1960, inmitten des Kalten Krieges und genau ein Jahr vor dem Bau der Berliner Mauer produziert, war der Film Die 1.000 Augen des Dr. Mabuse ein Vorreiter des Spionagefilm-Genres in Westeuropa, der Filme jener enorm erfolgreichen Welle, die als "Eurospy Films" bekannt werden sollte.
Die 1.000 Augen des Dr. Mabuse ist der letzte Film von Fritz Lang, der bereits 1928 mit Spione einen sehr einflussreichen Beitrag zum Genre des Spionagefilms geleistet hatte. Die Figur des Dr. Mabuse hatte Lang auch schon 1922 in Dr. Mabuse der Spieler und 1932 in Das Testament des Dr. Mabuse inszeniert. Von Norbert Jacques für einen Roman ersonnen, wurde Dr. Mabuse für Lang die personifizierte Möglichkeit, von einem Antagonisten zu erzählen, der nicht in üblicher Weise nach Materiellem strebt. Dr. Mabuse plant keinen Überfall auf einen Postzug, er bereichert sich nicht durch Betrügereien oder schmiedet Einbruchspläne. Vom ersten Film an steht hingegen die Frage nach Mabuses Beschaffung von Informationen im Vordergrund, wobei er diese sucht, um sich zu bereichern. Doch Lang zeichnete Mabuse bewusst als einen Verbrecher, der Wissen als Werkzeug zur Macht versteht. In Dr. Mabuse der Spieler gelingt ihm dies durch die telepathische Inbesitznahme von Menschen. 1922, zur Zeit des Stummfilms, steuert er die Menschen mit Hilfe von Schriftzeichen. In Langs zweitem Tonfilm Das Testament des Dr. Mabuse (D 1932) wird Mabuse – aus vollster Hingabe zur neuen Technologie – buchstäblich zur unsichtbaren Stimme, gewissermaßen zum Acousmetre nach Michel Chion. Seine Macht breitet sich über Radiowellen aus und entlädt sich in akustischen Befehlen an seine Handlanger.
Der Film in DatenDie 1.000 Augen des Dr. Mabuse
Internationaler Titel: The Thousand Eyes of Dr Mabuse
BRD / Italien / Frankreich 1960, 103 Min., OF
Regie: Fritz Lang
Darsteller: Dawn Addams, Peter van Eyck, Gert Fröbe u. a.
War der Vorkriegs-Mabuse noch eine Voraussicht auf die Diktatur und das NS-Regime, so glückte Lang mit dem dritten Teil 1960 nicht nur eine präzise Zustandsbeschreibung des Zeitgefühls, sondern auch ein exakter Vorgriff auf Elemente des westeuropäischen Spionagefilms. In Die 1.000 Augen des Dr. Mabuse passt sich Lang erneut den aktuellen medialen Möglichkeiten an, indem er ein Szenario der perfekten Informationsbeschaffung in der modernen Gesellschaft zeichnet. Die Geschichte von Die 1.000 Augen des Dr. Mabuse spielt überwiegend in einem Hotel, das überall mit optischen Spionage-Einheiten gespickt ist. Nicht umsonst heißt dieses Hotel "Luxor". Lang spielt damit nicht nur auf das kommunistische Hotel Lux in Moskau an, er verweist etymologisch auch auf das lateinische "lux", womit das "Durchleuchten" schon im Hotelnamen angedeutet wird.
Im Hotel Luxor wird jede Bewegung durch kleine Kameras in einer Zentrale voll von Bildschirmen überwacht, während sich die ahnungslosen Menschen im Hotel wiederum gegenseitig überwachen und beäugen. So schnüffelt der Versicherungsagent Mistelzweig allen Personen nach, Millionär Travers wirft ein schützendes und liebendes Auge auf Marion, die ihn wiederum aushorcht und – wie alle Figuren – auf Schritt und Tritt vom Kommissar Kras bespitzelt wird. Dazu taucht immer wieder ein blinder Seher auf, der vorgibt, via Séancen Geheimnisse der Menschen aufzudecken. Schließlich gibt es den Hoteldetektiv, der nicht nur Marion unablässig beobachtet, sondern überdies Millionär Travers das Device im Nebenzimmer von Marion zeigt: eine im Kleiderschrank versteckte Glasscheibe, die auf Marions Seite als Spiegel fungiert. Eine perfekte voyeuristische Anlage, die Travers widerwillig, aber fasziniert benutzt. Folgt man der Einschätzung, die der britische Doppel-Agent George Blake in seiner Autobiographie "No Other Choise" (1990) vertritt, dann hat jeder zweite Erwachsene zur Hochphase des Kalten Krieges im geteilten Berlin direkt oder indirekt für einen der Geheimdienste gearbeitet. Es ist genau diese Stimmung der Paranoia, die Fritz Lang inszeniert.
Aber nicht allein das Bespitzeln steht im Zentrum von Die 1.000 Augen des Dr. Mabuse, sondern die lückenlose Überwachung und das Machtpotenzial, das aus ihr resultiert. Exakt dieses Vorhaben – das Sammeln von Informationen, um Macht zu vermehren – wird bei Lang deutlich negativ konnotiert. Da er den Bau des Luxor im Film und damit den Ursprung der Anlage eindeutig in die Nazizeit verlegt, schreibt er der Überwachung sogar einen dezidiert faschistischen Ursprung zu.
Auch in der weiteren Filmgeschichte ist dieses "Monitoring" überwiegend negativ konnotiert. Die Angst vor dem Missbrauch von Überwachungsdaten wird im rund zehn Jahre später beginnenden Informationszeitalter bis heute zum Begleiter technischer Entwicklungen. Wie die Balance zwischen dem Nutzen von Überwachung, etwa zur Disziplinierung, und deren Schaden durch Machtmissbrauch auszutarieren ist, ob Google Streetview nützliches Tool oder Schaden bringende Plage ist – derartige Fragen kennzeichnen grundlegend Diskussionen unseres heutigen Zusammenlebens.
Mit Die 1.000 Augen des Dr. Mabuse greift Fritz Lang diesen Diskussionen vor und schafft zugleich ein filmisches Vorbild für das Genre des Spionagefilms, das sich bevorzugt mit dem Motiv der Überwachung auseinandersetzt. Die James-Bond-Reihe etwa, die zwei Jahre später begann, sowie zahlreiche weitere Filme von Sliver (USA 1993, Phillip Noyce) bis zu Enemy of the State / Der Staatsfeind Nr. 1 (USA 1998, Tony Scott) und The End of Violence / Am Ende der Gewalt (USA/D 1997, Wim Wenders), selbst die TV-Produktion Big Brother, stehen in dieser Tradition.
Dass Langs letzte Regiearbeit eine vergleichsweise zentrale Position in der deutschen Kinematografie der 1960er-Jahre einnehmen würde, war zur Zeit seiner Uraufführung nicht abzusehen. Die deutsche Kritik hat Die 1.000 Augen des Dr. Mabuse damals abgelehnt und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Der in deutsch-italienisch-französischer Koproduktion entstandene Film wird in Deutschland vor allem als ein schlichter Beitrag zum Europudding beurteilt.