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Mit Kinderfilmen die Zensur austricksen | "Bad o meh - Wind und Nebel" | bpb.de

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Mit Kinderfilmen die Zensur austricksen

Robert M. Richter

/ 7 Minuten zu lesen

Seit über 20 Jahren genießen iranische Kinderfilme weltweit große Anerkennung. Ohne Beachtung des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrunds ergibt sich indes ein falsches Bild des iranischen Kinderfilms. Gewachsen im Umfeld der Bildungspolitik des Schah-Regimes, waren Kinderfilme nach der Revolution eine elegante Möglichkeit, die Zensur auszutricksen.

Filmstill aus "Der Schlüssel" von Ebrahim Forusesch (© Kanun, Teheran)

"Wir zeigen den Kindern den Weg, den sie unserer Meinung nach gehen sollten", sagte 1990 der Filmregisseur Ebrahim Forusesch über seinen Film "Der Schlüssel" (Kelid, 1986). Eingeschlossen in der elterlichen Wohnung - die Mutter ist einkaufen gegangen - sucht der Junge Amir Mohammad knapp 70 Minuten lang unentwegt nach dem Wohnungsschlüssel, der ihn schließlich befreien wird. Die Kinder als Erwachsene von morgen sollen richten, was in der Gegenwart falsch läuft.

"Der Schlüssel" ist ein allegorischer Film, welcher die iranische Gesellschaft auf der Suche nach Freiheit widerspiegelt. Vor dem Hintergrund der damaligen Zensurvorgaben wählte Forusesch die Form des Kinderfilms. Die Wahl des Genres sowie die allegorische und minimalistische Erzählweise, die ihre Wurzeln in der persischen Erzählkunst und Poesie hat, ermöglichten eine Bündelung aufs Wesentliche, ohne den realen Sachverhalt konkret darstellen zu müssen. Der persische Geschichtenerzähler setzt auf die assoziative Vorstellungskraft des Zuhörers, des Lesers oder des Kinopublikums. Im Mittelpunkt einer Erzählung steht nicht selten ein beiläufiges Ereignis oder eine vorerst unscheinbare Sache, die über Gedankenspaziergänge zu Sinnbildern für größere Zusammenhänge wachsen. Im Nebensächlichen und Unscheinbaren spiegeln sich Weltanschauungen. Und das Publikum kann diese Allegorien annehmen und für sich interpretieren oder auch übersehen oder beiseite schieben.

Kinderkultur zu Schah-Zeiten

In den späten 1980er-Jahren fasste der iranische Film auf internationalem Parkett Fuß. Bemerkenswert ist, dass damals die weltweite Anerkennung für das iranische Filmschaffen auf Filmfestivals vor allem auf Kinderfilme oder Filme mit Kindern in den Hauptrollen zurückzuführen ist. Was zu jener Zeit kaum jemand wusste war, dass sich der iranische Kinderfilm aufgrund der Bildungspolitik der 1960er-Jahre entwickeln konnte.

Zu jener Zeit geriet das Regime unter Schah Mohammad Reza Pahlawi zunehmend unter Druck. Farah Diba, die Frau des Schahs, versuchte dem engegenzuwirkenund engagierte sich für die Gründung vieler Organisationen, die zur Linderung sozialer Missstände und zur gesellschaftlichen Entwicklung insbesondere der bildungsfernen Bevölkerungsschichten beitragen sollten. Eine der Initiativen von Farah Diba war die Gründung von Kanun, der Organisation zur Förderung der intellektuellen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen. Kanun (Farsi für "Verein") wurde 1965 gegründet und brachte den Kindern und Jugendlichen das Lesen und die Welt der Bücher näher. Die wenig später eröffnete Filmabteilung produzierte zunächst pädagogische Kurzfilme für Kinder, an denen Ebrahim Forusesch und Abbas Kiarostami mitwirkten. Es folgten Spielfilme wie Kiarostamis "Der Reisende" (Mossafer, 1974). Ein Junge aus einem Dorf will zu einem Fussballspiel nach Teheran fahren, doch fehlt ihm das Geld für die Busfahrt. Mit einem Fotoapparat ohne Film knipst er gegen ein Entgelt Porträts seiner Mitschüler. Das erschwindelte Geld ermöglicht ihm, nach Teheran zu fahren. Erschöpft schläft er ein und verschläft das Fussballspiel.

Von Dürre heimgesucht

Kanun überdauerte die politischen Umwälzungen von 1979 und blieb als Bildungsstruktur für Kinderkultur erhalten. Der Regierungskontrolle unterstellt wird das Tätigkeitsprogramm von Kanun bis heute den wechselnden politischen Ausrichtungen der Regierung angepasst. In den 1980er-Jahren griff eine Vielzahl iranischer Filmschaffender wegen der Zensur auf das Genre des Kinderfilms zurück. Denn die filmisch glaubwürdige Darstellung von Privatem, Gesellschaftlichem oder gar Politischem über Geschichten, die zwischen Erwachsenen und in einem realen gesellschaftlichen Umfeld spielen, konnte leicht die Zensur auf den Plan rufen. Die gleichnishafte Darstellung von Alltagssituationen über Kindergeschichten bot indes ein Schlupfloch.

Foruseschs "Der Schlüssel", aber auch die Klassiker "Baschu, der kleine Fremde" (Baschu gharibeh kutschak, 1986) von Bahram Beisa'i, "Wo ist das Haus meines Freundes?" (Chane-je dust kodschast?, korrekt übersetzt "Wo ist das Haus des Freundes?", 1988) von Abbas Kiarostami und viele mehr wurden von Kanun produziert. Es sind Kinderfilme, die keine sind, weil sie sich (auch) an Erwachsene richten und weil sie mit dem Etikett Kinderfilm heikle Themen kaschieren.

Der Titel des Films "Baschu, der kleine Fremde" bezieht sich auf den Namen des Jungen, der aus dem iranisch-irakischen Kriegsgebiet im Süden des Landes in den Norden flüchtet. Doch die eigentliche Hauptperson des Films ist nicht Baschu, sondern seine Adoptivmutter Na'i, eine selbstbewusste und unerschrockene Frau, die sich gegen die Engstirnigkeit und die Skepsis der Hinterwäldler durchsetzt. Kein anderer Film zeichnete in jenen Jahren ein derart deutliches Bild einer starken und selbstbewussten iranischen Frau.

Die Suche nach dem in der Not helfenden Freund ist zwar der Ausgangspunkt von "Wo ist das Haus meines Freundes?". Doch inhaltlich im Zentrum steht die im Verhalten der Kinder gespiegelte Unbeweglichkeit der Erwachsenen, ihre Unfähigkeit, den Alltag konstruktiv zu meistern und Zukunftsperspektiven aufzuzeigen. Folglich reagieren die Kinder mit geistreicher Unfolgsamkeit und tricksen die Autorität der Erwachsenen aus, ohne dass diese es merken.

Filmstill aus "Wasser, Wind, Sand" von Amir Naderi (© IRIB - Iranisches Fernsehen)

Wie sehr der so genannte Kinderfilm das Genre war, um allegorisch den Zustand der iranischen Gesellschaft darzustellen, belegt das Meisterwerk "Wasser, Wind, Sand" (Ab, bad, chak, 1985/1989) von Amir Naderi. Ein Junge kehrt in seine Heimatregion zurück und will seine Familie besuchen. Was er vorfindet, ist ein Land, das von Dürre heimgesucht wird und aus dem die Menschen fliehen.

Wegen der Beharrlichkeit, mit der sich der Junge gegen die Dürre stemmt, wurde der Film im Ausland fälschlicherweise als Huldigung an die Kämpfer der Revolution interpretiert. Dabei sind die Dürre und die verendenden Tiere, auf die sich Schakale - ein Sinnbild für die Profiteure - stürzen, unmissverständliche Metaphern für die Unwirtlichkeit im Land, das nach der Revolution - wie uns der Film zu verstehen gibt - zur "Wüste" verkommen ist.

Den Gehorsam verweigern

Unmittelbar vor der Wahl von Mohammad Chatami zum Staatspräsidenten setzte Dschafar Panahi mit "Der Spiegel" (Ajeneh,1997) einen Schlusspunkt unter das Kapitel des iranischen Kinderfilms der 1980er-und 1990er-Jahre. Er ging einen Schritt weiter als Forusesch mit seinem Film "Der Schlüssel" und durchbrach als erster iranischer Regisseur das eingeübte Muster des idyllischen Kinderfilms. Panahi war zudem der erste, der nicht Jungen, sondern Mädchen in den Mittelpunkt seiner Kinderfilme stellte.

Nach Schulschluss tritt die kleine Mina den Nachhauseweg allein an, da ihre Mutter sie nicht wie üblich abgeholt hat. Wie sich später herausstellt, erzählt "Der Spiegel" von den Dreharbeiten zu einem Film, in dem Mina die Hauptrolle spielt. Mitten in den Dreharbeiten platzt Mina der Kragen. Sie setzt sich über die Kleidungsvorschriften hinweg, wirft ihr Kopftuch weg und verweigert den sie andauernd herumkommandierenden Erwachsenen, zu denen auch der Filmregisseur zählt, den Gehorsam. Mit dem dramaturgischen Kniff des "Kinderfilms im Film" packt Panahi gleich mehrere Interpretationsmöglichkeiten in den Befreiungsschlag von Mina: Als Kind wird Mina nicht ernst genommen wie in der iranischen Gesellschaft das Individuum allgemein, die Frauen insbesondere. Als Filmschauspielerin befreit sich Mina von der ihr zugedachten Rolle in einem fremdbestimmten Spiel. Die Weigerung, das Kopftuch zu tragen, ist ein Zeichen der Auflehnung gegen eine gesellschaftliche Ordnung, die die Selbstbestimmung beschneidet. In den späten 1990er-Jahren kehrten Panahi und etliche andere Filmautoren dem Kinderfilm den Rücken. Panahis folgende Filme zeigen Frauen am Rande der Gesellschaft, Frauen, die für Selbstbestimmung und Freiheit einstehen. Für seine mutige Arbeit zahlte Panahi einen hohen Preis: Ende 2010 wurde er zu sechs Jahren Haft und 20 Jahren Berufsverbot verurteilt.

Die Präsidentschaft von Mohammad Chatami (1997-2005) brachte iranischen Filmschaffenden deutlich mehr Spielraum. Es wurden seither weiterhin Kinderfilme produziert, doch sind sie nicht mehr das Flaggschiff des iranischen Films, da der Umweg über den Kinderfilm bis zur Wahl von Mahmud Ahmadineschad zum Staatspräsidenten nicht mehr nötig war. Dies belegte jüngst auch "Bad o meh - Wind und Nebel" (2011) von Mohammad Ali Talebi, dessen Geschichte sich stark an jene von "Baschu der kleine Fremde" anlehnt, dessen Brisanz aber längst nicht erreicht.

Zu den letzten international großen Erfolgen des iranischen Kinderfilms zählte 1999 "Die Farbe des Paradieses" (Rang-e choda, korrekt übersetzt "Die Farbe Gottes"). Widerwillig kümmert sich der alleinstehende Köhler Haschem um seinen von Geburt an blinden Sohn. Blind im übertragenen Sinn ist Haschem, der nur die düsteren Seiten des Lebens wahrnimmt. Nach einer Bewährungsprobe fällt auf ihn das Licht der Erkenntnis: In seinem blinden Sohn erkennt Haschem die Schönheit des Irdischen.

Die Aufbruchstimmung der späten 1990er-Jahren spiegelnd, verwandelt sich, wie es Madschidi formulierte, der weltliche Schmerz in Schönheit: "Über die Kunst muss der Mensch wachsen, weiterkommen und sich vervollkommnen können." Madschidi, dessen Filme oft vor dem Hintergrund von Glaubens- und Religionsfragen diskutiert werden, thematisiert hier den pantheistischen Glauben an die Schöpfung, an die irdische Sinnlichkeit. Nicht die Verheißung vom Paradies nach dem Tod ist das Thema des Films, sondern die Schönheit des Hier und Jetzt, in der sich Gott kundtut.

Die Kinder der Revolution

Mit der Lockerung der Zensurvorgaben unter Präsident Chatami wurde es möglich, Filme über den Alltag von urbanen Jugendlichen zu drehen, über ihre Sehnsüchte und Einschränkungen. Angesagt waren Filme über die bisher ausgeblendeten oder nur angedeuteten familiären Auseinandersetzungen hinter zugezogenen Gardinen. 1999 überraschte Ali Resa Dawudneschad mit dem selbstironischen Familiendrama "Süße Agonie" (Masa'eb-e schirin). Dem Flirten der nahezu erwachsenen Nachbarskinder Ali Resa und Mona stehen die lautstarken, mitunter an Fellinis Küchentischstreitereien erinnernden Auseinandersetzungen mit den Eltern und Großeltern gegenüber, die sich an überalterte Verhaltensregeln klammern. 2002 präsentierte Rasul Sadr Ameli "Ich, Taraneh, bin 15 Jahre alt" (Man Taraneh pansdah sal daram): Die fünfzehnjährige Taraneh wird schwanger und schlägt sich als alleinerziehende Mutter durchs Leben.

Bahman Ghobadi, in dessen früheren Filmen "Zeit der trunkenen Pferde" (Samani baraje masti asbha, 2000) und "Schildkröten können fliegen" (Lakposchtha parwas mikonand, 2004) Kinder im Mittelpunkt standen, drehte 2009 "Keiner kennt die persischen Katzen" (Kasi as gorbeha-je irani chabar nedareh, 2009) über junge Teheraner Musiker, deren Musik in Iran verboten ist, weil ihre stark rhythmusbetonte Rockmusik für die Konservativen zu sinnlich ist und ihre Texte "politisch untragbar" sind. Kameraführung und Schnittrhythmus spiegeln das Leben und das Lebensgefühl im Untergrund. Ghobadi drehte diesen Film nach der Wahl von Mahmud Ahmadineschad zum Präsidenten ohne Drehgenehmigung und mit einer Videokamera. Zwar bräuchte es auch hierfür eine Drehgenehmigung, doch erlauben handliche digitale Kameras ein Arbeiten "im Verborgenen"; zudem fällt das Beschaffen von Filmrohmaterial weg. Angesichts der erneut strengen Zensurpraxis und mit Hilfe der digitalen Filmtechnik bis hin zu Handykameras haben iranische Filmschaffende neue filmische Ausdrucksformen entwickelt. Die vielen Filme rund um die grüne Bewegung und ihre 2009 erfolgte Niederschlagung zeugen davon.

Fussnoten

Robert M. Richter ist seit zwanzig Jahren auf den iranischen Film spezialisiert, Geschäftsführer von Cinélibre (Verband Schweizer Filmklubs und nicht-gewinnorientierter Kinos) und hat als Kurator für Filmfestivals und Kinos gearbeitet.