierungen löste das Gesetz in der Hongkonger Bevölkerung sofort zahlreiche Ängste aus. Die Regierung ließ zudem ein Anti-Aufruhr-Gesetz aus der britischen Kolonialzeit wieder aufleben. Die Rechtsvorschrift, die über fünfzig Jahre nicht zur Anwendung gekommen war, verbietet die Anstiftung zu Gewalt, Unzufriedenheit und anderen Straftaten gegen die Regierung.
Auch das Kino geriet schnell in die Schusslinie. Im März 2021 wurde der kritische Dokumentarfilm Inside the red Brick Wall (Lida Weicheng, Hong Kong Documentary Filmmakers, HK 2020), der ein zentrales Kapitel der Hongkonger Proteste von 2019 an der Polytechnischen Universität behandelt, aus den Kinosälen verbannt.
Protestdokument: Plakat von Kiwi Chows Dokumentarfilm REVOLUTION OF OUR TIMES (© revolutionofourtimes)
Protestdokument: Plakat von Kiwi Chows Dokumentarfilm REVOLUTION OF OUR TIMES (© revolutionofourtimes)
Vor diesem Hintergrund verabschiedete die Hongkonger Regierung im Oktober 2021 eine Änderung der Filmzensurvorschriften in Bezug auf Inhalte, die „Aktivitäten, die eine Gefährdung der nationalen Sicherheit gutheißen, unterstützen, verherrlichen, ermutigen oder dazu anstiften könnten“.
Nach der Änderung der Filmzensurvorschriften mussten mehrere Kurzfilme, die ursprünglich eine Vorführungsgenehmigung erhalten hatten, erneut zur Genehmigung vorgelegt werden. Darunter auch der studentische Kurzfilm Piglet Piglet von Lin Tsung-Yen aus Taiwan, der den Zensurbehörden im November 2021 nur fünf Stunden vor der eigentlichen Vorführung wieder vorgelegt werden musste. Anschließend sollte der Regisseur Szenen der Kampagne für die Präsidentschaftswahlen 2020 wegen „nationaler Sicherheitsbedenken“ herausschneiden. In zwei ähnlich gelagerten Fällen 2022 mussten der Kurzfilm The dancing Voice of Youth (Erica Kwok, HK 2020) und der animierte Kurzfilm Losing Sight of a longed Place (Shek Ka Chun/ Wong Chun Long/Wong Tsz Ying, HK 2017) erneut vorgelegt werden, obwohl sie bereits genehmigt und sogar schon im Kino gezeigt worden waren. Im Falle von The dancing Voice of Youth wurde die Regisseurin Erica Kwok aufgefordert, die angeblich staatsfeindlichen englischen Untertitel zu ändern, während die Filmschaffenden hinter Losing Sight of a longed Place die Anweisung erhielten, einen einsekündigen Ausschnitt von den Occupy-Central-Protesten 2014 aus ihrem Film zu schneiden. In allen drei Fällen weigerten sich die Filmschaffenden, die Änderungen vorzunehmen. Daraufhin wurden alle Vorführungen abgesagt.
Plakat des Dokumentarfilms BLUE ISLAND (© Blue Island Film)
Plakat des Dokumentarfilms BLUE ISLAND (© Blue Island Film)
Der Kurzfilm Far from Home (HK 2021) hatte bereits vor der Verabschiedung der neuen Filmzensurvorschriften keine Vorführungsgenehmigung erhalten. Er erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die beim Aufräumen der Wohnung ihres Freunds hilft – einem Rettungssanitäter, der während der Proteste von 2019 verhaftet worden war. Im Juni 2021 befahl die Zensurbehörde der Regisseurin Mok Kwan-Ling, 14 Stellen herauszuschneiden und den Titel des Films zu ändern. Auch sie weigerte sich.
Doch nicht nur als politisch kontrovers geltende Filme wurden zensiert. Im Oktober 2022 erhielt Christopher Nolans Fassung von Batman The Dark Knight (USA/UK) aus dem Jahr 2008 keine Genehmigung für eine Freiluftaufführung. Als offizielle Begründung wurden die Gewaltdarstellungen im Film genannt, doch weil der Film wegen der Darstellung einer chinesischen Figur nie in Festlandchina gelaufen ist, vermuteten Bewohner*innen und Medien in Hongkong schnell politische Beweggründe hinter dem Verbot. Im März 2023 nahmen die Kinos den Horror-Slasher Winnie-the-Pooh: Blood and Honey (UK) von Rhys Frake-Waterfield aus dem Programm, obwohl die Zensurbehörde seine Vorführung in Hongkong genehmigt hatte. Die Maßnahme wurde nicht näher begründet, viele vermuten jedoch die Hauptursache in der Figur des Winnie Puh, die in der Vergangenheit häufig als Karikatur des chinesischen Präsidenten Xi Jinping zum Einsatz kam und seitdem in Festlandchina verboten ist. Wie im Falle von Ten Years und Inside the red Brick Wall fand die Zensur außerhalb des geltenden Rechtssystems statt. Während politische Zensur in Zeiten der britischen Kolonialherrschaft klar geregelt war, muss man sich heute die Frage stellen, wo die rote Linie verläuft und wann bestimmte Themen in einem Film noch erlaubt sind. Dieser neuen Normalität müssen sich Hongkonger Filmschaffende und Kunstschaffende nach der Einführung des Sicherheitsgesetzes stellen, wenn sie in der Stadt bleiben wollen. Derweil setzen sich Kunst- und Kulturschaffende, die vor unmittelbarer politischer Gefahr geflohen sind oder sich – wie bereits Hunderttausende
Übersetzung aus dem Englischen: Kathrin Hadeler