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Mut zur Ambivalenz Große Themen in den fantastischen Animes von Hayao Miyazaki

Stefan Stiletto

/ 6 Minuten zu lesen

Hayao Miyazaki vor dem Plakat seines Films Ponyo – Das große Abenteuer am Meer (2008) (© Chris Pizzello / picture alliance / ASSOCIATED PRESS )

Als Zeichentrickfilme aus Japan in den späten 1980er-Jahren zunehmend auf internationalen Festivals präsentiert wurden, prägte sich besonders ihr Externer Link: ästhetischer Stil ein. Die japanischen Animationsfilme waren sowohl in der Darstellung der flächigen menschlichen Figuren mit den verhältnismäßig großen Augen, ihren vielfältigen, teils sehr erwachsenen Themen und verschachtelten Erzählweisen sowie in ihrer an Realfilme angelehnten Inszenierung anders als Trickfilme, die zur selben Zeit etwa in Europa oder den USA entstanden. Um diese kulturelle und ästhetische Besonderheit zu betonen, hat sich seither die Bezeichnung Anime für Animationsfilme aus Japan etabliert – wohlgemerkt nur außerhalb Japans; in Japan selbst bezieht sich der Begriff, eigentlich eine Abkürzung des englischen „animation“, auf Animationsfilme jedweder Herkunft.

Schon früh hat Hayao Miyazaki sich international mit Filmen wie Nausicaä aus dem Tal der Winde in Fachkreisen einen Namen als Anime-Regisseur gemacht, bis er 2002 durch seine Auszeichnung mit dem Goldenen Bären bei der Berlinale sowie ein Jahr später mit dem Academy Award als bester Animationsfilm für Chihiros Reise ins Zauberland (2001) auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde. Die zumeist in fantastischen Welten oder Zwischenwelten angesiedelten Werke des Mitbegründers des Studio Ghibli zeichnen sich durch ihre pazifistische Grundhaltung aus und erzählen oft über das Verhältnis von Mensch und Umwelt, Traditionen, Politik und Kriege. Anhand ausgewählter Filme von Miyazaki lässt sich daher besonders gut veranschaulichen, wie auch in fantastischen Geschichten große gesellschaftspolitische Themen behandelt werden können – auch wenn sie sich bisweilen an ein Kinderpublikum richten.

Uneindeutigkeit als Bildungsmoment

Filmplakat Nausicaä aus dem Tal der Winde (1984) (© picture alliance / Mary Evans/AF Archive/Optimum Re )

Nausicaä aus dem Tal der Winde (Kaze no Tani no Naushik, Hayao Miyazaki, JP 1984) erzählt über eine junge Prinzessin, die sich in einer dystopischen Welt plötzlich inmitten eines Konflikts zweier Königreiche wiederfindet. Zusätzlich werden die beiden Reiche durch riesige insektenartige Wesen und ihre vergiftete Umwelt bedroht. Spannend ist der Anime (in der unbearbeiteten Originalfassung seit 2006 weltweit erhältlich) auch, weil er konsequent gängige Erwartungen unterläuft. Wer an westliche dramaturgische Muster gewöhnt ist, erlebt hier stets neue Irritationen: Wer sind hier nun die „Guten“? Und wer die „Bösen“? Auf welcher Seite steht die Protagonistin Nausicaä, deren Name auf eine Figur aus Homers Epos Odyssee verweist? Wie in vielen seiner Werke stellt Miyazaki eine ebenso kluge und selbstbewusste wie empfindsame Heldin, die auch Fehler macht, in den Mittelpunkt – ein Figurentypus, der zur damaligen Zeit noch nicht üblich war und ganz und gar nicht dem Bild der stereotypen passiven und hilfsbedürftigen Prinzessin entspricht, wie sie aus westlichen Märchen bekannt ist. Zudem entwirft er eine komplexe Welt, in der es keine einfachen Lösungen gibt. Es geht weniger um Richtig und Falsch, sondern vielmehr darum, Zusammenhänge zu erkennen. Stets wandelt sich die Einordnung und Perspektive, stets muss das Publikum umdenken. Das Monströse erweist sich als wertvoller Bestandteil der Natur, Menschen mit guten Absichten treffen falsche Entscheidungen und Gegenspieler verdienen Sympathie.

Mehr als ein Jahrzehnt später greift Miyazaki diese Erzählweise noch einmal in Prinzessin Mononoke (Mononoke Hime, Hayao Miyazaki, JP 1997) auf. In dem in der feudalherrschaftlichen Muromachi-Zeit (etwa 14.-16. Jh.) angesiedelten Fantasyfilm gerät der verfluchte, aus seiner Heimat geflohene Prinz Ashitaka zwischen die Fronten: Die Herrscherin eines Menschen-Clans beutet über eine Eisenhütte die Natur aus und zieht damit den Zorn der im Wald lebenden Gottheiten auf sich. Auch hier verschwimmen die Grenzen zwischen etablierten „Gut“- und „Böse“-Konzepten, je mehr der Film über die Herrscherin erzählt. Denn diese handelt keineswegs aus Eigennutz, sondern befindet sich ebenfalls in Abhängigkeiten, um den Arbeiter/-innen in der Eisenhütte – allesamt aus der Gesellschaft Verstoßene – ein gutes Leben zu ermöglichen.

Ambivalenz, auch in Kinderfilmen

Auch in Miyazakis Kinderfilmen haben ambivalente Figuren ihren Platz. In Ponyo (Gake no Ue no Ponyo, Hayao Miyazaki, JP 2008) ist der Unterwasserzauberer Fujimto frustriert darüber, wie die Menschen ihre Umwelt zugrunde richten. Sein Plan ist es, die Welt mit reinem Meerwasser zu überfluten und alles wieder auf Anfang zu setzen. In westlichen Animationsfilmen wäre Fujimoto vermutlich ein eindeutiger Schurke. Bei Miyazaki ist er exzentrisch, aber nicht so leicht einzuordnen. Sein Ärger über die Umweltverschmutzung ist nachvollziehbar, seine Mittel dagegen sind es kaum.

Dass die fantastischen Welten Miyazakis voller solcher uneindeutiger Figuren sind, macht auch ihren vielschichtigen Reiz aus. Sie bringen das Publikum in das Dilemma, zugleich Abneigung und Sympathie für die Antagonist/-innen (und manchmal auch die Held/-innen) zu empfinden und regen zur Auseinandersetzung an. Moralisch sind die Filme nichtsdestotrotz. Machtmissbrauch, Machtstreben und Gier führen in Miyazakis Filmen zu nichts; dafür ist in jedem die humanistische Grundhaltung des Regisseurs zu spüren. Nahezu allen seiner Figuren gesteht Miyazaki eine Entwicklung zu. Auch wenn die Welt am Ende nicht unbedingt ein besserer Ort ist, haben die Figuren zumindest die Erkenntnis gewonnen, um aus ihr einen solchen zu machen.

Die Erhabenheit der Natur spüren

Szenenbild Prinzessin Mononoke (1997). (© Studio Ghibli)

Ganz eng verwoben mit diesem Traum von einer besseren Welt ist auch die Rolle, die Umwelt und Natur in den Filmen von Miyazaki spielt. Dabei geht es nicht nur um ein reines Plädoyer für den Umweltschutz. Filme wie Nausicaä aus dem Tal der Winde, Das Schloss im Himmel (Tenkū no Shiro Rapyuta, Hayao Miyazaki, JP 1986) oder Prinzessin Mononoke tauchen vielmehr in die Schönheit der Natur ein. Immer wieder zeigen die Filme, wie die Figuren ihre Umwelt wahrnehmen – und oft gibt es Szenen, die durch den Musikeinsatz, die Kameraperspektive und die poetische Inszenierung die Erhabenheit der natürlichen Umwelt spürbar machen. Der mystische See im tiefen Wald in Prinzessin Mononoke, in dem der verletzte Ashitaka zum ersten Mal dem Waldgott begegnet, ist ein geradezu paradiesischer Ort von überwältigender Schönheit, genauso wie die Höhle in Nausicaä aus dem Tal der Winde, in der der Heldin bewusst wird, wie die Umwelt sich selbst heilt. Die Erfahrung der Natur bei Miyazaki ist oft auch ein religiöser, mythischer Moment. Der für die in Japan verbreitete Shinto-Religion prägende Glaube an eine belebte Natur spiegelt sich auch in der allgegenwärtigen Vielzahl von Göttern, Geistern und Fabelwesen. Auch in der westlichen Fantastik – etwa bei Tolkien und den Verfilmungen seiner Werke – treten einzelne Figuren als Akteure der Natur auf. Miyazakis Darstellung geht jedoch in der animistischen Tradition des Shintoismus darüber hinaus: Alles kann irgendwie magisch, im weitesten Sinne göttlich sein.

Immer wieder Krieg

Szenenbild Das wandelnde Schloss (2004). (© Studio Ghibli)

So kontemplativ die Filme von Miyazaki bisweilen sind, so grausam können sie auch sein. Wie in Nausicaä aus dem Tal der Winde herrscht auch in Das wandelnde Schloss ein Krieg – wobei der Film in Gestalt seiner Protagonistin die Beobachtersicht einnimmt. Die junge Frau, die durch einen Fluch in eine Greisin verwandelt wurde, blickt auf das Geschehen und ist erschüttert. Selten zeigen die Filme direkte Kampfhandlungen. Vor dem Hintergrund des Krieges erzählt Miyazaki keine glorifizierten Geschichten von Heldenmut. Wichtiger ist ihm, die Folgen und Auswirkungen von Kriegen zu zeigen: die Zerstörung von Städten und Landschaften, Missgunst zwischen Menschen, zerrissene Familien.

So beginnt auch Externer Link: Der Junge und der Reiher (Kimitachi wa Dō Ikiru ka, JP 2023), die jüngste Regiearbeit von Hayao Miyazaki, inmitten des Zweiten Weltkriegs. Mahito, dessen Mutter bei einem Bombenangriff auf Tokio ums Leben kam, lebt mit seinem Vater und dessen neuer Frau auf dem Land. Als die Stiefmutter, zu der Mahito ein schwieriges Verhältnis hat, eines Tages verschwindet, lässt er sie nicht im Stich und macht sich trotz seiner Abneigung auf die Suche nach ihr. Auch in der magischen Unterwelt, in die ihn seine Reise führt, herrscht Krieg. Mahitos Erlebnisse und Entwicklung in der Traumwelt führen entgegen der actionreichen Handlung in erster Linie zu einer moralischen Reifung. In der fantastischen Welt bilden sich sein Charakter und sein Wertebewusstsein heraus.

Dass die ökologische Botschaft, die so viele von Miyazakis früheren Filmen ausgezeichnet hat, nunmehr in den Hintergrund gerückt ist, wirkt angesichts der mittlerweile verschärften weltweiten Klimakrise geradezu anachronistisch. Doch mit der Betonung von Kriegsgräueln und seinem klaren Blick auf die Folgen bewaffneter Konflikte ist Miyazaki nicht weniger aktuell und reagiert damit – auf seine ganz eigene künstlerische Art und Weise – auf die gesellschaftspolitischen Krisen der Welt.

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Stefan Stiletto ist Filmpädagoge und Filmjournalist. Er schreibt Filmkritiken und filmpädagogische Begleitmaterialien, hält Seminare und Fortbildungen und kuratiert Filmreihen. Er ist Redakteur der Onlineplattform Kinder- und Jugend-Filmportal (www.kinder-jugend-filmportal.de).