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Taxi Driver | Der Filmkanon | bpb.de

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Taxi Driver

Alfred Holighaus

/ 7 Minuten zu lesen

Was es zum Klassiker braucht: Die Geschichte des Taxifahrers, der zur Selbstjustiz greift, ist zu schmutzig fürs Museum und viel zu modern, um jemals aus der Mode kommen.

"Taxi Driver", 1976 (© Bertz + Fischer Verlag / original copyright holders)

Paul Schrader, der Drehbuchautor von "Taxi Driver" (R: Martin Scorsese, 1976), hätte frustriert sein können. Ausgerechnet die berühmteste Zeile aus dem Film stand nicht im Drehbuch. "Are you talking to me?", improvisierte Robert De Niro in einer Szene vor dem Spiegel, die Paul Schrader natürlich erfunden hatte und die zu den zentralen Szenen eines Films gehört, der nach eben jenem Prinzip funktioniert: Es gibt ein dichtes Skript, genau beschriebene Charaktere, eine klare, intensive Dramaturgie – und ein Ensemble von herausragenden Filmkünstlern, die die Sorgfalt des schreibenden Autors um ihre Sorgfalt als Regisseur, Kameramann, Schauspieler und Schauspielerin, Maskenbildner, Komponist und location manager perfekt ergänzen. So ist "Taxi Driver" zu einem Film geworden, von dem alle Beteiligten wussten, dass und warum er gemacht werden musste. Zu einem Film, vor dem sich die Branche und die Kritik durchaus fürchteten, der als spekulativ galt, als zu gewalttätig, der übel genommen wurde. Zu einem Film also, der nicht nur das Zeug zum Kult hatte, sondern vor allem das Zeug zum Klassiker. Etwas zu schmutzig fürs Museum und viel zu modern, um jemals aus der Mode kommen zu können. Unglaublich realistisch gerade in seinen Anleihen an das fantastische Kino, gothisch und gruselig, schwermütig und verschmitzt, existenzialistisch, ganz klar, und existenziell für die Selbstbehauptung und Zukunft des Kinos, folgenreich und erfolgreich, missverstanden und erkannt. So einen Film macht jeder Regisseur – wenn er Glück und dieses als Tüchtiger auch verdient hat – nur einmal. Selbst ein Regisseur wie Martin Scorsese.

Als ihm sein Freund Brian de Palma 1972 das Skript aus der Feder des ehemaligen Filmkritikers (Frankreichs Nouvelle Vague lässt grüßen) Paul Schrader gab, hatte sich Scorsese gerade in der Exploitation-Firma des Talentschmiedes Roger Corman ausprobieren dürfen und mit der Hobo-Ballade "Die Faust der Rebellen" (Boxcar Bertha 1972) einen Achtungserfolg gelandet. Bevor er in der Mitte des Jahrzehnts, das nicht nur in den Augen von Jodie Foster das "goldene Zeitalter des amerikanischen Kinos" war, eben dieses Skript verfilmte, hatte er zwei Filme geschaffen, die nicht nur zum Glanz der Epoche beitrugen, sondern auch die wichtigsten personellen Bausteine für "Taxi Driver" gewissermaßen vorfabrizierten: "Hexenkessel" (Mean Streets, 1973) und "Alice lebt hier nicht mehr" (Alice Doesn't Live Here Any More, 1974) – mit Robert De Niro und Harvey Keitel beziehungsweise Jodie Foster und Kris Kristofferson. Letzterer spielt in "Taxi Driver" nicht mit, aber eine wichtige Rolle. Zumindest für die kurze, aber bemerkenswerte Romanze zwischen dem Taxifahrer und Vietnam-Veteranen Travis Bickle (Robert De Niro) und der Wahlkampfhelferin Betsy (Cibyll Shepherd). Denn sie zitiert Kristofferson – völlig zu Recht – wie einen großen amerikanischen Dichter bei ihrem ersten Date. Und er schenkt ihr Kristoffersons drittes und vielleicht wichtigstes Album The Silver Tongued Devil and I (1971) bei ihrem zweiten Date, in dessen unglücklichem Verlauf sie ihm das Album zurückgibt, weil sie es natürlich schon hat. Was aber erst eine Rolle spielt, als Betsy erkennt, dass sie Travis nicht mehr wiedersehen will. Als Travis zum ersten Mal auf sie aufmerksam wird, bekommt der Zuschauer eine Ahnung davon, dass er zwei Arten hat, die Welt zu sehen. Zwei Arten der Wahrnehmung, die sich wiederum als Stilmittel erweisen, mit denen der Film selbst dem Publikum den Weg zur Wahrnehmung des Films weist.

Travis sieht Betsy auf der Straße. Und sie bewegt sich in slow motion "wie ein Engel" unter den Passanten auf einem übervölkerten New Yorker Bordsteig. Wenn Travis die Welt und ihre Bewohner in slow motion wahrnimmt, sieht er sie jenseits der Wirklichkeit. Dann sieht er sie besonders intensiv, und es wird deutlich, was er über sie denkt oder sich von ihnen vorstellt. Auch sonst nimmt der Film im Wesentlichen die Perspektive seiner Hauptfigur ein. Aber diese Perspektive ist nie wirklich klar, sie ist unbestechlich und unsentimental, geht oft Umwege – beispielsweise und sehr gerne über Spiegel – oder verlässt auch mal den Weg, um ausgesprochen deutlich auf ihn zurückzukommen.

"Taxi Driver" beginnt wie ein Horrorfilm. Mit der Effekt-erprobten Musik des Hitchcock-Filmkomponisten Bernard Herrmann, der aber im Leitmotiv den Groove des New York der 70er Jahre erzählt. Und in dem berühmten Show-down, wenn Travis die minderjährige Nutte Iris (Jodie Foster) – nicht unbedingt auf ihren Wunsch – aus dem Puff befreit, da scheint der ganze Film sich ebenso zu benehmen. Doch eigentlich ist "Taxi Driver" ein stiller Film, eher ein Psychogramm als ein Psychothriller, viel mehr Ballade als Räuberpistole. Ein Gedicht, in dem grausame Selbstjustiz zum jüngsten Gericht stilisiert und – weil die Verhältnisse so sind – sogar zur Heldentat wird. Trotzdem ist der Nebel, aus dem Travis´ Taxi im ersten Bild auftaucht, ein Nebel des Grauens. Denn für Travis ist die Stadt, in der er, weil er nachts nicht schlafen kann, Nacht für Nacht unterwegs ist, eine grauenvolle Stadt. Eine Stadt voller Schmutz und Abschaum. Travis ist damit allein. Das macht seinen Blick auf die Welt nicht klarer. Im Gegenteil, es zieht den Fokus auf alles, was er hasst, ablehnt, verabscheut. Deshalb findet er Pornofilme im Zweifel romantisch und das Engagement für einen schwer zu fassenden Politiker wie den Präsidentschaftskandidaten Palantine im Film obszön.

Martin Scorsese lässt Travis Bickle zum Simplicissimus der Moderne werden, bei dem die Grenze zwischen Paranoia und gesundem Menschenverstand fließend ist. Man versteht seinen Widerwillen gegen Kinderprostitution, Drogenmissbrauch, Korruption und neurotische Selbstgenügsamkeit. Aber man spürt ebenso stark den Unwillen gegen Selbstjustiz, Rassismus und Reaktion, die Travis Bickle unverblümt verkörpert. Scorsese und sein Film helfen dem Zuschauer aus diesem Widerspruch nicht heraus. Im Gegenteil. Mit der Besetzung der diesen Widerspruch verkörpernden Figur durch Robert De Niro wird das Dilemma verstärkt – und damit auch die einmalige Wirkung des Films. Robert De Niro gibt keine Antworten. Er ist die Personifizierung aller Fragen, die der Film aufwirft. Er ist der Philosoph der Straße und der Henker ihrer Justiz. Er ist verliebt, und er ist verbittert. Er ist zurückhaltend, und er ist ungeheuer aggressiv. Diese Figur muss nicht, wie im Märchen, das Fürchten lernen, diese Figur lehrt das Fürchten. Unmittelbar vor den Dreharbeiten für "Taxi Driver" hat De Niro einen Oscar für seine Rolle in Francis Ford Coppolas "Der Pate - Teil II" (The Godfather: Part II, 1974) bekommen und stand für Bernardo Bertoluccis Epos "1900" (1976) in Italien vor der Kamera. In den Drehpausen machte er in New York den Taxischein. Wenn sich das scheinbar Normale mit dem scheinbar Unglaublichen im scheinbar Unscheinbaren verbindet, kommt es zu einer chemischen Reaktion im Cineastischen. Jedenfalls nach den Gesetzen von Robert De Niro– und die gelten ja für "Taxi Driver".

"Taxi Driver" – das ist übrigens die Geschichte eines einsamen Taxifahrers in New York, der durch enttäuschte Liebe, Vietnam-Trauma und gelebten Hass auf die Unmoral einer amerikanischen Großstadt erst zum Killer, dann zum Helden und schließlich wieder zum Taxifahrer wird. Es ist aber nicht nur ein Schauspielerfilm. Natürlich liefert Robert De Niro hier eine der größten Leistungen seiner Karriere ab, weil er – im mehrfachen Wortsinn – unfassbar ist. Natürlich zeigt Jodie Foster schon mit zwölf Jahren, was in den nächsten Jahrzehnten von ihr zu erwarten sein wird. Natürlich macht der bis zu diesem Film eher als stand-up-comedian aufgefallene Albert Brooks (als Kollege von Betsy) deutlich, dass die Verkörperung des Komischen viel zur Tragödie beitragen kann. Und natürlich hat Harvey Keitel aus der ursprünglich kleinen Rolle des Zuhälters von Jodie Foster einen Part gemacht, der die grundsätzlich verstörende Wirkung dieses Films noch intensiviert. Aber dennoch ist "Taxi Driver" auch im besonderen Maß ein visueller Film, ein Film des Kameramannes Michael Chapman, der mit Martin Scorsese neue Wege ging. Dabei spielt die Subjektive der Hauptfigur eine wichtige, einzigartige Rolle. Richtig aufregend allerdings wird der Film da, wo er genau diese Perspektive verlässt. Das ist der Fall bei den unzähligen untersichtigen Aufnahmen der Taxifahrten durch New York, die dem Film atmosphärische Dichte verleihen und eine eigene visuelle Topografie zwischen Beklemmung und Aufklärung etablieren. Es sind vor allem die Kamerabewegungen, die auf den ersten Blick Irritation suggerieren und auf den zweiten Blick die genauesten und erlebenswerten sind: der Gang von Travis durch die Taxigarage, in dessen Verlauf sich die Kamera von ihm wegbewegt, um ihn schließlich wiederzufinden. Ein Orientierungslauf. Oder der Schwenk nach rechts, wenn Travis am Telefon erkennen muss, dass Betsy ihn nicht wiedersehen will. Man hört noch seine Stimme am Telefon und die leise Hoffnung auf ein Wiedersehen. Aber man sieht schon längst den leeren Gang, den Travis danach vor sich hat.

Schließlich sind Filme von Martin Scorsese oft auch Musikfilme. Entweder ganz direkt – wie in "The Band" (The Last Waltz, 1978), der ein Jahr nach "Taxi Driver" getanzt wurde und das legendäre Abschiedskonzert der US-kanadischen Kultgruppe The Band (Music from Big Pink) aus dem Jahr 1976 dokumentiert. Oder über ein zentrales fiktionales Thema wie im zeitgleich entstandenen "New York, New York" (1977). Oder als integrales dramaturgisches und dramatisches Element einer Geschichte, die ohne Musik vielleicht nicht zu ertragen oder zu verstehen wäre. Wenn Harvey Keitel in "Taxi Driver" die geschäftliche Beziehung zwischen sich und seiner minderjährigen Nutte Jodie Foster durch das drohende Engagement von Robert De Niro gefährdet sieht, lullt er sie mit einem Monolog ein, der deutlich von den erotischen Litaneien des Soulsängers Barry White beeinflusst ist. Und wenn der Film einmal emotional zur Ruhe kommt, dann zur Musik des wahrscheinlich entspanntesten Rock ´n´ Rollers aller Zeiten, Jackson Browne mit seinem Hit Late for the Sky, dessen Text allerdings wieder die Unruhe von Travis Bickle in Worte fasst.

Interner Link: Filmkanon kompakt: Taxi Driver

Fussnoten

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Von 1986 bis 1995 Redaktionsleiter des "tip-Filmjahrbuchs". Anschließend Dramaturg, Producer und Verleiher bei Senator bis 2001. Seit 2001 ist er Kurator für den deutschen Film bei der Berlinale und arbeitet als Programm-Macher, freier Produzent und Autor.