Kaum schien die Welt in ihrem gemeinschaftlichen Kraftakt gegen Deutschland und dessen Verbündete 1945 für kurze Zeit vereint, schon spaltete sie sich wieder – in zahlreiche Einzelinteressen natürlich, vor allem aber in zwei Lager: in "Ost und West". Der vom US-amerikanischen Publizisten Walter Lippmann 1947 geprägte Begriff des "Kalten Krieges" ("Cold War") beschreibt den bedrohlichen Konflikt, den das Gegenüber zweier mächtiger politischer Systeme entfachte und der 1961 kulminierte im Bau der Berliner Mauer. Die Grenze inmitten Deutschlands wurde zur konkreten Achse zwischen "Ost und West", zur haptisch und visuell wahrnehmbaren Frontlinie eines auf permanenten Bedrohungen beruhenden Konflikts.
Big Brother is watching you: Der Spionagefilm entstand in einer Ära ideologischer Paranoia. Plakat zum Film "For Eyes Only – Streng geheim". (© The Kiss Kiss Kill Kill Archive)
Big Brother is watching you: Der Spionagefilm entstand in einer Ära ideologischer Paranoia. Plakat zum Film "For Eyes Only – Streng geheim". (© The Kiss Kiss Kill Kill Archive)
Europa war damit endgültig zum vorrangigen Austragungsort dieses Kalten Krieges geworden, hier schickten die Mächte ihre Figuren aufs Brett, hier wurden Waffen stationiert, konkrete Politik und Spionage betrieben, Geheimdienste in den subkutan geführten Kampf um Informationen geschickt. Durch den Eisernen Vorhang wurde Europa zum Zentrum der um sich greifenden Paranoia aus Misstrauen und Bespitzelung. Damit ist es natürlich auch kein Zufall, dass der Spionagefilm in all seinen Varianten in den 1950er- und 1960er-Jahren zu den erfolgreichsten europäischen Filmgenres zählte: Die europäische Populärkultur – sei es im Westen oder im Osten – reagierte auf die permanente Präsenz von Angst und Bedrohung, indem sie sie filmisch verarbeitete. Denn der Spionagefilm ist nicht nur oberflächlich ein Genre des Gegenübers, in dem das ideologisierte Begriffspaar "Ost und West" diskutiert wird. Diesen scheinbaren Dualismus der Welt als Ausgangspunkt nehmend, werden im Spionagefilm neben den politischen immer auch weitere Gegensätze diskutiert. Gut und Böse, Mann und Frau, Schein und Sein: Der Agent im Film jagt nicht nur Geheimnissen der Diplomatie nach, sondern diskutiert und interpretiert dabei immer auch den Zustand der Gesellschaft. Dass dies hüben wie drüben auf zum Teil äußerst ironische Art und Weise geschehen ist, hat zum Erfolg des Genres beim Publikum deutlich beigetragen.
Gerade dieser Diskurs ist es jedoch, dieser Kommentar zur Gesellschaft, durch den der Spionagefilm auch schnell tendenziös werden kann, in dem er politische Botschaften transportiert, unbewusst vielleicht, zum Teil aber sicher auch gesteuert, instrumentalisiert im Osten wie im Westen. Und so trägt dann gerade die Reflexion über die Gegensätze im Spionagefilm immer wieder auch dazu bei, die Blockbildung ideologisch zu fördern. Denn mögen die Grenzen von Gut und Böse, Schein und Sein, Ost und West auch tiefgehend diskutiert werden – die Gegensätze selbst lösen sich in den Filmen so gut wie nie auf: Einer kommt am Ende immer davon, im Zweifelsfalle natürlich der Held. Und dass diese Heldenfigur des Agenten, Blockzugehörigkeit hin oder her, je nach Produktionsland noch einmal gänzlich verschieden geprägt ist, verleiht dem Genre eine weitere hoch spannende soziologisch deutbare Komponente.
Fünfzig Jahre nach dem Bau der Mauer und dem Beginn der heißesten Phase des Kalten Krieges präsentiert die Filmreihe The Celluloid Curtain kinematografische Blicke auf die Zeit des Kalten Krieges. Elf zeitgenössische fiktionale Stoffe aus verschiedenen europäischen Ländern dies- und jenseits der Mauer repräsentieren unterschiedliche Wahrnehmungen und Interpretationen des politischen und gesellschaftlichen Klimas in einer Ära europäischer Separation. Filmemacher aus Ländern wie England, Frankreich, Spanien, der BRD, der DDR, der Sowjetunion, Rumänien, Polen, Bulgarien, der Tschechoslowakei und Ungarn zeigen unterschiedliche Ansätze, sich dem Thema zu nähern, und offenbaren darin faszinierende Einsichten. Zudem bewegt sich die Filmreihe "The Celluloid Curtain" in ihrer Filmauswahl sehr deutlich abseits des üblichen Kanons und konzentriert sich auf einige jener populären und unterhaltsamen Produktionen, die für gewöhnlich aus der Filmgeschichte ausgeklammert werden. Der sozialgeschichtliche Erkenntnisgewinn aber – nicht nur nach Kracauer – fällt gerade bei populären Filmen im Rückblick oft so viel reichhaltiger aus.
An den Beginn der Agentenfilm-Chronologie setzt die Filmreihe im Osten wie im Westen je einen Beitrag, der den im Bau der Mauer manifestierten Höhepunkt der Blockbildung vorwegnimmt. Im Westen entstand 1960 mit Fritz Langs Die 1.000 Augen des Dr. Mabuse ein Film, der streng genommen den filmischen Boden des Agentenfilmgenres in Europa bereitete. In einem lückenlos durch Kameras überwachten Hotel, wo jeder jeden beobachtet und eine diffuse antagonistische Kraft in Gestalt des Dr. Mabuse über Informationen zu Macht gelangen will, wird der Kalte Krieg so zugespitzt diskutiert und das "Monitoring" so eindrücklich ins Bild gesetzt, dass der Weg zu zu den James-Bond-Schurken Dr. No und zu Blofeld nurmehr ein kurzer war.
Im Osten antizipierte 1961, im Jahr des Mauerbaus, in Rumänien der Regisseur Ion Popescu-Gopo, bekannter Grafiker und Animationsfilmer, in seinem Spielfilm S-a furat o bombă den Gipfel der Ost-West-Paranoia. In einer komplett dialogfreien und zum Teil mit Slapstickelementen arbeitenden Farce verkörpert ein unschuldiger Hitchcockscher Held-wider-Willen die Machtlosigkeit der staatlichen Behörden und die grassierende Angst angesichts der Bombe – einer Allegorie auf den gesichtslosen Schlüssel zur Macht.
Diese beiden das Genre konstituierenden Vorläufer bilden den Auftakt für neun Variationen. Grundsätzlich auffallend bei den Agentenfilmen aus Ost und West ist die Tatsache, wie viel stärker die Filme aus dem Osten politisch und ideologisch aufgeladen sind im Vergleich zu ihren westlichen Pendants. Das spiegelt sich auch in der Auswahl des Programms wider, wenn etwa im sowjetischen Beitrag die gegnerische Ideologie nicht nur subtil dramaturgisch, sondern frontal im Erzähltext angegriffen wird. Hüben wie drüben tauchen Agenten immer wieder für längere Zeit in die feindlichen Gesellschaftsstrukturen ein, erweisen sich Russen als die viel effektiveren Deutschen (Skvorets i Lira), bewegt sich der kapitalistische Eindringling so lange unbehelligt in Polen, bis ihn seine Wertelosigkeit auffliegen lässt (Spotkanie ze szpiegiem) oder übt sich der bulgarische Agent im anarchischen Wahnsinn westlicher Hippiekultur, ohne natürlich je seinen Auftrag zu vergessen (Nyama nishto po-hubavo ot loshoto vreme).
Das Paket enthält humorvolle Parabeln (S-a furat o bombă aus Rumänien oder Les Barbouzes aus Frankreich/Italien) ebenso wie mit äußerstem Ernst betriebene düstere und realistisch anmutende Szenerien (The Spy Who Came in from the Cold aus England), aktionsgeladene Unterhaltung (Comando de asesinos aus Spanien/Portugal oder For Eyes Only – Streng geheim aus der DDR) und sorgfältig entwickelte Genrebeiträge (Fotó Háber aus Ungarn) ebenso wie avantgardistisch anmutende psychologisierende Figurenstudien (Smyk aus der Tschechoslowakei). Das Sinnbild des Kalten Kriegs, Berlin – dort, wo angeblich zur Hochzeit der Paranoia jeder zweite Erwachsene für einen Geheimdienst gearbeitet hat – steht immer wieder im Zentrum der Filme aus Ost und West (von The Spy Who Came in from the Cold über Nyama nishto po-hubavo ot loshoto vreme bis hin zu Smyk).
Mit dem vor 50 Jahren, im August 1961, vorgenommenen Bau der Mauer, der Manifestation der Blockbildung, begann in Europa das Genre des Agentenfilms zu blühen. Zahllose bekannte und sehr erfolgreiche Filme entstanden im Osten wie im Westen, um mit ihren Mitteln die Separation und empfundene Bedrohung zwischen den Ideologien zu thematisieren. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Perspektiven dies- und jenseits der Mauer illustriert die Filmreihe "The Celluloid Curtain".
Konzept: Claudia Amthor-Croft
Autoren: Oliver Baumgarten und Nikolaj Nikitin