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Politisches Zeigen, politisches Erzählen | Erzählen und Zeigen im Film | bpb.de

Erzählen und Zeigen im Film Einführung: Die Verbindung von Analyse und Praxis in der Filmvermittlung Die Filmeinstellung: Eine Pädagogik der kleinen Einheiten Eine Szene in Varianten Politisches Zeigen, politisches Erzählen Unterichtsmaterial Redaktion

Politisches Zeigen, politisches Erzählen

Dr. Brigitta Wagner

/ 6 Minuten zu lesen

Das Ziel vor Augen – ein Mann blickt auf die spanische Enklave Melilla. Ein Still aus "Les Sauteurs – Those who jump". (© Reservoir Docs Arsenal Institut für Film und Videokunst e.V.)

Sowohl für die Filmanalyse, als auch für die Medienkompetenz generell, ist es eine wichtige Fähigkeit, eine filmische Einstellung zu analysieren und diese in einer Szene oder Sequenz zu kontextualisieren. Im Alltag sind wir mit verschiedensten Bewegtbildern konfrontiert – zum Beispiel mit Bildern aus Spielfilmen und Dokumentarfilmen, aus der Werbung, den Nachrichten, YouTube oder Sozialen Netzwerken wie TikTok. Wir leben in einem global und digital vernetzten Zeitalter, in dem Menschen Zugang zu eigenen Smartphone-Kameras und zu Social-Media-Apps haben – oft auf dem gleichen Gerät.

Dieser weitverbreitete und schnelle Zugriff auf audiovisuelle Technologien hat eine immense Wirkung auf die kommunikativen Möglichkeiten unserer Zeit, er birgt Herausforderungen, aber auch große Chancen. Einerseits bieten soziale Medien vielfach Möglichkeiten des Missbrauchs, indem Falschinformationen verbreitet werden oder zu Hass und Gewalt mittels dieser Technologien aufgerufen wird. Andererseits nutzen viele Individuen, Filmemacher*innen und soziale Bewegungen diese technischen und medialen Möglichkeiten, um gesellschaftliche Missstände zu beobachten und sie zu kommentieren. Parallel zu dieser "Demokratisierung" des Filmemachens und der "Berichterstattung" von Individuen, produzieren auch Überwachungskameras zunehmend Bilder von Menschen und Ereignissen an öffentlichen Orten. Beispielhaft werden in diesem Beitrag der Dokumentarfilm "Les Sauteurs – Those who jump" (Abou Bakar Sidibé, Moritz Siebert, Estephan Wagner, DK 2016) und Handyvideos sowie Videomaterial von Überwachungskameras untersucht, die rassistische Übergriffe dokumentieren und für die Aufklärungsarbeit der US-amerikanischen "Black Lives Matter"-Bewegung bedeutsam sind. Sie stehen beispielhaft für das "politische Zeigen und politische Erzählen" von Rassismus und Ungleichheit.

Die Sichtbarkeit im Film

Film als Medium und als Technologie hat — im Gegensatz zu den Standbildern der Fotografie – eine bewegte Welt im Rahmen geschaffen. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass wir Interner Link: in den frühen 50-sekündigen Filmen der Brüder Lumière ausgewählte Teile der Welt wiedererkennen, während das, was nicht im Bildrahmen ist, ausgeschlossen bleibt. Ein Zug kommt an. Fabrikarbeiter*innen verlassen die Fabrik. Eine Feuerwehr rast vorbei. Sowohl zeitlich als auch räumlich beschränkt die Sichtbarkeit unsere Einblicke in das, was sich während der Aufnahme vor der Kamera ereignet (hat) und zeigt damit lediglich einen Ausschnitt der Geschehnisse. Wir achten nur darauf, was vor uns steht und beachten es nur so lange, wie es die in Bewegung gebrachten Einzelbilder erlauben. Da die Anfänge des Films noch den Charakter einer neuartigen Erfindung trugen, war eben diese bewegte Wiedergabe des Alltags etwas Besonderes. Heute werden diese frühen Filme als Teil des Kulturerbes geschätzt und in Archiven gepflegt. Die begrenzten Rahmen der ersten filmischen Einstellungen sind ein Fenster geworden, durch das wir vergangene Zeiten erblicken und versuchen Geschichte(n) zu verstehen.

Aber das, was wir für die sichtbar gemachte Vergangenheit halten, kann auch täuschen. Denn durch die gezielte Aufnahme und somit das Zeigen ausgewählter Bilder wurden bestimmte Menschen, Orte, oder kulturelle Praxen hervorgehoben, erhielten auf diese Weise überhaupt erst Bedeutung im audiovisuellen Gedächtnis – während andere ausgeschlossen, manche als exotisch und fremd porträtiert, andere als alltäglich dokumentiert wurden. Der Bedeutungs-Rahmen wurde dabei meist durch eine westlich und oftmals explizit weiß geprägte Perspektive vorgegeben.

Sichtbar machen: Die Montage im Film

Einstellungen, ob statisch oder bewegt, können bereits viel offenbaren – Verhältnisse zwischen Menschen, zwischen Menschen und Objekten oder räumlichen Umgebungen. Eine wichtige Entwicklung des Films ist die Montage. Durch sie können diese einzelnen Einstellungen nicht nur Szenen aufbauen, sondern auch wichtige konzeptuelle Kontraste einführen. In Dokumentarfilmen kann die Dramaturgie des Schnitts strukturelle Verhältnisse in der Welt sichtbar machen. Die Montage erlaubt Filmemacher*innen (audio-)visuell zu argumentieren. Die Reihenfolge der Auskunft lädt die Zuschauer*innen ein, das Gesehene zu deuten.

Abou Bakar Sidibé ist mit seiner Kamera immer nah dabei und mittendrin. Ein Still aus "Les Sauteurs – Those who Jump". (© Reservoir Docs Arsenal Institut für Film und Videokunst e.V.)

Der ko-kreierte Dokumentarfilm "Les Sauteurs – Those who jump" zeigt dies eindrücklich. Im Film nimmt der junge Malier Abou Bakar Sidibé Einstellungen aus seinem Leben auf. Er lebt an der marokkanischen Grenze und hat das Ziel, über den meterhohen Grenzzaun ins spanische Melilla zu gelangen. Die Filmemacher Moritz Siebert und Estephan Wagner binden diese intim erzählten Einstellungen aus Abous Ich-Perspektive in einen größeren Kontext ein. Durch den Kontrast zwischen Abous Leben im improvisierten Lager und dem entfernten Blick der Überwachungskameras führen Siebert und Wagner die Zuschauer*innen zu einer unbequemen Erkenntnis: Die Kameraperspektiven offenbaren eine gewisse Haltung und Wahrnehmung der Menschen. Während Abous Blick die menschliche Würde und Hoffnung der jungen Männer aus dem Lager zeigt, reduzieren die Bilder der Überwachungskameras sie auf kleine, kaum zu unterscheidende Punkte in einer nächtlichen Landschaft, zu vermeintlichen Eindringlingen, die illegal nach Europa gelangen wollen.

Im Visier der Überwachungskameras. Ein Filmstill aus "Les Sauteurs – Those who jump". (© Reservoir Docs Arsenal Institut für Film und Videokunst e.V.)

Durch diese kontrastierenden Kamera-Perspektiven zeigen Siebert und Wagner eine weitere Grenze auf: Jene, die entlang von Solidarität und Selbstbestimmung einerseits und der Entwürdigung und Objektivierung von Migrant*innen andererseits verläuft.

Sichtbarkeit im digitalen Zeitalter

Während die Filmpioniere Auguste und Louis Lumière die Filmkamera erst erfinden mussten und Filmtechnik noch lange Zeit bis in die 1960er-Jahre hinein sperrig und teuer war, sind Kameras mittlerweile kleine, leichte und erschwingliche Geräte. Eine Smartphone-Kamera passt in die Hosen- oder Jackentasche und ist immer griffbereit. Aber es ist nicht der leichte Zugriff auf die Videokamera und Schnittsoftware allein, der die (multi-)mediale Kultur ausmacht und schon Kinder und Jugendliche zu Medienproduzent*innen werden lässt. Sondern es sind auch die diversen digitalen Verbreitungswege und (sozialen) Plattformen, die es Nutzer*innen erlauben, eigene Fotos und Videos hochzuladen und die Fotos und Videos anderer zu verbreiten. Auf diese Art und Weise können Individuen Ereignisse in ihrer Umgebung festhalten und veröffentlichen und auch offizielle Strukturen der Filmproduktion umgehen.

Während mittels Montagetechniken einzelne Einstellungen in (Dokumentar-)Filmen eingebettet und durch Kontrast und Reihenfolge einzelner Szenen größere Bedeutungssegmente aufgebaut werden, sind Handyvideos von Amateur*innen meist unmittelbar und unmontiert. Sie werden oft ungeschnitten auf sozialen Plattformen hochgeladen, wobei die schnelle Verbreitung wichtiger ist als eine zeitaufwendige Postproduktion oder ein filmästhetischer Mehrwert. Einige dieser Videos erreichen in kürzester Zeit sehr viele Nutzer*innen und werden von diesen weitergeleitet oder kommentiert. Dies führt mitunter dazu, dass zum Beispiel Videos von gewaltsamen Übergriffen die Öffentlichkeit schneller über die Sozialen Medien erreichen als über traditionelle Nachrichtenkanäle. Denn diese sind an redaktionelle Abläufe, journalistische Standards und Nachrichtenwerte gebunden und müssen zunächst Quellen prüfen und Fakten checken, bevor sie Bildmaterial verbreiten. Die neue Unmittelbarkeit von Amateurvideos in den sozialen Medien kann auch gefährlich sein, da auf diese Weise falsche Informationen und manipulierte Bilder verbreitet werden können. Dennoch können diese unmittelbar verbreiteten Bilder und Videos dazu beitragen, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten überhaupt erst sichtbar werden zu lassen und auf sie aufmerksam zu machen.

Dies hat nicht zuletzt die US-amerikanische "Black Lives Matter"-Bewegung verdeutlicht. Anhand von mit Smartphones aufgenommenem Bildmaterial können rassistische Übergriffe nicht nur dokumentiert und analysiert werden, wie in den Fällen von Eric Garner, Philando Castile und George Floyd, sondern sie erreichen auch eine breitere Öffentlichkeit und können Diskussionen und Debatten um strukturellen Rassismus auslösen.

Eine Person filmt Trumane Lindsey und Pastor Jahvelle Rhone bei einem friedlichen Protest im Triangle Park anlässlich des Todes von George Floyd. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Luke Townsend)

Diese Videos werfen dabei Fragen nach der enormen medialen Bedeutung von Zeitzeug*innen und Amateur-Dokumentarist*innen auf. Neue Technologien und Aufnahmetechniken befähigen ihre Nutzer*innen zur aktiven Mitgestaltung der Erzählungen und der Ereignisse unserer Zeit. Um dieses Potential erkennen, einordnen und nutzen zu können, bedarf es einer starken Medienkompetenz und einer guten Kenntnis dokumentarischer Ethik und der damit einhergehenden Verantwortung auch als Amateurfilmer*in. Die Auswahl des Bildes im gerahmten Blickfeld der filmischen Einstellung bestimmt, welche Sichtbarkeit Dinge und Vorfälle in unserer Gesellschaft erhalten und wie diese weitergegeben werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Doch auch im frühen Kino gab es Ausnahmen. Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit FIELDWORK FOOTAGE (USA 1928) von Harlem Renaissance-Autorin und Anthropologie-Studentin Zora Neale Hurston, die in den südlichen US-Bundesstaaten Alabama und Florida Alltagsszenen der ländlichen afroamerikanischer Kultur aufnahm. Hurston war keine ausgebildete Kameraperson. Ihre Aufnahmen sind alles andere als perfekt, aber sie zeigen weitaus mehr als das vermeintlich Abgebildete. Hurston entscheidet, welche Alltagsszenen in den Rahmen der Einstellungen gehören und welche nicht. Sie integriert unter anderem die Spiele der Kinder vor Ort. Genau diese spezifische Perspektive kann heute das Fenster zur Vergangenheit etwas erweitern. Einen Überblick zu dieser Filmarbeit von Hurston bietet: Scott Simon, "From Zora Neale Hurston Fieldwork Footage (1928),” in More Treasures from American Film Archives 1894-1931 (Program Notes), San Francisco: National Film Preservation Foundation, 2004, S. 160-63.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht.
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Weitere Inhalte

Dr. Brigitta Wagner ist deutsch-amerikanische Filmhistorikerin und Filmemacherin und lehrt an der MET Film School Berlin. Sie war Juniorprofessorin an der Indiana University mit dem Schwerpunkt deutsche Filmgeschichte. Als Filmvermittlerin arbeitet sie mit Schüler/-innen u.a. zum Erfahrungsraum Kino.