Als ich 1962 "Goldrausch" (Goldrush, 1925) sah – nicht zum ersten Mal, nun aber mit 2.720 Metern so vollständig wie schon 1925 bei seiner Uraufführung –, war ich zufrieden, mehr nicht. Denn diese Vorführung, nicht mit Chaplins Originalmusik, sondern einer neuen Musik unterlegt, konnte mich keinesfalls mehr begeistern als jene deutsche Filmfassung aus dem Jahr 1945, die mich schon begeistert hatte, als ihr noch, von Chaplin selbst gekürzt, 20 Minuten fehlten und sie überdies nach Chaplins eigenem Text von einem synchronisierten deutschen Sprecher begleitet war. Die vollständige Fassung bot natürlich ein Mehr, aber doch – wie ich noch ausführen werde – nichts wirklich anderes als die vorherigen, von denen es in Deutschland bis dahin immerhin zwei gegeben hatte.
Schon die Weimarer Zeit, auf deren Urteile über "Goldrausch" wir angewiesen waren, ehe uns der Film selbst erreichte, hatte ja nicht Chaplins ursprünglichen Film gesehen. Vielmehr eine von ihm um 380 Meter, also gut 14 Minuten, gekürzte Fassung. Dennoch begeisterte der Film, in den Kritiken ging man auf diese Kürzungen nicht einmal ein. Wie beispielsweise Kurt Tucholsky aus Paris noch vor der deutschen Erstaufführung den Film bejubelt – welche Fassung hatte er wohl in Frankreich gesehen? – und dabei vor allem den Brötchentanz beschreibt, ist ja nur das Vorspiel zu einem ungewöhnlichen Vorgang. Vielleicht nur im Berliner Erstaufführungs-Theater, vielleicht aber auch anderswo wurde der Brötchentanz doppelt kopiert und war in der Vorführung also da capo zu sehen. Wie genau der Film betrachtet wurde, wenn auch sicherlich nicht von jedem Zuschauer, demonstriert andererseits Willy Haas, renommierter Kritiker vor und nach der NS-Zeit, in seiner Beurteilung des Films: "Man muss sehen, wie er den Silvestergesang eines bärtigen Alten in einem Wirtshaus spielen lässt und schneidet. [...] Und dann schneidet er ein paar Großaufnahmen von ganz bewegungslos singenden Köpfen ein –, dass einem das Herz stillsteht. Eine alternde Kokotte. Ein junges sentimentales Mädel. Ein zweiter Greis. Drei Lebensschicksale in drei ganz bewegungslosen Gesichtern."
Als ich in den 50er Jahren "Goldrausch" zum ersten Mal sah, waren mir solche Urteile bereits bekannt oder wurden mir bald vertraut. Denn wie alle großen Filme der Vergangenheit war in jenen Jahrzehnten vor Fernsehen, Video und DVD auch "Goldrausch" den Interessierten normalerweise schon längst in Büchern und Zeitschriften begegnet, ehe man ihn auf der Leinwand vor Augen bekam. Bei dieser ersten Begegnung begriff ich jedoch, dass der Film nicht nur die Ansammlung von Paradestückchen ist, als die er ohne Zweifel auch gelten kann und muss.
Den ganzen Film durchläuft vielmehr ein Thema, das seine Bravour-Höhepunkte zusammenhält und seinen eigentlichen Wert ausmacht. Wie in der Musik wird es in verschiedenen Handlungssträngen und Episoden abgewandelt, immer aufs Neue orchestriert. Es gibt dem Film seinen besonderen Charakter: "Chaplin wollte, an einem Beispiel, allen Menschen ihr Leben zeigen, er wollte einen Menschen zeigen, der alle Freuden, Leiden, Schmerzen, Hoffnungen, Enttäuschungen und Erfolg aller Menschen hat, er wollte einen Menschen darstellen, der ein Stück von uns ist, sodass wir mit ihm leiden und hoffen, weil wir es selbst sind." So schrieb damals die Deutsche Filmwoche. Und so ist es in der Tat: "Goldrausch" zeigt in dem Tramp Charlie (Charles Chaplin) den Menschen schlechthin, jeden Menschen in seinen Höhen und Tiefen. Er spiegelt also, wenn überhaupt, nur höchst indirekt Chaplins "Erinnerungen an seine proletarische Jugend" und vergegenwärtigt mit Gewissheit mehr als "ein Stück sozialer Geschichte der unterdrückten Klasse, die allerdings noch kein glückliches Ende kennt wie dieser Film", wie die kommunistische Rote Fahne den Film interpretierte.
Allerdings ist "Goldrausch" über die Tatsache hinaus, dass er alle Menschen meint und allen nahe gehen kann, "ein Film, der alle tragischen Erschütterungen auflöst in himmlische Heiterkeit", wie Herbert Ihering, der große Theater- und Filmkritiker jener Jahre, resümiert. Dies Element der glücklichen Fügung zeigt sich nicht nur in den einzelnen Episoden (etwa der Begegnung mit dem Grizzly), die den Kurzfilmcharakter nicht verleugnen wollen und können. Es prägt auch die größeren Handlungskomplexe der einsamen Hütte, der Goldgräberstadt und schließlich die tragenden Momente der Goldsuche und der Liebe, die beide durch Zufall glücklich enden.
Die Sehnsucht der Menschen nach Glück wird also von Chaplin in "Goldrausch" ernst genommen, indem er sie erfüllt – allerdings nicht in einer scheinbaren Zwangsläufigkeit der Geschehnisse und Entwicklungen, nicht durch ein scheinbar konsequentes Handeln einer der Hauptpersonen, sondern immer und immer wieder durch einen glücklichen Zufall, der sich "eben ergibt". Das Bemühen aller Personen in "Goldrausch" ist nicht von vornherein vergebens, aber, je mehr Anstrengungen sie unternehmen, desto stärker vom Scheitern bedroht. Und dennoch geht durch glückliche Fügungen für diejenigen, denen unser Mitgefühl gilt, alles immer gut aus.
Erst nach mancher Begegnung mit dem Film ist mir aufgegangen, welche Bedeutung Träume in ihm spielen. Denn Wunschtraum und Albtraum, Fiebertraum und Tagtraum, nicht zu vergessen der Lebenstraum, sind konstitutiv für "Goldrausch"; wesentliche Elemente des Films – der Brötchentanz, das gourmethafte Verspeisen von Schuhsohle und Oberleder, Charlie als leckeres Hühnchen – spielen sich in dieser zweiten Welt des Menschen ab, in die er auch geraten kann, wenn er es nicht mehr aushält in der Realität. Der Goldrausch, der dem Film den Titel liefert, die Liebe, die so aussichtslos beginnt und so glücklich endet – das sind die Lebensträume, die nur das Märchen, nur der Film, die nur der Traum erfüllen kann. Sieht man "Goldrausch", so erlebt und begreift man, dass nur unsere Traumwelten unseren Träumen zur Wirklichkeit verhelfen können. Eine resignative, doch auch eine tröstliche Botschaft. Und gleichzeitig eine bildhaft-ereignisreiche Verschmelzung von Traum, Einbildung, Fantasie und Wirklichkeit zu einer filmischen Realität! Das Träumen als wesentliches Element menschlichen Lebens – in "Goldrausch" wird es sicht- und erlebbar.
Andere haben das damals anders formuliert, vielleicht auch anders gesehen. Erwin Goelz, prominenter Kritiker der Stuttgarter Zeitung, sah in Charlie das "Sinnbild aller Verlorenheit des Menschen in der Welt, seines unaufhörlichen Suchens nach einer Geborgenheit", und Joachim Kaiser von der Süddeutschen Zeitung nahm "die Wahrheit einer Ballade, die Sentimentalität eines modernen Märchens" wahr. Mit solcher Deutung erledigte sich auch eine Befürchtung, die schon 1945 Erich Kästner geäußert hatte, als Chaplins gekürzte Tonfilmfassung von 1942 in den Kinos der amerikanischen Besatzungszone gezeigt wurde: "Die jungen Leute, die den alten Film zum ersten Mal sehen, lachen heute genau so vergnügt und laut wie wir damals, als 'Goldrausch" neu war. Und das freut uns, die grauhaarigen Chaplinkenner, von ganzem Herzen. Wir hatten schon insgeheim Angst, der Nationalsozialismus hätte den Jungen und Mädels den Geschmack hieran verdorben."
Kästners Angst ist, unabhängig von Wirkungen des Nationalsozialismus und der Tatsache, dass man den Film nach 1935 im Deutschen Reich nicht mehr sehen konnte, nicht unberechtigt. Denn bei jedem älteren, nicht nur jedem stummen Film muss man sich meiner Überzeugung nach fragen, wie weit er besonders die jungen Menschen der Gegenwart noch anzusprechen vermag. Denn die Zeiten wandeln sich und wir uns mit ihnen. Deshalb werden Lebensfragen und Darstellungsformen – zwar nicht immer, aber doch sehr häufig – von Entwicklungen überrollt, die ihre Bedeutung, aber auch Überzeugungskraft mindern. So scheint mir ein Prüfstein für die überzeitliche Qualität eines Films, ob und in welchem Maße es ihm gelingt, im Lauf der Zeiten seinen Zuschauern nicht nur als historisches Relikt intellektuell Beachtung abzunötigen, sondern – darüber hinaus und vielleicht sogar unabhängig davon – sie menschlich, also nicht nur intellektuell zu packen, sie zu beeindrucken und zu faszinieren. "Goldrausch" jedenfalls hat, wie sich bis heute erwiesen hat, diese Probe bestanden. Er zählt als Film, im Fernsehen, auf Video und DVD nicht nur zu den Marksteinen in der Geschichte des audiovisuellen Mediums, sondern zum unverzichtbaren Weltkulturerbe, das unser Verständnis des Menschen nicht nur in der Vergangenheit vertieft hat, sondern fortlaufend bereichert.
Das Problem, dass die vielen verschiedenen Fassungen von "Goldrausch" doch alle in ähnlicher Weise beeindruckend wirken, löst sich, so meine ich, durch die innere Geschlossenheit des Films, durch das Zusammenspiel von Spiegelbildlichkeit menschlichen Daseins, Wunschverwirklichung in Traumwelten und Heiterkeit der Konfliktlösungen. Mag auch die eine oder andere Szene fehlen (der hinter Charlie hertappende Grizzly gehört unter anderem dazu), so bleibt der Grundcharakter des Films in allen seinen Episoden eben doch erhalten. Die beiden Fassungen, die Chaplin selbst autorisiert hat, und die vielen, die von anderen zu verantworten sind, werden an der Essenz dieses Films nichts ändern, auch wenn sie diese verdünnen und die Handlung durch Kürzungen verarmen können.
Allerdings bleibt bei den mit Kommentar unterlegten Fassungen der Einwand von Gerhard Storz aufgrund der zweiten Chaplin-Fassung von 1942. Er monierte, dass durch die Sprecherstimme "im spannenden, dichtesten Augenblick mir, meinem Sehen und wohl zugleich auch meinem Voraus-Sehen, meiner Beteiligung und Erwartung, einer zuvorkam. Der nahm das Eigentliche und Letzte, gewissermaßen die Pointe, weg." Man kann dem zwar entgegenhalten, auch die Worte der Zwischentitel im Stummfilm hätte man schließlich lesen müssen. Doch unterscheidet sich, meine ich, die individuelle Intonierung, mit der man die Zwischentitel liest, von der vorgegebenen Intonierung eines Kommentars fundamental: Ersteres ist meine eigene Interpretation, letzteres die Interpretation eines anderen. Ich jedenfalls bevorzuge aus diesem Grunde entschieden die Stummfilm-Fassung von "Goldrausch".