Sowohl für die Filmanalyse, als auch für die Medienkompetenz generell, ist es eine wichtige Fähigkeit, eine filmische Einstellung zu analysieren und diese in einer Szene oder Sequenz zu kontextualisieren. Im Alltag sind wir mit verschiedensten Bewegtbildern konfrontiert – zum Beispiel mit Bildern aus Spielfilmen und Dokumentarfilmen, aus der Werbung, den Nachrichten, YouTube oder Sozialen Netzwerken wie TikTok. Wir leben in einem global und digital vernetzten Zeitalter, in dem Menschen Zugang zu eigenen Smartphone-Kameras und zu Social-Media-Apps haben – oft auf dem gleichen Gerät.
Dieser weitverbreitete und schnelle Zugriff auf audiovisuelle Technologien hat eine immense Wirkung auf die kommunikativen Möglichkeiten unserer Zeit, er birgt Herausforderungen, aber auch große Chancen. Einerseits bieten soziale Medien vielfach Möglichkeiten des Missbrauchs, indem Falschinformationen verbreitet werden oder zu Hass und Gewalt mittels dieser Technologien aufgerufen wird. Andererseits nutzen viele Individuen, Filmemacher*innen und soziale Bewegungen diese technischen und medialen Möglichkeiten, um gesellschaftliche Missstände zu beobachten und sie zu kommentieren. Parallel zu dieser "Demokratisierung" des Filmemachens und der "Berichterstattung" von Individuen, produzieren auch Überwachungskameras zunehmend Bilder von Menschen und Ereignissen an öffentlichen Orten. Beispielhaft werden in diesem Beitrag der Dokumentarfilm "Les Sauteurs – Those who jump" (Abou Bakar Sidibé, Moritz Siebert, Estephan Wagner, DK 2016) und Handyvideos sowie Videomaterial von Überwachungskameras untersucht, die rassistische Übergriffe dokumentieren und für die Aufklärungsarbeit der US-amerikanischen "Black Lives Matter"-Bewegung bedeutsam sind. Sie stehen beispielhaft für das "politische Zeigen und politische Erzählen" von Rassismus und Ungleichheit.
Die Sichtbarkeit im Film
Film als Medium und als Technologie hat — im Gegensatz zu den Standbildern der Fotografie – eine bewegte Welt im Rahmen geschaffen. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass wir
Aber das, was wir für die sichtbar gemachte Vergangenheit halten, kann auch täuschen. Denn durch die gezielte Aufnahme und somit das Zeigen ausgewählter Bilder wurden bestimmte Menschen, Orte, oder kulturelle Praxen hervorgehoben, erhielten auf diese Weise überhaupt erst Bedeutung im audiovisuellen Gedächtnis – während andere ausgeschlossen, manche als exotisch und fremd porträtiert, andere als alltäglich dokumentiert wurden. Der Bedeutungs-Rahmen wurde dabei meist durch eine westlich und oftmals explizit weiß geprägte Perspektive vorgegeben.
Sichtbar machen: Die Montage im Film
Einstellungen, ob statisch oder bewegt, können bereits viel offenbaren – Verhältnisse zwischen Menschen, zwischen Menschen und Objekten oder räumlichen Umgebungen. Eine wichtige Entwicklung des Films ist die Montage. Durch sie können diese einzelnen Einstellungen nicht nur Szenen aufbauen, sondern auch wichtige konzeptuelle Kontraste einführen. In Dokumentarfilmen kann die Dramaturgie des Schnitts strukturelle Verhältnisse in der Welt sichtbar machen. Die Montage erlaubt Filmemacher*innen (audio-)visuell zu argumentieren. Die Reihenfolge der Auskunft lädt die Zuschauer*innen ein, das Gesehene zu deuten.
Der ko-kreierte Dokumentarfilm "Les Sauteurs – Those who jump" zeigt dies eindrücklich. Im Film nimmt der junge Malier Abou Bakar Sidibé Einstellungen aus seinem Leben auf. Er lebt an der marokkanischen Grenze und hat das Ziel, über den meterhohen Grenzzaun ins spanische Melilla zu gelangen. Die Filmemacher Moritz Siebert und Estephan Wagner binden diese intim erzählten Einstellungen aus Abous Ich-Perspektive in einen größeren Kontext ein. Durch den Kontrast zwischen Abous Leben im improvisierten Lager und dem entfernten Blick der Überwachungskameras führen Siebert und Wagner die Zuschauer*innen zu einer unbequemen Erkenntnis: Die Kameraperspektiven offenbaren eine gewisse Haltung und Wahrnehmung der Menschen. Während Abous Blick die menschliche Würde und Hoffnung der jungen Männer aus dem Lager zeigt, reduzieren die Bilder der Überwachungskameras sie auf kleine, kaum zu unterscheidende Punkte in einer nächtlichen Landschaft, zu vermeintlichen Eindringlingen, die illegal nach Europa gelangen wollen.
Im Visier der Überwachungskameras. Ein Filmstill aus "Les Sauteurs – Those who jump". (© Reservoir Docs Arsenal Institut für Film und Videokunst e.V.)
Im Visier der Überwachungskameras. Ein Filmstill aus "Les Sauteurs – Those who jump". (© Reservoir Docs Arsenal Institut für Film und Videokunst e.V.)
Durch diese kontrastierenden Kamera-Perspektiven zeigen Siebert und Wagner eine weitere Grenze auf: Jene, die entlang von Solidarität und Selbstbestimmung einerseits und der Entwürdigung und Objektivierung von Migrant*innen andererseits verläuft.
Sichtbarkeit im digitalen Zeitalter
Während die Filmpioniere Auguste und Louis Lumière die Filmkamera erst erfinden mussten und Filmtechnik noch lange Zeit bis in die 1960er-Jahre hinein sperrig und teuer war, sind Kameras mittlerweile kleine, leichte und erschwingliche Geräte. Eine Smartphone-Kamera passt in die Hosen- oder Jackentasche und ist immer griffbereit. Aber es ist nicht der leichte Zugriff auf die Videokamera und Schnittsoftware allein, der die (multi-)mediale Kultur ausmacht und schon Kinder und Jugendliche zu Medienproduzent*innen werden lässt. Sondern es sind auch die diversen digitalen Verbreitungswege und (sozialen) Plattformen, die es Nutzer*innen erlauben, eigene Fotos und Videos hochzuladen und die Fotos und Videos anderer zu verbreiten. Auf diese Art und Weise können Individuen Ereignisse in ihrer Umgebung festhalten und veröffentlichen und auch offizielle Strukturen der Filmproduktion umgehen.
Während mittels Montagetechniken einzelne Einstellungen in (Dokumentar-)Filmen eingebettet und durch Kontrast und Reihenfolge einzelner Szenen größere Bedeutungssegmente aufgebaut werden, sind Handyvideos von Amateur*innen meist unmittelbar und unmontiert. Sie werden oft ungeschnitten auf sozialen Plattformen hochgeladen, wobei die schnelle Verbreitung wichtiger ist als eine zeitaufwendige Postproduktion oder ein filmästhetischer Mehrwert. Einige dieser Videos erreichen in kürzester Zeit sehr viele Nutzer*innen und werden von diesen weitergeleitet oder kommentiert. Dies führt mitunter dazu, dass zum Beispiel Videos von gewaltsamen Übergriffen die Öffentlichkeit schneller über die Sozialen Medien erreichen als über traditionelle Nachrichtenkanäle. Denn diese sind an redaktionelle Abläufe, journalistische Standards und Nachrichtenwerte gebunden und müssen zunächst Quellen prüfen und Fakten checken, bevor sie Bildmaterial verbreiten. Die neue Unmittelbarkeit von Amateurvideos in den sozialen Medien kann auch gefährlich sein, da auf diese Weise falsche Informationen und manipulierte Bilder verbreitet werden können. Dennoch können diese unmittelbar verbreiteten Bilder und Videos dazu beitragen, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten überhaupt erst sichtbar werden zu lassen und auf sie aufmerksam zu machen.
Dies hat nicht zuletzt die US-amerikanische "Black Lives Matter"-Bewegung verdeutlicht. Anhand von mit Smartphones aufgenommenem Bildmaterial können rassistische Übergriffe nicht nur dokumentiert und analysiert werden, wie in den Fällen von Eric Garner, Philando Castile und George Floyd, sondern sie erreichen auch eine breitere Öffentlichkeit und können Diskussionen und Debatten um strukturellen Rassismus auslösen.
Eine Person filmt Trumane Lindsey und Pastor Jahvelle Rhone bei einem friedlichen Protest im Triangle Park anlässlich des Todes von George Floyd. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Luke Townsend)
Eine Person filmt Trumane Lindsey und Pastor Jahvelle Rhone bei einem friedlichen Protest im Triangle Park anlässlich des Todes von George Floyd. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Luke Townsend)
Diese Videos werfen dabei Fragen nach der enormen medialen Bedeutung von Zeitzeug*innen und Amateur-Dokumentarist*innen auf. Neue Technologien und Aufnahmetechniken befähigen ihre Nutzer*innen zur aktiven Mitgestaltung der Erzählungen und der Ereignisse unserer Zeit. Um dieses Potential erkennen, einordnen und nutzen zu können, bedarf es einer starken Medienkompetenz und einer guten Kenntnis dokumentarischer Ethik und der damit einhergehenden Verantwortung auch als Amateurfilmer*in. Die Auswahl des Bildes im gerahmten Blickfeld der filmischen Einstellung bestimmt, welche Sichtbarkeit Dinge und Vorfälle in unserer Gesellschaft erhalten und wie diese weitergegeben werden.