1997 beim Filmfest München habe ich "Der Eissturm" (The Ice Storm, R: Ang Lee) zum ersten Mal "erlebt". Ich erinnere mich an die tiefe Ergriffenheit des Publikums, an das Schweigen während der Schlusstitel und an den Beifallssturm, der hinterher ausbrach und Ang Lee, Gast des Filmfestes, ebenso bewegte wie der Film die Zuschauer.
Seitdem habe ich den Film oft gesehen. Immer wieder, in Ausschnitten oder ganz, habe ihn in meinen Vorlesungen an den Filmhochschulen in München und Ludwigsburg gezeigt. Und selbst dort, wo die Vorführung auf dem kleinen Fernsehbildschirm stattfand, waren die Zuschauer genauso betroffen wie ich beim ersten Mal. Eine Betroffenheit, die übrigens unterschiedliche Generationen erfasst, die Eltern genauso wie die Kinder.
"Der Eissturm" spielt in einem Vorort an der Ostküste Amerikas. Schauplatz sind die kühn in die idyllische Natur der Ostküste hinein entworfenen Häuser im Stil der Architektur der 1960er Jahre. Dort leben beruflich inzwischen recht arrivierte Menschen, die aber noch geprägt sind von den Gedanken der politischen und sexuellen Freizügigkeit der 68er Generation. Zwei Familien sind auf besondere Weise miteinander verbunden: Ben Hood (Kevin Kline) hat ein Verhältnis mit seiner Nachbarin Janey Carver (Sigourney Weaver), die von ihrem Liebhaber aber genauso gelangweilt ist wie von ihrem Vertretergatten. Bens Frau Elena (Joan Allen) tröstet sich derweil mit übertriebener Hausarbeit, Gelegenheitsdiebstählen und dem missglückten Versuch eines One-Night-Stands. Die beiden Hood-Kinder Wendy und Paul (Christina Ricci und Tobey Maguire) proben – nach dem Vorbild der Eltern – erste Schritte in die erwachende Sexualität. Während Wendy die beiden Carver-Söhne, Sandy und Mikey, in ihrer wechselhaften Zuneigung gegeneinander ausspielt, macht der ältere Paul erste Liebes- und Drogenerfahrungen in der einige Bahnkilometer entfernten Großstadt.
Als am Abend von Thanksgiving ein Eissturm über das Land fegt, erstarrt die vorgetäuschte Vorortidylle. Janeys Sohn Mikey, der sich in die wilde Natur hinausgewagt hat, stirbt durch eine schreckliche Verkettung von Zufällen, ausgelöst durch einen umgestürzten Strommast. Wie in der griechischen Tragödie erscheint dieser Tod als das notwendige Opfer, um die verirrten Erwachsenen auf den Weg der Vernunft und Tugend zurückzuführen. Wenn in der letzten Szene Vater, Mutter und Tochter Hood den Bruder, der wegen des Stromausfalls erst am anderen Morgen aus der Stadt zurückkehren kann, am Bahnhof erwarten, spürt man, dass die Eltern nun bereit sind, Verantwortung zu übernehmen: für sich selbst und für ihre Kinder in der Zeit des Erwachsenwerdens.
Das Drehbuch zu "Der Eissturm" schrieb James Schamus, zugleich einer der Produzenten des Films, nach dem gleichnamigen Roman von Rick Moody. Moody, geboren 1961 und in Brooklyn lebend, gilt als einer der aufregendsten Autoren seines Landes. Ich erwähne sein Geburtsjahr deshalb, weil es mir wesentlich für die Interpretation seiner Geschichte erscheint. Im Jahr 1973, in dem sie spielt, war Moody zwölf Jahre alt. Zehn Jahre nach dem Tod von John F. Kennedy und sechs Jahre nach dem Summer of Love, der Hippie- und Flowerpower-Bewegung, war die Generation seiner Eltern damals endgültig erwachsen geworden. Ihre Träume vom erfüllten Leben und freier Liebe mussten sich längst bewähren angesichts konventioneller Lebensstationen wie Berufsleben, Heirat und Kinder. In den Vororten, wo sie nun der Kinder und der günstigeren Häuserpreise wegen lebten, gewannen Isolation und Langeweile die Oberhand. Aber noch versuchten sie durch fernöstliche Philosophien, esoterische Musik und Partys mit Partnertausch ein paar Erinnerungen an die Welt der Flowerpower in ihren Alltag hinüberzuretten.
Doch in der neuen Umwelt verkamen diese schnell zu traditionellen Betrugsvarianten, die beim Partner seelische Verletzungen und Einsamkeit auslösten. Man lebte in der Familie neben- statt miteinander. Der einst positive Impuls, der durch das Ausprobieren neuer Lebensformen entstanden war, wurde zusehends aufgebraucht. Die Kinder erlebten Unsicherheit in der Elternbeziehung. Ohne klare Bindungen aber wirkte die Zukunft auf sie wie ein vager Ort. So probierten auch sie sich aus, wie sie es bei den Eltern gesehen hatten, ohne Rückhalt und gesicherte Werte. Und es brauchte, so der Autor Moody, eine Katastrophe, um allen die Augen zu öffnen.
"Der Eissturm" ist also nicht nur die Geschichte zweier Familien in einem Vorort an der amerikanischen Ostküste, sondern wird zur Abrechnung mit der Elterngeneration der 1970er Jahre, deren Ideale Moody nicht nur in Frage stellt, sondern als geradezu tödlich für die heranwachsenden Kinder schildert.
Über "Der Eissturm" zu schreiben oder zu sprechen, ohne die Form des Films einer genaueren Analyse zu unterziehen, würde dem Werk nicht gerecht werden. Die Betroffenheit des Zuschauers, von der zu Beginn die Rede war, ist demnach nicht nur das Ergebnis des Filminhalts, sondern auch und vor allem das seiner Form. Die Kühle der modernen Lebensumgebung, die sich in der Architektur der Häuser manifestiert, wurde bereits erwähnt. Diese Kühle setzt sich fort in der ästhetischen Darstellung des Eissturms, des Höhepunkts des Films. Die Inneneinrichtung, in teilweise schrillen Sixties-Decors, die bunte Mode der Zeit sowie die kompliziert getürmten Frisuren sind in "Der Eissturm" nie Selbstzweck, nie dienen sie einem erheiternden oder nostalgischen Blick zurück oder gar der Karikatur der Charaktere, sondern sind Symbol für die schwierigen menschlichen Innenwelten der Figuren.
In schnörkellosen, kühlen Bildern beginnt Ang Lee die ruhige, sensible Reise in die eisige Innenwelt seiner Charaktere. Wie mit dem Seziermesser legt er die fragilen Mechanismen des Familienlebens frei. Dabei erzeugt er einen stets steigenden, fast thrillerhaften Sog in der Erzählung, der erst endet mit dem Bild der wieder vereinten Familie. Doch auch dieses gerinnt ihm nicht zum Kitsch. Nie verlässt der Regisseur die meisterliche Distanz der Erzählung. Nie macht er seine Figuren lächerlich. Eher gewinnt er dem tragischen Geschehen einen sehr feinen Humor ab.
Unterstützt wird der Regisseur durch eine Riege erstklassiger Schauspieler, die sein Konzept in der Einfachheit und Klarheit ihrer Darstellung mit großem Können umsetzen. Nicht umsonst sind auch die Kinderdarsteller heute alle Stars: Elijah Wood, Tobey Maguire, Christina Ricci. "Der Eissturm" wurde 1997 mit dem Preis der Internationalen Filmfestspiele in Cannes für das Beste Drehbuch (James Schamus) ausgezeichnet und erhielt 1998 den British Academy Award für die Beste Nebendarstellerin Sigourney Weaver. In Deutschland hatte der Film nur etwa 270.000 Zuschauer, und auch das Einspielergebnis in Amerika hielt sich mit acht Millionen Dollar in bescheidenen Grenzen.
Ang Lee, dieser großartige Regisseur unter anderem von "Eat Drink Man Woman" (Yin shi nan nu, 1994), "Sinn und Sinnlichkeit" (Sense and Sensibility, 1995) oder "Tiger and Dragon" (Crouching Tiger, Hidden Dragon, 2000) ahnte damals in München bereits, dass ihm mit "Der Eissturm" nicht sein erfolgreichster, sicher aber einer seiner besten Filme gelungen war.