Eine große Passagiermaschine, noch im Steigflug begriffen, und ein ansonsten leerer Himmel, wolkenlose Unendlichkeit. Der Blick der Kamera ist auf das Flugzeug fixiert. Er kann sich nicht von ihm lösen, aber folgen kann er ihm auch nicht. Je höher die Maschine steigt, desto kleiner wird sie. Dann, als sie ganz zu verschwinden droht, der nun schon ersehnte Schwenk weg von der eisigen Leere des Himmels, vorbei an einem Straßenschild und hin zum Horizont und dem mit ihm verschmelzenden Meer.
So beginnt "Alice in den Städten". Es ist Wim Wenders´ vierter Spielfilm und dabei doch der erste, nach dem er sicher war, ein Regisseur zu sein. Eine beinahe maßlose Sehnsucht spricht aus diesem Blick nach oben. Der Traum vom bloßen Entrinnen aus dem Hier und Jetzt ist in ihm genauso präsent wie die Hoffnung auf eine triumphale Ankunft in einer anderen Welt. Aber mit der Dauer des Blicks verändert sich etwas. Zweifel und Angst kommen auf. Die Welt und die Wirklichkeit, wie wir sie kennen, beharren auf ihrer Macht über alles menschliche Treiben. Die Erde und ihre Anziehungskraft halten die Kamera am Boden fest und mit ihr vorerst auch den Film.
Sich von der Erde zu lösen, sich von den normativen Zwängen der Realität der frühen 1970er Jahre zu befreien, danach strebte Wim Wenders. Die letzte Einstellung des Films gilt zunächst noch ganz dem 31-jährigen Journalisten Philip Winter (Rüdiger Vogler) und der 9-jährigen Alice van Damm (Yella Rottländer). Die zwei befinden sich auf der (vielleicht) letzten Etappe ihrer Odyssee. Ein Zug bringt sie von Duisburg nach München. Beide werden dort erwartet: er von seinem Redakteur, sie von ihrer Großmutter. Äußere Umstände diktieren ihnen also den Weg in die bayerische Metropole. Doch könnten sie dort durchaus auch das Ziel ihrer Reise erreicht haben.
Philip und Alice strecken die Köpfe zum Fenster heraus. Ihr Haar flattert im Fahrtwind. Die Kamera beobachtet sie währenddessen von einem Hubschrauber aus. Erst ist sie dabei noch nah an den beiden dran. Ihre von erwartungsvoller Freude erfüllten Gesichter werden vom Fenster eingerahmt. Dann öffnet sich der Blick. Ein Zoom zurück schafft Distanz zu diesem seltsamen Paar. Schließlich steigt der Helikopter höher und höher. Selbst der zunächst noch endlos erscheinende Zug, der sie ihrer Bestimmung entgegenbringt, wird immer kleiner. Die hügelige Landschaft entlang des Rheins scheint ihn buchstäblich zu verschlucken. Kurz bevor er ganz in ihr verschwindet, dreht der Hubschrauber leicht nach rechts ab. Der Blick der Kamera geht nun in die Ferne, in die Philip und Alice entrinnen.
So endet "Alice in den Städten". Die Erde liegt weit unter und die Zukunft vor uns. Das ist kein Schluss im üblichen Sinne. Das ist ein Versprechen. Die anfängliche Furcht und Unsicherheit sind aus Wenders´ Blick gewichen. Der sehnsuchtsvolle Blick nach oben ist Vergangenheit. Der Filmemacher hat sich den Himmel erobert und schaut nun voller Zuversicht nach vorne. Das Gefühl von Freiheit ist in diesem Moment wirklich grenzenlos. Die banale Realität des Alltags in den Städten ist nicht unüberwindlich; es gibt einen Pfad aus ihr heraus in eine andere Welt, ein Wunderland, das eben nicht allein im Reich der Märchen liegt.
Es ist ein weiter Weg, der von diesem ersten Blick hoch zu der Passagiermaschine schließlich zu dem Flug über den Rhein führt. Die Freiheit, die Wenders am Ende von "Alice in den Städten" für sich gefunden hat, wird einzigartig bleiben in seinem Schaffen als Regisseur wie auch im deutschen Kino der 70er Jahre. Sie erwächst zugleich aus Philips Geschichte, also den Erfahrungen seiner planlosen Reisen durch Amerika und das Ruhrgebiet, und aus Wenders´ Bereitschaft, noch einmal von vorne anzufangen. Trotz aller Verbindungen zu seinen drei früheren Filmen markiert "Alice in den Städten" einen ersten Bruch in seinem Schaffen, weitere werden im Lauf der Zeit folgen. Erst mit dieser relativ kleinen, in Schwarzweiß auf 16-mm-Material gedrehten Produktion ist es Wenders gelungen, sich gänzlich frei zu machen von der Frage, ob er nun ein Filmemacher oder doch eher ein Maler sei. Er vertraut einfach auf die Kraft seines Blicks, die Wirklichkeit einzufangen und durch das Moment des Sehens auch zu verändern.
Als wir Philip Winter das erste Mal begegnen, sitzt er an einem Strand irgendwo an der amerikanischen Atlantikküste. Mit seiner Polaroidkamera macht er Fotos von der Brandung. Doch keines dieser Bilder entspricht ganz dem, was seine Augen zuvor registriert haben. Die Kamera greift sich einen Moment aus dem alles umfassenden Meer der Zeit heraus und hält ihn fest, aber sie verändert ihn auch. Doch zumindest liefert ein Foto einen Beweis für die Existenz seines Gegenstandes. In ihm ist evident, wofür Winter keine Worte findet. Deshalb macht er auch all diese Fotos. Statt, wie es sein Auftrag von ihm verlangt, über die amerikanische Landschaft zu schreiben, versucht er, sie sich in Schnappschüssen anzueignen.
Nach Wochen des ziellosen Suchens auf Highways und in Motelzimmern kehrt Philip endlich nach New York zurück und legt dort seinem amerikanischen Agenten unzählige Fotos vor. Aus der Summe dieser dem Vergessen entrissenen Momente soll nun sein Text entstehen. Doch das interessiert sein Gegenüber nicht. Für den Agenten, einen dieser typisch amerikanischen Pragmatiker, zählt nur, dass Philip seinen Abgabetermin überschritten und ihm damit unnötige Umstände gemacht hat. Er will mit diesem unzuverlässigen Deutschen und seinen seltsamen Ideen nichts mehr zu tun haben. Insofern ist er erleichtert zu hören, dass Philip zurück nach München will, um dort den Artikel zu Ende zu schreiben; aber einen weiteren Vorschuss gibt er dem von Geldnöten geplagten Autor trotz allem nicht.
Bei dem Versuch, einen Flug in die Heimat zu buchen, lernt Philip die kleine Alice und ihre Mutter Lisa van Damm (Lisa Kreuzer) kennen. Lisa hat gerade ihren Mann verlassen und will nun so schnell wie möglich mit ihrer Tochter zurück nach Deutschland. Doch das ist aufgrund eines Fluglotsenstreiks unmöglich. Den dreien bleibt nur die Möglichkeit, am nächsten Tag nach Amsterdam zu fliegen. Philip besorgt Mutter und Tochter daraufhin ein preiswertes Hotelzimmer für die Nacht. Er selbst will bei einer Freundin (Edda Köchl) unterkommen. Doch die kann sein Selbstmitleid und seine Egozentrik nicht ertragen und wirft ihn schließlich aus ihrer Wohnung. So übernachtet Philip am Ende im Zimmer von Lisa und Alice. Am nächsten Morgen ist Lisa dann allerdings verschwunden. Auf einer hinterlassenen Nachricht bittet sie Philip, sich vorerst um ihre Tochter zu kümmern, sie selbst will dann so schnell wie möglich nach Amsterdam nachkommen. Nachdem sie dort einen Tag lang vergeblich auf Lisa gewartet haben, fahren Philip und Alice nach Wuppertal. Dort soll, so glaubt das Mädchen zumindest, ihre Großmutter leben. Aber der einzige Anhaltspunkt, den die beiden haben, ist ein altes Foto von ihrem Haus.
In der ihm gewidmeten Episode der 2005 für den französisch-deutschen Fernsehsender Arte produzierten Reihe Meine Filme: 8 Starregisseure erzählen (Lettre à un jeune cinéaste) steht Wim Wenders einer Gruppe internationaler Filmstudenten Rede und Antwort. Einer der angehenden Cineasten fragt ihn, was er jungen Regisseuren rate. Nach einem kurzen Zögern, das seiner Antwort noch etwas mehr Gewicht verleiht, erwidert Wenders: "My best advice is on one hand to know the history of cinema ... and on the other hand to forget about it."
Die Geschichte des Kinos kennen und sie dann doch wieder vergessen, das ist auch ein guter Ratschlag für alle, die sich mit Wenders´ Filmen beschäftigen. Die Bezüge zwischen seinen Werken und der Filmgeschichte sind mannigfaltig. Sie reichen von direkten Verweisen und Zitaten bis hin zu eher unterschwelligen Verbindungen. So hallen in "Alice in den Städten" die frühen Filme des italienischen Neorealisten Vittorio De Sica nach, vor allem dessen Klassiker "Fahrraddiebe" (Ladri di biciclette, 1948). In Philips und Alices Suche nach der Großmutter kann man Spuren der Suche von Vater und Sohn nach dem Fahrrad erkennen, zumal beide Filme offen sind für Seitenblicke, für Momente, die sich nicht in das dramaturgische Konzept der Geschichte fügen wollen.
Doch letztlich führen derartige Vergleiche nur in eine Sackgasse. Man muss "Fahrraddiebe" nicht gesehen haben, um sich in der Poesie von "Alice in den Städten" zu verlieren. Wenders und sein Film sind gerade dann ganz bei sich, wenn die Zeit stillzustehen scheint, etwa in der Szene in der Eisdiele. Während Alice und Philip, dem das Ganze langsam zu viel wird, wieder einmal streiten, spielt die Jukebox On the Road Again von Canned Heat. Immer wieder tritt im Lauf dieser Szene der Song in den Vordergrund und lädt dabei zu Reflexionen über Amerika und Deutschland, Popmusik und Leben ein. Er variiert die Themen des Films und setzt sie im gleichen Zug in ein anderes Licht.
Film- und Fernsehbilder sind ein bedeutender Teil der alltäglichen Wirklichkeit in Wenders´ Kino. Ihnen zu entgehen ist nahezu unmöglich. In "Alice in den Städten" verfolgen sie Philip Winter auf seiner ganzen Reise durch die Vereinigten Staaten. Selbst in der Wartehalle des New Yorker Flughafens sind sie noch gegenwärtig. Nur haben all diese Bilder längst ihre Fähigkeit verloren, Sinn zu stiften. Dieser nie zu Ruhe kommende Bilderstrom reißt vielmehr einfach alles mit sich und droht den Betrachter in seinen Sensationen zu ertränken.
Philip versucht, sich der Strömung zu widersetzen. Doch weder sein Gewaltausbruch, der ihn in einem Motel einen Fernseher zerstören lässt, noch seine Polaroidfotos, die als Momentaufnahmen aus dem Fluss der Bilder herausfallen, können ihn vor dem Untergehen bewahren. Erst als er anhand von Alices Foto das Haus der Großmutter entdeckt, verändert sich sein Verhältnis zu Bildern und damit auch zum Leben an sich. Erstmals wird er sich der vielfältigen Verbindungen zwischen der Wirklichkeit und ihren Abbildern bewusst. Ihr Wechselspiel kann den Menschen nicht nur von sich entfremden, wie Philip in seinen Tiraden gegen das Fernsehen beklagt hat, es kann ihm auch die Augen für sich und die Welt öffnen.
Genau aus diesem Wissen heraus erschafft Wenders seine Bilder gegen die Flut der Bilder. Wie Philip sucht auch er in "Alice in den Städten" nach Momenten und Szenen, die uns einen Schlüssel zu einem neuen Verständnis an die Hand geben, und er hat sie in all den Sequenzen gefunden, in denen das Dokumentarische über das Fiktive und die gefundenen über die inszenierten Bilder triumphieren. Am Ende kann er dann mit seiner Kamera den Boden verlassen, den der Welt wie auch den der Tatsachen, und einer Zukunft entgegenfliegen, in der dem Filme- und Bildermacher endlich alle Wege offen stehen.