Andres Veiels "Wer wenn nicht wir" ist nicht der soundsovielte Film über die RAF. Es ist eher ein Film über das magische, stets zitierte Jahr "1968", also über die radikale Jugendbewegung der 1960er-Jahre, über die es merkwürdiger Weise bisher nicht einen einzigen guten Spielfilm gibt. Im eigentlichen Zentrum der aufwendig recherchierten Geschichte steht nicht das prominente spätere RAF-Anführerduo Gudrun Ensslin und Andreas Baader, sondern Bernward Vesper, Ensslins erster Lebensgefährte und Vater ihres 1967 geborenen Sohnes Felix. In den sich rasend beschleunigenden Radikalisierungsprozessen verliert Vesper nicht nur seine Gefährtin an Baader, sondern später auch sich selbst: Während das Paar den Sprung in den Untergrund macht, begeht Vesper Selbstmord.
Um diese Personenkonstruktion herum entwickelt der Film ein Panorama der Zeit, das sich nicht nur über dokumentarische Einblendungen vermittelt – von den Atomversuchen über den Eichmann-Prozess bis zum Vietnamkrieg –, sondern vor allem über die biographischen Entwicklungen seiner Protagonisten. Es ist die Schlüssel- und Schaltzeit der Nachkriegsgeschichte überhaupt, nicht nur in Europa oder in Deutschland, aber hier mit besonderer Schärfe. Eine Generation der Nachgeborenen will aus dem belastenden, auch das eigene Selbstbild kränkenden Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit und des Zweiten Weltkrieges heraustreten; aber sie will sich auch dem Wahnsinn der west-östlichen Konfrontation im Kalten Krieg entziehen. Man sucht also in einer revolutionären "Dritten Welt" den Hebel für einen gesellschaftlichen Ausbruch: Als neue Leitfiguren dienen der so heroisch wie vergeblich gestorbene argentinisch-kubanische Guerilla-Kommandant Che Guevara oder der erbittert gegen die US-Übermacht Widerstand leistende Führer Vietnams, Ho Chi Minh.
Gleichzeitig, und das akzentuiert der Film zunächst viel stärker als die Geschichte der rein politischen Radikalisierungen, probt man den Ausbruch aus dem bürgerlichen Lebensmilieu der 1950er- und frühen 1960er-Jahre. Der Protest richtet sich vor allem gegen die Elterngeneration, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik neu eingerichtet hat. Es geht aber nicht einfach um die fröhlich-hedonistische Parole "Make Love, not War!". Stattdessen probiert man sich an einem vielfach künstlerisch inspirierten Leben jenseits aller moralischer Grenzen. Alle Regeln eines Miteinanders sollten neu erfunden werden, auch unter großen gegenseitigen Verletzungen. Darin aber spiegelt sich mehr als nur der gewöhnliche Liebeskrieg junger Leute: Man wollte den "faschistischen Charakterpanzer" in sich selbst zerbrechen, sich vom vergifteten Körper der deutschen Mehrheitsgesellschaft gewaltsam abnabeln und sich im Gegenentwurf zu militanten Revolutionären machen, freilich ohne dass man schon die geringste Ahnung gehabt hätte, um welche Revolution es sich denn eigentlich handeln sollte.
1967/68 ist alles das noch ein Prozess mit offenem Ausgang, auch was diejenigen betrifft, die wie Ensslin und Baader zwei oder drei Jahre später eine "Rote Armee Fraktion" gründen werden. Der Film macht deutlich, dass der Weg dahin kein so geradliniger Prozess gewesen ist, wie es die bekannten Standarderzählungen über die RAF suggerieren. In Stefan Austs "Baader Meinhof Komplex" (Buch und Film) soll eine erregte Gudrun Ensslin am Abend des 2. Juni 1967 in die Versammlung geschrien haben: "Das ist die Generation von Auschwitz, mit der kann man nicht diskutieren. Die werden uns alle ermorden. Wir müssen uns bewaffnen!" Abgesehen von der fragwürdigen Authentizität dieser Szene suggeriert das eine "Logik" ihres weiteren Handelns, die es in der Wirklichkeit so nicht gegeben hat – wie detaillierte biographische Studien und Dokumente (etwa der Briefwechsel mit Bernward Vesper in der Zeit ihrer ersten Haft 1968/69) belegen. Ensslin ist qualvoll zerrissen, in den Briefen geht es über weite Strecken um das gemeinsame Kind. Diese Zerrissenheit kann der Film zwar nicht ausspielen, sie wird aber durch die nuancierte Darstellung von Lena Lauzemis zumindest angedeutet. Auch die Szene, in der Baader Gudrun Ensslin brutal ohrfeigt, als sie heimlich mit Bernward und dem Kind Kontakt aufzunehmen versucht, deutet die Stärke dieser familiären Bindung an, die gewaltsam unterbrochen werden muss. Durch den selbst auferlegten Zwang, immer weitermachen zu müssen, tun sich die Akteure in vieler Hinsicht erst selbst Gewalt an, bevor sie anderen Gewalt antun.