"Der Philosoph fragt: Was ist der Mensch? Ich frage: Was ist ein Bild?" Als Harun Farocki diese Sätze 1982 der Hauptfigur von "Etwas wird sichtbar" in den Mund legte, beschrieb er zugleich das Arbeitsfeld, das er selbst als Regisseur, Autor und Theoretiker seit knapp 45 Jahren umkreist. Seine Filmographie verzeichnet über 100 Arbeiten unterschiedlicher Länge, darunter neben ersten studentischen Kurzfilmen auch Beiträge für die Sesamstraße und das Sandmännchen, "Filmtips" für den WDR, Kino- und Fernsehfilme, seit Mitte der neunziger Jahre verstärkt Installationen in Galerien und Museen.
Beim Kinostart von "Etwas wird sichtbar" konnte Farocki bereits auf eine gut 15-jährige Erfahrung als Filmemacher zurückblicken. 1966 begann er mit dem Studium an der neu gegründeten Berliner Filmakademie DFFB, im November 1968 wurde er mit 17 anderen politisch aktiven Studierenden relegiert. Zwischen dem rigiden Lehrstück zur Napalmproduktion "Nicht löschbares Feuer" (1969) und dem aus Eigenmitteln aller Beteiligten finanzierten "Zwischen zwei Kriegen" (1977) entstanden vor allem Beiträge für das Fernsehen, die dessen Bildpolitik zugleich kritisierten. "Die Arbeit mit Bildern" und
Der Schnittplatz ist bis heute ein zentraler Ort, von dem aus sich Farockis Poetik beschreiben lässt. Zusammen mit dem Schreibtisch des Autors bildet er das Labor, an dem Bildkombinationen erprobt und Kommentare gefunden werden, die unmittelbar dem visuellen Material selbst entnommen sind. In diesem Sinne sind Farockis Filme Theorie im ursprünglichen Sinn des Wortes: Zeugnisse von und Anleitungen zu genauer Beobachtung. Für die Zeitschrift Filmkritik, deren Profil er als Redakteur und Autor zwischen 1974 und 1984 entscheidend mitbestimmte, hat Farocki Anfang der Achtziger Jahre den Text "Was ein Schneideraum ist" über die Arbeit im Schneideraum geschrieben: "Am Schneidetisch, wenn das Bild vor- und zurückläuft, erfährt man über die Eigenständigkeit des Bildlichen. So wie die Zeitlupen beim Fußballübertragen unseren Blick geschult haben für die versteckten Fouls und vorgetäuschten Fouls, lernt man am Schneidetisch die Fouls und vorgetäuschten Fouls einer Inszenierung sehen."
Die Bilder des Kinos
In der filmvermittelnden Installation "Über die Bauweise des Films bei Griffith", die am Beispiel des amerikanischen Stummfilmregisseurs einen filmhistorisch wichtigen Zeitpunkt ins Auge fasst, stellt Farocki Filme des amerikanischen Regisseurs Griffith ins Zentrum; er vergleicht eine Szene aus dem Film "Lonedale Operator" von 1911 mit einem Ausschnitt aus "Intolerance" von 1916. In der verblüffend einfachen Anordnung des Bildmaterials auf zwei nebeneinander stehenden Monitoren werden die komplexe Etablierung von Schuss/Gegenschuss sowie die neuartige Verwendung der Großaufnahme innerhalb der fünf Jahre deutlich.
Farockis Hinweis auf die Eigengesetzlichkeit des Bildes schließt an unterschiedliche filmgeschichtliche Projekte an. In seinem Insistieren auf die Möglichkeiten der Bildverknüpfung liegt eine Erinnerung an die Versuche Sergej Eisensteins und anderer früher Filmemacher und Theoretiker, das Kino durch die Montage zum Medium intellektueller Auseinandersetzung zu machen. Die Lust an der überraschenden Bildverknüpfung verbindet Farocki aber auch mit Jean-Luc Godard, der die Frage nach dem Bild immer wieder von Neuem als – politische, ökonomische, ästhetische – Frage von Bildverhältnissen formuliert hat. Farockis Interesse an dokumentarischen Formaten lässt sich unter anderem in einer für den WDR entstandenen Sendung über Basil Wrights Film "Song of Ceylon" erkennen, in dem Bildkomposition, Einsatz des Tons und die Montage einer Szene unter Zuhilfenahme von Wiederholungen, Zeichnungen und kommentierenden Beschreibungen analysiert werden.
Die Bilder des Alltags
Allerdings greift es zu kurz, Farocki einzig in die Traditionslinie des Kinos zu stellen. Schon ein flüchtiger Blick auf die Bildarten, denen sich Farockis Filme widmen, macht deutlich, dass die scheinbar einfache Frage nach dem Bild einen über das Kino hinausreichenden Kosmos von Bildern und Medien umfasst. In der kurzen Fernsehsendung "Schlagworte und Schlagbilder" sitzt Farocki 1986 mit dem Medientheoretiker Vilém Flusser in einem Café und diskutiert die erste Seite der BILD-Zeitung: Wie wirkt die Zusammenstellung von Bild und Text dort? Welche Funktionen erfüllt sie und welche impliziten Aussagen trifft das Layout? Man sieht, dass Farockis Interesse an Bildern, fern vom Akademischen, auf täglich sichtbare und unsichtbare Machtverhältnisse und gesellschaftliche Grenzziehungen abzielt.
Entsprechend entstammt ein Großteil der Bilder, die Farocki aufgreift, montiert, kommentiert und zum Sprechen bringt, dem alltäglichen Universum technischer und analoger Bilder: Fernseh- und Zeitungsbilder aus dem Vietnamkrieg, Pflastermalerei, Industriefotografie. Das ausklappbare Pinup-Foto im Playboy, die gewebten Bilder des Jacquard-Webstuhls. Die Aufrisszeichnungen Albrecht Dürers zu den Gesetzen der perspektivischen Malerei und die Messbildfotografien von Gebäuden. Luftfotografien von Auschwitz, Stilllebenmalerei des 16. und 17. Jahrhunderts, Fotografien aus Werbeateliers der Neunziger Jahre, Bilder aus Überwachungskameras, bildgesteuerten Robotern, Fernlenkwaffen: Die Aufzählung ließe sich fortsetzen, und sie vermittelt einen ungefähren Eindruck von der Vielfalt an Bildern, die Harun Farocki in den letzten 40 Jahren untersucht hat.
In Farockis Filmen liefert das Kino Gegenentwürfe zum dem, was Serge Daney das "Visuelle" genannt und unter dem Eindruck der Kriegsberichterstattung im ersten Golfkrieg mit den selbstgenügsamen, in sich abgeschlossenen Bildern der Werbung und Pornographie assoziiert hat. In "Gefängnisbilder" (1999) etwa sind Szenen aus Robert Bressons "Un condamné à mort s´est échappé" (Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen) neben Jean Genets "Un Chant d´amour" (Ein Liebeslied) wie ein kinematographischer Magnet, der die Schulungsvideos des amerikanischen Gefängnispersonals und die Bilder aus Überwachungskameras zusammenhält. Wie der Gefangene dort aus den Gegenständen seiner Gefangenschaft, aus einem Löffel und einem Draht, die Werkzeuge seiner Befreiung macht, ist zudem Farockis Vorgehensweise verwandt, mit einfachen Mitteln zu produzieren und darin seine Freiheit und Unabhängigkeit zu artikulieren. Zusammen mit "Arbeiter verlassen die Fabrik" (1995) und "Der Ausdruck der Hände" (1997) bildet "Gefängnisbilder" einen Zusammenhang. Alle drei Filme – neben der Installation zu Griffith und der "Telekritik" zu "The Song of Ceylon" (R: Basil Wright) am deutlichsten "filmvermittelnde Filme" – sind interessiert daran, einzelne Motive oder, wie Farocki sagt, "filmische Ausdrücke" zu erforschen. Ein "filmischer Ausdruck" kann sein: Arbeiter verlassen eine Fabrik, es kann die Ikonographie von Gefängnisbildern meinen oder die Gestensprache der Hände, deren Konventionen und variable Bedeutungen durch die Filmgeschichte hindurch verfolgt werden.
Farocki spielt das Kino aber nicht gegen die von ihm so genannten "operativen Bilder" aus, die seit Mitte der Neunziger Jahre verstärkt in den Fokus seiner Aufmerksamkeit geraten. "Operative Bilder" sind Bilder, die keine ästhetische oder didaktische Funktion haben, sondern Bestandteil technischer Operationen sind. Die Algorithmen der Bilderkennungssoftware, die den Weg des Konsumenten im Supermarkt verfolgen ("Schöpfer der Einkaufswelten"), die den Gefangenen per Fußfessel überwachen ("Gefängnisbilder") und die Raketensprengköpfe ins Ziel lenken ("Erkennen und Verfolgen") sind darin verwandt, dass sie das sichtbare Leben lenken, kontrollieren, im Falle der Raketen auch zerstören, aber ihrerseits unsichtbar sind. Erst indem Farocki die Bilder ihren apparativen Zusammenhängen entzieht, macht er sie sichtbar und kritisierbar. Die Kinobilder liefern dabei einen motivischen und erzählerischen Zugang zu den Bildern, die keine Erzählung und kein Motiv mehr sein wollen.
Die von Farocki stets als politisch aufgefasste Frage von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ist am Beginn des 21. Jahrhunderts auch deshalb so dringlich, weil immer weniger für das (Kamera)Auge zugänglich ist. Wieviel von industriellen Produktionsprozessen ist heute noch filmbar? Was bleibt an Erzählbarem, wenn die Bewegungsabläufe und Gesten der Arbeit an Prozessoren und Maschinen delegiert sein werden?