Die echte Innovation der DVD im Filmunterricht jedoch liegt auf einer anderen Ebene: Dieses neue Trägermedium gestattet es, neue pädagogische Methoden zu finden und zu praktizieren, die bis jetzt wegen der Linearität der Videowiedergabe nicht praktikabel waren. Nicht jede technologische Neuerung eröffnet zwangsläufig auch neue pädagogische Horizonte, manche tragen schlicht zur allgemeinen Verbesserung der Bedingung pädagogischen Handelns bei, ohne die Pädagogik selbst zu verändern. Doch in der DVD liegen Möglichkeiten, die für die Filmvermittlung genutzt werden können. Dank ihr können neue pädagogische Methoden erarbeitet werden, die nicht mehr an die Grenzen der Videokassetten stoßen.
Das pädagogische Instrumentarium im Filmunterricht basierte lange auf dem in Frankreich vorherrschenden und sehr alten didaktischen Modell einer "wissenden" Stimme, die die Sequenzen und Einstellungen eines Films entziffert, analysiert und interpretiert. Wenn ein Filmlehrer im Unterricht eine derartige Kassette, eine so genannte Filmanalyse, vorführt, erteilt er einem anerkannten Spezialisten das Wort, der dieses spezielle Thema (den oder den Film, den oder den Autor) und alle Methoden der Filmanalyse beherrscht. Diese "wissende" Stimme liefert uns die Resultate einer Analyse, eines Denkens, dessen Voraussetzungen, Entstehung und Mechanismen wir nicht kennen. Meist stützt sich der Vortrag auf "Beweise" in Bild und Ton, d.h. auf Einstellungen, Filmstandbilder und sorgfältig zusammengestellte Filmausschnitte. Solchen Beweisen sollte man jedoch nie trauen, jedenfalls dann nicht, wenn jemand sie anführt, der sein Fach beherrscht und seine Zuhörer auch mit ganz falschen Aussagen gewinnen könnte. Es ließe sich etwa mit geschickt gewählten Einstellungen und manchen Anschlüssen in "Ausser Atem" leicht – und vollkommen wahrheitswidrig – beweisen und mit sichtbaren Beispielen belegen, dass dieser Film sich gewissenhaft an die klassischen Schnittregeln hält.
Diese Art von Didaktik (ein die Bilder überlagernder analysierender oder demonstrierender Vorgang) gehört zu einem Typus von Wissensvermittlung, dessen Effizienz und Verdienste unbestritten sind und auf den zu verzichten absurd und unnütz wäre. Um bestimmte Bedürfnisse im Bereich der Filmvermittlung zu befriedigen, bleiben noch genug schöne Analysefilme zu drehen. Wahrscheinlich brauchen wir diese vertikal (vom Wissenden zu den Lernenden) und linear verlaufende Didaktik (ein Vortrag, der abläuft wie eine Vorlesung oder eine Lektion) wie auf der Videokassette noch lange. Aber man kann sich heute schon andere ausdenken.
Die DVD ermöglicht eine weniger didaktische Herangehensweise, die primär darauf basiert, Beziehungen zwischen Filmen und Filmfragmenten herzustellen. Dabei ist nicht mehr ein Diskurs Träger des Wissens, sondern das Denken entwickelt sich allein aus der Beobachtung dieser vielfältigen Beziehungen und im praktischen Umgang mit der DVD.
Das Neue an der DVD im Vergleich zu früheren Filmvorführmedien ist ja, dass man unverzüglich – ohne nervtötendes und mehr oder weniger zufälliges Hin- und Herspulen – zu einem ganz bestimmten Ausschnitt gelangen und ihn ebenso unverzüglich zu anderen Bildern und Tönen in Beziehung setzen kann: zu einem anderen Ausschnitt aus demselben Film, einem Segment aus einem anderen Film, der Reproduktion eines Gemäldes, dem Audio-Kommentar des Regisseurs, einem Archivdokument usw. Auch die CD-Rom bietet zwar seit längerem solche superschnellen Zugriffs- und Verknüpfungsmöglichkeiten, aber mit einer Speicherkapazität, einem Format und einer Wiedergabequalität, die für Vorführungen in der Schule nicht ausreichen.
Dieses Potential – die Leichtigkeit des Zugriffs und die Möglichkeit, Beziehungen zwischen verschiedenen Ausschnitten herzustellen – ist es, was aus der DVD ein so wertvolles Instrument pädagogischer Innovation macht.
Wie Nabokov es sich für den Romanleser wünschte, kann man so tatsächlich zugleich und auf einen Blick die Gesamtheit und das Detail zugänglich machen, zwei weit auseinander liegende Details vergleichen, frei durch den Film schweifen "wie durch ein Gemälde", kurz endlich einen nicht mehr ausschließlich linearen, sondern tableau-artigen Zugang zum Film haben.
Auf der DVD kann man sehr viele Bilder und Klänge speichern und ganz einfach vielfältige Verknüpfungen programmieren, dank denen diese Filmfragmente in ebenso vielfältig "denkende", zum Nachdenken über das Kino anregende Beziehungen gesetzt werden können.
Schon auf einer Videokassette konnten viele Sequenzen aufgezeichnet werden, aber in unverrückbarer Reihenfolge und mit zwangsläufigen Nachbarschaften. Auf einer normalen DVD können dreißig Ausschnitte durch vorprogrammierte Links in Beziehung gesetzt werden, jeder einzelne ist also Teil eines Geflechts vielfältiger Beziehungen und Verkettungen. Angesichts dieses neuen Instrumentariums ist es heute sehr wichtig, sich klarzumachen, was genau das In-Beziehung-Setzen von Filmfragmenten bedeutet. Dann könnte es zu einem der Kernstücke (natürlich sind weitere nötig) einer Pädagogik werden, die sich auf das persönliche Imaginäre, das individuelle Verständnis des Benutzers, ob Schüler oder Lehrer, einstellt. Die kurze Form – Ausschnitt und Sequenz – hat dabei den Vorzug, das Denken zu beschleunigen: Drei Ausschnitte in Beziehung zu setzen, vermittelt manchmal mehr Einsichten als ein langer Vortrag. Und sie eignet sich für Querschnitte: Man kann erhellende und faszinierende, ganz unvorhergesehene Beziehungen zwischen Kinoepochen und –ländern, zwischen Filmen und Autoren herstellen, die ein linearer Zugang in hermetisch abgeschotteten Kategorien belassen würde.
Bei dieser Gelegenheit soll ausdrücklich betont werden, dass das rasche In-Beziehung-Setzen, die Schnelligkeit des Zugriffs und der Navigation nichts mit der allgemeinen Ungeduld des Zappens und Surfens gemein haben. Ich sehe keinen Grund, die digitale Geschwindigkeit nicht zu nutzen – aber dafür, "in Beziehung zu setzen" und zum Denken anzuregen. Um so mehr, als die DVD auch den in der Pädagogik unverzichtbaren, umgekehrten Vorgang erlaubt, nämlich die Bilder in Zeitlupe laufen zu lassen oder anzuhalten.
Unter diesen Bedingungen können Lehrer und Schüler gemeinsam beobachten, überlegen und versuchen, die Idee, den Grundgedanken ausfindig zu machen, die implizit ja jeder Verkettung zu Grunde liegen. Verstehen lehrt dann nicht unbedingt die Stimme oder der Text eines Wissenden, auch nicht nur der Lehrer, sondern es wächst beim Hin und Her zwischen den Ausschnitten, die unter bestimmten Umständen, nämlich bei genauer, aufmerksamer Betrachtung, genug Stoff zum Nachdenken liefern. So lässt sich auch pädagogischer Übereifer vermeiden. Je nach Publikum kann man sich verschiedene Nutzungsmöglichkeiten der in Beziehung gesetzten Ausschnitte vorstellen, von der spielerischen bis zur begriffsorientierten, von der poetischen bis zur filmsprachlichen.
Zudem folgt das Denken bei den vielfältigen Verkettungs-möglichkeiten der Ausschnitte nicht unbedingt der in der Informatik vorherrschenden Logik der Baumstruktur. Es kann auch eher rhizomartige Wege nehmen, denn die vorgeschlagenen Verbindungen erfordern nicht zwangsläufig binäre, vertikal gegliederte Entscheidungen. Überdies sind vielfältige, auf unterschiedliche Arten von Intelligenz zugeschnittene Navigationen durch die Ausschnittsammlungen vorstellbar. Es öffnen sich also sehr viele freie, nicht hierarchisch gegliederte Wege, um zwischen den Ausschnitten Beziehungen aller Art – analytische, poetische, den Inhalt oder die Form betreffende – zu schaffen.
Das pädagogische Werkzeug DVD bleibt zwar ein Artefakt, das von einem Wissenden konzipiert ist, der diese Wege vorprogrammiert hat. Doch es ist dem Charakter seines Gegenstandes – Kino als Kunst – und dessen Funktionsweise, nämlich im Kopf des Zuschauers beim Zuschauen eines Films eine Vielzahl von Wegen zu bahnen, sehr viel näher als die meisten Werkzeuge vor ihm.
© Schüren Verlag 2006