Die ersten Filme der Filmgeschichte sind knapp eine Minute lang und bestehen aus einer einzigen filmischen Einstellung. Das heißt, eine Filmaufnahme wurde weder geschnitten noch mit weiteren Einstellungen zu einem längeren Film montiert. Die etwa fünfzig Sekunden lange Einstellung, gefilmt an einem Schauplatz, in einer Situation und mit einer fixen Kamera – sie steht für sich und ist bereits ein ganzer Film ("Minutenfilm"). Der vorliegende Text und die Arbeitsblätter weisen Wege in eine Filmpädagogik, die von den kleinsten Einheiten des filmischen Erzählens und Zeigens ausgeht. Was können wir lernen aus den ersten Filmen der Kinogeschichte und aus der Betrachtung einer einzelnen Einstellung? Was zeigt eine Einstellung und was erzählt sie? Wie können Analyse und Vergleich sowie das Drehen von einzelnen Einstellungen in der Filmvermittlung produktiv eingesetzt werden?
Das Kino der Brüder Lumière
Vor 125 Jahren, am 28. Dezember 1895, präsentieren zwei Unternehmer aus Lyon, die Brüder Auguste und Louis Lumière, im Grand Café in Paris den Externer Link: Kinematographen: Zehn kurze Filme ("lebende Bilder") werden mithilfe dieses neuartigen Geräts, das Filmkamera, -projektor und -kopiermaschine in sich vereint, einem zahlenden Publikum vorgeführt. Diese Vorführung wird als Externer Link: Geburtsstunde des Kinos in die Geschichte eingehen; erstmals werden bewegte Bilder in der Gemeinschaft erlebbar und zugleich ökonomisch auswertbar.
In den 1890er-Jahren wurde in Frankreich, Deutschland und Amerika auf Hochtouren an der Erfindung von Filmaufzeichnungs- und -abspielgeräten gearbeitet. Am Externer Link: Kinetoskop von Thomas A. Edison, das bereits 1893 in Amerika öffentlich präsentiert wurde, konnte nur jeweils eine Person fotografierte Laufbilder in einem Guckkasten betrachten. Im Verlauf des Jahres 1895 kam es in Frankreich und Deutschland erstmals zu Filmprojektionen vor Publikum . Am 1. November 1895, kurz vor den Brüdern Lumière, führten die Brüder Max und Emil Skladanowsky im Berliner Varieté "Wintergarten" mit ihrem Bioskop Filme von Volks- und Serpentintänzen, artistischen Darbietungen und anderen Kuriositäten wie "Externer Link: Das boxende Känguruh" einem zahlenden Publikum vor. Das Externer Link: Bioskop der Skladanowskys war dem Kinematographen der Lumières jedoch technisch unterlegen. Ihr Bewegtbild-Verfahren war zu aufwendig; mit ihren sechs Metern Länge und rund dreißig Sekunden Dauer (bei langsamer Kurbelgeschwindigkeit) waren die Filme auch deutlich kürzer als die der Lumières. Der "Cinématographe Lumière", dessen Kameramagazin eine Rolle 35mm-Film mit rund 50 Sekunden Dauer fassen konnte, setzte sich schließlich auf dem Markt durch.
Das Externer Link: erste öffentliche Filmprogramm der Brüder Lumière im Pariser Grand Café lässt bereits die Vielfalt der Minutenfilme ebenso wie das ungeheure Talent der Brüder erkennbar werden, verschiedene filmische Sujets in unterhaltsamer Weise zu programmieren. Das Kino der Lumières ist ein Kino der Einstellungen, und das Kino der Einstellungen hat einen starken Zeigegestus. Das unterstreichen auch die Künstler*innen Antje Ehmann und Harun Farocki in ihrem der Einstellung gewidmeten Filmprojekt "Externer Link: Eine Einstellung zur Arbeit", mit dem sie an die Lumières anknüpfen: "Die frühen Filme sagten: jedes Detail der bewegten Welt ist es wert, festgehalten und betrachtet zu werden."
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Die zehn kurzen Filme, die am 28. Dezember 1895 im Grand-Café-Programm zu sehen sind, bestehen aus jeweils einer Einstellung. Sie zeigen neben Ansichten des täglichen Lebens ("views") und Szenen aus dem häuslichen Leben der Lumières (die ersten "Homemovies") auch Unterhaltungsszenen (die ersten Slapsticks). Die aus dem Alltag gegriffenen Einstellungen führen Motive von Arbeit, Freizeit und öffentlichem Raum vor, wie zum Beispiel die Arbeiter*innen beim Verlassen des Lumière-Werks für fotografische Platten ("La Sortie de l’Usine à Lyon") oder eine Straßenansicht ("La Place des Cordeliers à Lyon"). Die "Homemovies" der Familie Auguste Lumière zeigen das Baby beim Goldfischfang ("La Pêche aux poissons rouges") und beim Frühstück ("Le Repas de Bébé"). Dazwischen programmierten die Lumières unterhaltsame Slapsticks wie den begossenen Gärtner ("L’Arroseur arrosé") oder das Deckenspringen ("Le Saut à la Couverture"). Das Kino der Einstellungen ist, entgegen aller Klassifizierungsversuche, ein Kino, das noch keine Filmgattungen kennt; erst mit der Etablierung der Filmmontage konnten sich der Spielfilm und in der Folge der Dokumentarfilm als Gattung entwickeln .
Die Einstellung in der Filmpädagogik
Die besondere Qualität der ersten Filme der Kinogeschichte beschrieb Harun Farocki, der im Laufe seiner Karriere als Autor und Filmemacher immer wieder auf die Lumières zurückkommt, bereits um 1979 in einem unveröffentlichten Text eindrücklich: "die tatsache der filmaufnahme war eine sensation – die filme erzählten in erster linie davon, dass es möglich war zu filmen. die bilder sind uns heute kostbar, gerade weil sie nicht von rhetorik verstellt sind, weil es da keine bildsprache gibt, die sich in den vordergrund drängt und das sujet in den hintergrund schiebt. das sujet ist das alltägliche leben." Die einfache Form dieser frühen Filme – die zeitliche Begrenztheit auf knapp eine Minute, der feste Kamerastandpunkt sowie die unbewegte Kamera – macht sie auch für filmpädagogische Kontexte wertvoll: einerseits, um an ihnen den Blick zu schulen, andererseits, um nach den Spielregeln der Lumières selbst Einstellungen zu drehen.
Der französische Filmvermittler Alain Bergala hat wie kaum ein anderer das Potenzial der Einstellung für die Filmvermittlung erschlossen. Mit seiner filmvermittelnden Serie Externer Link: "Le Cinéma, une histoire de plans" (Das Kino, eine Geschichte der Einstellungen) hat Bergala 1998 zwölf exemplarische Analysen sowohl von drei Lumière-Filmen vorgelegt als auch von einzelnen Filmeinstellungen, die er dem Zusammenhang längerer Autorenfilme entnommen hat . In seinem Essay "L’hypothèse cinéma" plädiert Bergala dafür, "sich dem Kino von der Einstellung her anzunähern, da sie [...] in ihrer Zeitlichkeit, ihrem Werden, ihrem Rhythmus die kleinste lebendige Zelle, ein relativ autonomer Bestandteil des großen Körpers Kino ist." Die Einstellung, mit der die Filmgeschichte ihren Anfang genommen hat, ist – so ließe sich ergänzen – auch die kleinste Einheit des filmischen Erzählens und Zeigens .
Stefanie Schlüter ist ausgebildete Gymnasiallehrerin für Philosophie und Deutsch und arbeitet als Filmvermittlerin. Sie ist Mitglied der Gruppe "Arsenal Filmatelier", die Filmreihen für Kinder und Filmworkshops an Schulen anbietet. Zudem publiziert sie zu Experimental- und Künstler/-innen-Filmen.
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