Hier finden Sie das Gespräch auch in schriftlicher Form. Der Text weicht von der Hörfassung leicht ab.
Ich bin jetzt zum Gespräch verabredet über diesen eindrucksvollen Film "Drei Minuten" mit Lea Wohl von Haselberg. Sie ist Filmwissenschaftlerin, aber auch eine der Kurator/-innen des Jüdischen Filmfestival Berlin Brandenburg – und auch mit diesen Themen, natürlich mit diesem Film sehr vertraut. Lea, ich wüsste zunächst erstmal gern, so ganz allgemein, den Eindruck: Sie haben den Film ja auch schon Leuten gezeigt, an der Universität darüber gesprochen. Wenn man diesen doch sehr kurzen, ungewöhnlichen Film sieht, was löst das für einen ersten Eindruck aus?
Lea Wohl von Haselberg: Ich glaube, der [Film] löst in erster Linie wirklich eine große Betroffenheit aus. Wenn man knapp 70 Minuten mit den Gesichtern von Menschen konfrontiert ist, wo man weiß, die sind fast alle ermordet worden danach. Und diese Gewalt und diese Auslöschung dieser Leben und dieser Gesichter, die wir in diesen Bildern sehen – die sehen wir ja nicht im Bild, die passiert in unseren Köpfen. Aber wir wissen, dass diese Menschen kurz danach schon nicht mehr leben. Und das ist das eigentliche Grauen, was, glaube ich, nach dem Film erstmal so eine Stille auslöst.
Und der Film hat natürlich auch einen ganz merkwürdigen Effekt dadurch, dass man diese drei Minuten immer wieder sieht. In unterschiedlichen Geschwindigkeiten, unterschiedlichen Perspektiven werden einem die Gesichter ja auch vertraut. Man sieht sie am Anfang, und am Schluss hat man das Gefühl diese Menschen auch wirklich zu kennen – man erkennt sie wieder. Also das ist wahrscheinlich auch so beabsichtigt.
Ja genau. Also das ist im Endeffekt das, was der Film macht. Es ist quasi eine Zerdehnung dieser drei Minuten. Er zerdehnt diese nur drei Minuten durch Großaufnahmen, Wiederholungen, Schleifen und lässt uns quasi das machen, was wir oft, wenn wir Found Footage, also Archivbilder, sehen, genau nicht tun – nämlich genau hinzuschauen: Was sehen wir eigentlich genau? Was ist im Bild zu sehen? Aus welcher Perspektive sehen wir eigentlich diese alten Bilder? Und da gucken wir 70 Minuten lang auf drei Minuten...
…die natürlich verändert werden, hin- und hergeschoben werden. Man fährt vor und zurück, hält an, verfremdet auch, nimmt einzelne Gesichter heraus. Jetzt könnte man die Frage stellen: Ist es eigentlich legitim, so mit dokumentarischem Material zu arbeiten?
Also ich glaube, es ist auf jeden Fall legitim. Und vielleicht erstmal einen Schritt zurück: Die Frage, was ist eigentlich legitim, die wird ja beim Holocaustfilm von Anfang an gestellt. Darf man das oder darf man das nicht? Und eigentlich ist sie natürlich beantwortet, weil es ist ja alles schon gemacht worden! Also offensichtlich darf man schon. Die Frage ist dann: Ist es gut, das zu tun oder ist das nicht gut? Bringt es uns in der Erinnerung voran? Und ich glaube, die Auseinandersetzung mit der Frage, wie kann man eigentlich mit Archivbildern umgehen, die begleitet die Holocaustfilm-Geschichte von Anfang an. Ich glaube, interessant sind alle künstlerischen Versuche und Anordnungen, die sich darauf konzentrieren, auszuloten und wirklich zu befragen, was sehen wir in dem Material – weil sie den Blick schulen. Und das ist im Endeffekt auch das, was die Filmemacherin hier macht. Sie fragt: Was sehen wir in den Bildern? Wer sind diese Menschen? Was sehen wir im Hintergrund für Geschäfte? Was sind das für Orte? Also alles das, was wir uns häufig nicht fragen. Insofern könnte man sagen, das ist in gewisser Hinsicht eine Anleitung zum Sehen.
Das wird ja auch mitthematisiert in diesem Film, nämlich die Frage: Was sagen uns die Bilder? Wie gehen wir mit den Bildern um? Wie wahrhaftig sind sie? Wir sehen einen fröhlichen, offenbar schönen sommerlichen Tag mit Menschen, die aufgeregt sind, weil sie wahrscheinlich zum Teil noch nie eine Kamera gesehen haben – es wirkt so bei den Kindern. Das ist ja ein fröhlicher Augenblick – und wenn man sie nicht kontextualisieren würde wie im Film, würde uns der Film vielleicht etwas ganz anderes erzählen. Vielleicht nicht die volle Wahrheit, kann er auch gar nicht.
Ja, genau. Und für dokumentarisches Material ist das natürlich immer eine interessante Frage: Was macht eigentlich die Kamera mit der außerfilmischen Realität? Also inwiefern verändert die Anwesenheit der Kamera auch das, was wir sehen. Aber natürlich auch: Wer macht diese Bilder, aus welcher Perspektive? In dem Fall ist es ein amerikanisch-jüdischer Tourist, der zurückkehrt in, ich glaube, sein Geburtsdorf, wo er auch nur geboren wurde. Das heißt, das ist die Perspektive von einem Touristen, der filmt, als Amateurfilmer. Die Leute winken in die Kamera. Das ist was anderes, wenn wir aus der gleichen Zeit – 1938 – vielleicht Bilder sehen, die von den Nazis gemacht wurden und die einfach auch Täterperspektiven eingeschrieben haben.
Natürlich denken wir mit, wenn wir dieses Wissen haben – das sollte man haben: Ein Jahr später brach die Tragödie dann schon über diese Menschen herein, und sie wurden ja alle, fast alle, ermordet. Lea, der Film, das hat mich sehr beeindruckt – und wie ging es Dir damit? – macht ja eben auch die Entstehung selbst zum Thema. Also: Wie ist das Material gefunden worden? Wie geht man damit um? Was kann man daraus ersehen? Wie kann man das Material retten? Also, ich denke, auch das ist ein sehr wichtiger Aspekt, dass der Film sozusagen seine Methoden durchsichtig macht.
Genau, also der Film ist sehr selbstreflexiv, er befragt die Bilder die ganze Zeit und stellt sie eben auch in ihrer Materialität aus. Und das ist ja auch ein sehr begrenztes Material, diese drei Minuten. Also das war sicherlich mehr Material, das stark restauriert werden musste, weil es eben schon relativ stark zerstört war, als es gefunden wurde. Und das ist interessant. Und ich glaube, das ist, wenn man sozusagen die Filme über den Holocaust unterscheiden kann in Filme, die die Möglichkeit von der historischen Erfahrung bieten und die Filme, die eben eher so funktionieren wie dieser Film, die nämlich erinnerungsreflexiv sind, also die eigentlich Erinnerung reflektieren und nicht historische Ereignisse – und das ist das, was der Film macht. Und deswegen ist er auch so interessant. Und natürlich auch, weil wir da Bilder sehen von einem Vorher – und das in Farbe. Das ist natürlich schon auch selten.
Und es wird auch immer wieder der Kontext hergestellt. Es ist immer völlig klar, was mit diesen Menschen geschehen ist. Dafür gibt es Zeitzeugenberichte, die noch einbezogen werden. In einer unglaublichen Konsequenz, also wirklich in diesen drei Minuten zu bleiben, nicht der Versuchung zu erliegen, den heutigen Zustand zu zeigen, sondern da werden nur Geräusche eingespielt: Also das ist jetzt der Platz, so klingt der heute. Zum Schluss nochmal abrundend die Frage: Was kann ein solcher Film vielleicht gerade auch für junge Zuschauer – die es ja sehr gewohnt sind, mit Bildern umzugehen, Bilder auch zu verändern, zu manipulieren – , was kann so ein Film vielleicht auslösen?
Ich glaube, eine zentrale Frage in der filmischen oder audiovisuellen Auseinandersetzung mit der Shoah ist die Frage nach Parteilichkeit. Sind wir eigentlich wirklich parteilich für die Opfer? Und ich finde, in dieser Fokussierung auf die Gesichter ist der sehr parteilich, ist sehr nah bei den Menschen. Und ich glaube, das ist das, was der [Film] auch auslösen kann – dass man ihn einfach sieht und denkt: Ja, das waren Menschen, das waren Kinder, das waren sehr unterschiedliche Leute, die ermordet wurden kurze Zeit später. Und das führt der [Film] einem im wahrsten Sinne des Wortes in Wiederholung vor Augen.
Three Minutes – A Lengthening, also eine Verlängerung von drei Minuten, das ist das, was dieser Film leistet. Ich bedanke ich mich sehr herzlich für das Gespräch, Lea Wohl von Haselberg, vielen Dank!
Dankeschön.
Dieses Interview erschien erstmals am 29.04.2024 auf kinofenster.de, dem Onlineportal für Filmbildung der Bundeszentrale für politische Bildung.