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Das Geheimnis der Wildgans: Ein iranischer Kinderfilm verbindet Kriegsschrecken mit dem Unheimlichen des Märchens | "Bad o meh - Wind und Nebel" | bpb.de

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Das Geheimnis der Wildgans: Ein iranischer Kinderfilm verbindet Kriegsschrecken mit dem Unheimlichen des Märchens

Silvia Bauer

/ 5 Minuten zu lesen

Wie aus einer anderen Welt scheint der Film "Bad o meh - Wind und Nebel". Es ist eine Welt der Naturgewalten und der starken Kontraste. Im Dickicht des Märchenwaldes lauern die unbewussten Ängste und findet sich schließlich Erlösung. Tiere sind Boten einer anderen Welt und sprechen durch Zeichen und geheimnisvolle Stimmen.

Filmstill aus "Bad o meh - Wind und Nebel" (© Arsenal - Institut für Film und Videokunst e.V.)

Ein Auto windet sich über endlose Straßen. Regen prasselt gegen die Windschutzscheibe. Der Weg führt immer weiter in die nordiranische Berglandschaft hinein. Aus den befestigten Schnellstraßen werden verschlammte Schotterwege. Schließlich hält der Wagen in einem idyllischen Bergdorf vor einem alten, verfallenen Haus. Es ist der Herbst des Jahres 1980 und der acht lange Jahre währende Iran-Irak-Krieg hat eben erst begonnen. Ein Vater bringt seine beiden Kinder, den kleinen Sahand und die nur wenig ältere Shouka, aus der Kriegszone der südlichen Grenzprovinz Khuzestan, wo er auf den Ölfeldern arbeitet, zu ihrem Großvater in Sicherheit. Erst allmählich, in zahlreichen Rückblenden, enthüllt sich die Geschichte der beiden Kinder und ihre schwere Traumatisierung.

Sahand ist in Folge seiner Erlebnisse verstummt. Das Entsetzen und der Schmerz der Verstörung haben sich im Gesicht des Jungen tief eingegraben. In der neuen Umgebung, in der neuen Schule wird er schnell zum Opfer der anderen Kinder, die ihn piesacken und quälen. Als er in einer solchen Situation auch noch einnässt, weist der überforderte Lehrer ihn von der Schule. Bei einem Ausflug mit Großvater und Schwester entdeckt er eine von einem Jäger angeschossene Wildgans. Die blutende Wunde auf dem Flügel des weißen Vogels erinnert ihn an seine Mutter, die, direkt neben ihm, in einen blütenweißen Tschador gehüllt, mitten im Gebet von einer irakischen Granate getroffen wurde. Die teilweise überdeutlichen Metaphern und Symbole tragen zur märchenhaften Atmosphäre des Films bei, betonen aber auch den unbedingten Kunstwillen des Regisseurs.

Das Leid und die mögliche Rettung der Wildgans fesseln die Aufmerksamkeit des Jungen, der sich als ohnmächtiger Zeuge des Bombenangriffs für den Tod der Mutter mitverantwortlich fühlt. Doch der Großvater verlangt, dass er die Gans in der Wildnis zurücklässt. Als der Alte, um Besorgungen zu machen, eines Tages vor Sonnenaufgang das Haus verlassen muss, macht sich Sahand traumwandlerisch auf in die wild-romantische Berglandschaft, wie angezogen von einer höheren Macht. Im mystischen Dunkel des Waldes folgt der Junge einem jenseitigen Licht. Nach seinem "symbolischen Tod" findet er, dank seiner Schwester und der Wildgans, schließlich wieder zurück ins Leben. Durch die gemeinsame Suchaktion findet auch die Dorfgemeinschaft zu Einheit und Versöhnung zurück und der Streit zwischen den Kindern kann beigelegt werden. An der Hand seiner Schwester spricht Sahand auf dem Rückweg ins Dorf sein erstes Wort.

Filmstill aus "Bad o meh - Wind und Nebel" (© Arsenal - Institut für Film und Videokunst e.V.)

"Bad o meh - Wind und Nebel" ist konsequent aus der Perspektive der Kinder erzählt, die durch den Krieg ihrer Kindheit beraubt wurden. Auch wenn das Trauma des kleinen Jungen im Mittelpunkt steht, ist das Schicksal seiner Schwester nicht weniger bestürzend. Sie erhält vom Vater den Auftrag, sich um den kleinen Bruder zu kümmern, schließlich sei sie schon groß. Also sorgt sie für den Haushalt des Großvaters und die Zubereitung des Essens, sie spielt und lernt mit dem Bruder und verteidigt ihn gegen die Kinder, die ihn drangsalieren, wie auch den Lehrer, der ihn ungerecht behandelt. Vom Lehrer wird sie für ihr selbstbewusstes Auftreten gerügt, schließlich sei sie noch ein Kind. Hin- und hergerissen zwischen den Ängsten eines Kindes und der Verantwortung einer Erwachsenen macht sie sich auf die Suche nach ihrem verschwundenen Bruder und bringt ihn schließlich, geleitet durch die Flugbahnen der Wildgans, zurück ins Dorf.

Filmstill aus "Bad o meh - Wind und Nebel" Foto: Arsenal - Institut für Film und Videokunst e.V. (© Arsenal - Institut für Film und Videokunst e.V.)

Die beschauliche Ruhe des grünen, malerischen Bergdorfes steht im Gegensatz zu den heißen, trockenen Szenen im Süden, wo in Rückblenden die Kinder zwischen Ölpipelines im Sand spielen und im Wind Drachen steigen lassen. Der Wechsel zwischen Zeitebenen und Orten trägt zur Desorientierung bei, die das durcheinander geratene innere Erleben der Kinder verdeutlicht. Doch auch die scheinbare Idylle des Dorfes und des Bergwaldes wird durch den stimmigen Einsatz dumpf hallender Töne und Geräusche unheimlich. Wo Sahand aufgrund seines Traumas verstummt, tönt die Umwelt umso lauter und bedrängt akustisch die verstörte Innenwelt. Ständig rufen verschiedene Vogelstimmen, der Regen prasselt bedrohlich, der Wind pfeift durch die Bäume und über die Berge, und über allem liegt eine leise, teils klagende, teils beruhigende Frauenstimme, die ein Kinderlied singt.

Mohammad Ali Talebis Kinderfilm ist im Jahr 2010 entstanden, zum 30. Jahrestag der "Heiligen Verteidigung", wie der erste Golfkrieg im Iran genannt wird. Der Schrecken des Krieges selbst wird nur in wenigen, kurzen Sequenzen thematisiert: Granaten, die das Haus der Familie treffen und die Mutter töten, Szenen im Krankenhaus, Bilder flüchtender Frauen und Kinder und ihnen entgegenkommende Lastwagen mit jungen Frontsoldaten sowie einige dokumentarische Fernsehbilder.

Womöglich wird der kleine Sahand zu Kriegsende selbst an die Front müssen. In den acht Kriegsjahren wurden insgesamt eine halbe Million iranischer Schüler als Kindersoldaten auf dem Schlachtfeld eingesetzt; 36.000 davon wurden zu "Märtyrern", wie die Gefallenen im offiziellen iranischen Sprachgebrauch heißen. Während dieser "Märtyrer" gedacht und den Kriegsinvaliden und Veteranen Hilfe und Unterstützung zuteil wird, erhalten die psychischen Kriegswunden der Überlebenden so gut wie keine Aufmerksamkeit. Depressionen, eine typische Folge posttraumatischer Belastung, sind heute im Iran weitverbreitet; Studien sprechen von 20-30% der Bevölkerung, die betroffen sind.

Traumata von Kriegskindern, also frühkindliche Kriegserlebnisse, die verdrängt und ins Unbewusste verschoben worden sind, sowie transgenerational weitergegebene Traumata sind Gegenstand eines noch recht jungen Forschungsgebietes und werden auch hierzulande selten öffentlich diskutiert. Bei vielen Kriegskindern des Zweiten Weltkrieges, beispielsweise bei der Generation der um 1940 Geborenen, hat es oft Jahrzehnte gedauert, bis sie sich psychologische Hilfe geholt haben, um ihre traumatischen Kindheitserlebnisse zu verarbeiten. Kinder und Enkel von Kriegskindern verstehen oft erst nachdem sie die traumatischen Erlebnisse Ihrer Eltern und Großeltern erkundet haben, was die tieferen Wurzeln ihrer eigenen unbestimmten Lebensängste sind.

Sahands Großvater meint, dass "die Zeit schon alle Wunden heilen" kann und dass seine Enkel das Kriegsgrauen bald vergessen haben werden. Zwar durchlaufen Sahand und Shouka im Wald ihre je eigenen Initiationserlebnisse und lernen dabei ihre Ängste zu meistern; doch sie werden auch vom Wind des Schicksals vor sich her getrieben und tappen im Nebel ihres Unbewussten. "Bad o meh - Wind und Nebel" kann daher als eine Geschichte der Resilienz gelesen werden; ein Märchen der erfolgreichen, dauerhaften Trauma-Bewältigung ist sie jedoch nicht.

"Bad o meh - Wind und Nebel" ist ein Film mit herzensguten Protagonisten. Für deutsche Sehgewohnheiten wirkt die Opferbereitschaft der Tochter oder die Güte der Mutter ebenso wie die Botschaft von der Macht der Versöhnung und Einheit, selbst unter Berücksichtigung der Konventionen des Kinderfilms, etwas dick aufgetragen. Doch alle Filmschaffenden im Iran unterliegen strengen staatlichen Regeln und dazu zählt auch, dass Filmprotagonisten als Charaktere positiv dargestellt werden und als gesellschaftliches Vorbild dienen sollen. Aus Respekt vor den "Märtyrern" kann der Krieg nicht direkt kritisiert werden. Kritische Äußerungen lassen sich daher am ehesten zwischen den Zeilen, in den stillen Brüchen erkennen. Doch ein Ruf nach mehr Verständnis für die anhaltenden Wunden, die der Krieg in den Menschen hinterlassen hat, ist ein Anfang.

Credits

"Bad o meh - Wind und Nebel"
Iran 2011

Kinostart: 20.10.2011
Verleih: Externer Link: arsenal distribution
Regie: Mohammad Ali Talebi
Drehbuch: Mohammad Ali Talebi, nach Mojgan Shakhis Kurzgeschichte "Summer And White Goose"
Darsteller/innen: Payam Eris, Masume Shakori, Asadolah Asadnia, Arasto Safinejad, Anis Shakorirad u. a.
Kamera: Ali Mohammad Ghasemi
Laufzeit: 74 min, OmU
Format: 35mm, Farbe, Breitwand
Filmpreise: Internationale Filmfestspiele Berlin 2011: Filmpreis "Cinema fairbindet"
FSK: ab 6 J.
Altersempfehlung: ab 10 Jahre

Fussnoten