In deutscher Gesellschaft – Filmauswahl
Eine kommentierte Übersicht
Tilman BaumgärtelTobias Hering
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Die von den Filmexperten Tilman Baumgärtel und Tobias Hering kuratierte Retrospektive präsentiert noch nie oder nur selten gezeigte Filme ausländischer Filmemacher*innen.
Sinong Lumikha ng Yoyo? Sinong Lumikha ng Moon Buggy? Who Invented the Yo-Yo? Who invented the Moon Buggy? PH/BRD 1978/1982, R, B: Kidlat Tahimik, 94’ · DCP, OF mit jap. UT Nach seinem Debütfilm The Perfumed Nightmare (1977), der mit großem Erfolg in Deutschland in Programm- und Alternativkinos lief, drehte der philippinische Filmemacher Kidlat Tahimik seinen zweiten Film größtenteils in seinem damaligen bayerischen Lebensumfeld. Wegen Tahimiks Rückkehr in die Philippinen hatte der Film in Deutschland jedoch keine Premiere und wird bis heute selten gezeigt. Dabei ist der “Yoyo-Film“ der post-kolonialen Essaykomödie The Perfumed Nightmare in fast jeder Hinsicht ebenbürtig: Abermals blickt Kidlat Tahimik mit freundlich-amüsiertem Blick auf die Welt um sich und macht sich seinen ganz eigenen Reim auf das, was er sieht. Abermals will der Filipino in Lederhosen auf den Mond reisen und bastelt erstens ein mit “Zwiebelsaft“ betriebenes Raumschiff aus Schrott und zweitens einen virtuos montierten Film voll Witz und Geist, der endlich den philippinischen Beitrag zum Weltraumflug ins rechte Licht rückt. (tb)
Videoschnipselabend mit Cem Kaya Der deutsch-türkische Filmemacher Cem Kaya zeigt Ausschnitte aus türkischen Unterhaltungsfilmen, die in Deutschland spielen, wenn sie auch nicht notwendigerweise dort gedreht wurden. Das türkische Yeşilçam Kino hat die Arbeitsimmigration nach Deutschland immer wieder thematisiert – mal in Komödien über kulturelle Missverständnisse und Kulturschocks, mal in Melodramen, die die menschlichen Kosten dieser Entwicklung thematisieren. Cem Kaya hat in seinem Film Remake Remix Rip-Off (2014) die türkische Filmindustrie der 1960er und 1970er Jahre porträtiert und in Arabeks (2010) der populären türkischen Popmusik der 1980er Jahre ein Denkmal gesetzt. Außerdem ist er ein Sammler türkischer Filme, die auf VHS-Kassetten nach Deutschland kamen und vor dem Aufkommen von Satellitenschüsseln und Internet-Streaming für türkische Emigranten ein wichtiger Kontaktpunkt in die alte Heimat waren. Für seinen Vortrag mit Filmausschnitten öffnet er sein Archiv. (tb)
Blues People BRD 1968, R: Skip Norman, D: Callen Maden, Li Antes, 18' · 16mm, engl. OF They call it love BRD 1970, R: King Ampaw, D: William Donald Powell, 72' · 16mm, dt. OF
Der US-Amerikaner Skip Norman gehörte zum ersten Studienjahrgang an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb). Seine dort entstandenen Filme greifen Themen der Black Power-Bewegung und des Panafrikanismus auf und handeln auch von seinen eigenen Diaspora-Erfahrungen. Blues People ist eine gestische Choreographie über Rassismus und Begehren, inspiriert von dem Theaterstück Dutchman von LeRoi Jones (später Amiri Baraka). Der Ghanaer King Ampaw gehörte zum ersten Studienjahrgang an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Sein Abschlussfilm They call it love dürfte der erste von einem afrikanischen Filmemacher in Deutschland realisierte Langfilm sein. Im Mittelpunkt steht ein ehemaliger GI, der sich als Bluesmusiker in einer Münchener Hotelbar verdingt. In lakonischen Bildern voll verhaltenem Zorn beschreibt Ampaw eine gefühlskalte Post-68-Bohème, die sich durch den Konsum “schwarzer Musik“ zu erwärmen versucht. King Ampaw wurde als Produzent und Regisseur zu einer wichtigen Figur im afrikanischen Kino und hat auch mehrfach mit Werner Herzog zusammengearbeitet. (th)
Die junge Turna wird von ihrem Mann Dursun, einem “Gastarbeiter“ der ersten Generation, aus einem Dorf in der Türkei nach Hamburg geholt. Dort wird sie von ihrem konservativen Ehemann in einer kleinen Wohnung in einem heruntergekommenen Altbau eingesperrt. Ihr einziger Kontakt zur Außenwelt sind die Fenster der Wohnung, durch die sie ihre neue Heimat beobachtet. Ein düsteres Kammerspiel nimmt seinen Lauf, als sich Turna immer weiter in ein Paralleluniversum aus Träumen und Erinnerungen verliert. Erst als ihr Mann unversehens stirbt, öffnet sich für sie der Weg in ein Land, von dem sie kaum etwas weiß und dessen Sprache sie nicht spricht. 40 qm Deutschland gilt als erster abendfüllender Kinofilm eines deutschen Regisseurs türkischer Herkunft. Regisseur Tevfik Başer hat den mit einem geringen Budget gedrehten Film auch produziert. Er lief unter anderem bei den Festivals in Rotterdam, Cannes und Locarno, wo er mit dem “Silbernen Leoparden“ ausgezeichnet wurde. (tb)
Lottando la vita – Lavoratori italiani a Berlino IT/BRD 1975, R: Videobase (Anna Lajolo, Alfredo Leonardi, Guido Lombardi), 99 ' · Digital SD, OmeU
Während eines DAAD-Aufenthalts in West-Berlin produzierte das römische Videokollektiv Videobase ein in seiner Komplexität wohl einzigartiges Dokument über das Leben italienischer “Gastarbeiter*innen“ in der Stadt, das auch viel über die Sozial- und Solidaritätsstrukturen erzählt, die Berlin seit jeher seinen “Gästen“ zu verdanken hat. Drehorte sind Arbeiterwohnheime, Pizzerien, Billardkneipen, Kitas, Fußgängerzonen, die Straße. Lottando la vita zeigt Menschen verschiedener Generationen, die sehr unterschiedlich mit Erfahrungen von Ausgrenzung und Deklassierung umgehen. Während sich einige voll auf die privatwirtschaftliche Logik des Arbeitsmarkts einlassen, betreiben andere die Gründung eines “Casa di Cultura Popolare“, das den kollektiven Umgang mit sozialen Konflikten ermöglichen soll. Die Antagonismen werden leidenschaftlich, mit Humor und Lebenskenntnis ausgefochten und Videobase stellen ihr Medium in den Dienst dieser allmählichen Bewusstwerdung. (th)
Polizei BRD/TR 1988, R: Şerif Gören, B: Hüseyin Kuzu, K: Erdal Kahraman, Timur Selçuk, D: Kemal Sunal, Babett Jutte, İsmet Ergün, Nuri Sezer, 88‘ · Digital SD, DF
Der beliebte türkische Filmkomiker Kemal Sunal spielt in dieser Komödie einen Straßenkehrer in Berlin, der als Komparse in einer Theaterinszenierung eine Polizeiuniform erhält. Wie einst der Hauptmann von Köpenick nutzt er die Autorität, die ihm die Uniform im Alltag verleiht. Der Film, der von einer türkischen Crew mit Hilfe von einer Reihe von Deutschtürken in einem sommerlichen Kreuzberg unmittelbar vor dem Fall der Mauer gedreht wurde, findet seine Komik nicht nur in deutschen Eigentümlichkeiten, sondern karikiert auch Eigenschaften, die den türkischen Arbeitsmigranten in Berlin attestiert wurden: mangelnde Solidarität, Obrigkeitshörigkeit, Vetternwirtschaft. In der Türkei, wo Migrationsfilme zu dieser Zeit schon fast ein eigenes Genre waren, lief der Film sehr erfolgreich im Kino. Gezeigt wird die deutsche Fassung, die acht Jahre später im ZDF lief und um knapp zehn Minuten gekürzt wurde. (tb)
Machorka-Muff BRD 1962 R: Jean-Marie Straub, Danièle Huillet, B: Jean-Marie Straub, Danièle Huillet nach der Novelle “Hauptstädtisches Journal“ von Heinrich Böll, K: Wendelin Sachtler, Hans Christopher Brüning, D: Erich Kuby, Renate Langsdorff, Gino Cardella, Julius Wikidal, 18‘ · 35mm
Erinnerung im Herzen DDR 1965, R: Stefan Jerzy Zweig, ohne Dialoge, 8' · DCP, restaurierte Fassung Die langen Ferien der Lotte H. Eisner BRD 1979, R/B: Sohrab Shahid Saless, K: Ramin Reza Molai, 60’ · Blu-ray Die drei Filme des Programms verbindet das Bewusstsein von den langen Schatten der NS-Zeit. Vor dem Hintergrund der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik erzählt Machorka-Muff, der erste Film des französischen Kriegsdienstverweigerers Jean-Marie Straub und seiner Partnerin Danièle Huillet, von einem früheren Wehrmachtsgeneral (gespielt von Erich Kuby), der mit Hilfe alter Seilschaften die Gründung einer “Akademie für militärische Erinnerung“ betreibt. Als Stefan Jerzy Zweig Mitte der 1960er Jahre ein Kamerastudium an der staatlichen Filmhochschule der DDR in Babelsberg begann, war seine eigene Geschichte bereits verfilmt worden: Zweig war das von Mithäftlingen im Konzentrationslager Buchenwald gerettete “Buchenwald-Kind“ in Bruno Apitz' Roman Nackt unter Wölfen, den Frank Beyer 1963 für die DEFA verfilmte. Zweigs Studentenfilm Erinnerung im Herzen begleitet Robert Siewert, einen ehemaligen KZ-Häftling, während einer Gedenkveranstaltung zum 20. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds. Wir zeigen die digital restaurierte Fassung, die auch Teil der bei absolut Medien erscheinenden DVD-Edition Babelsberger Freiheiten. Filme der Hochschule für Film und Fernsehen “Konrad Wolf“ 1957–1990 ist. Kaum jemand hat die westdeutsche Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre so schonungslos analysiert wie der Iraner Sohrab Shahid Saless. Die langen Ferien der Lotte H. Eisner ist das Protokoll einer Begegnung zweier Exilant*innen, die nicht nur die Liebe zum Kino, sondern auch eine innige Hassliebe zu Deutschland verbindet. (th)
Concerto pour un exil CI/FR 1969, R: Désiré Niamkey Écaré, K: Toussaint Bruschini, Tristan Burgess, D: Hervé Denis, Assaf, La Kotta, Sékou Camara, Claudie Chazel, 32‘ · DCP, OmeU Europa, mein Traum BRD 1982, R/B: Masseye Niang, K: Wolfgang Dickmann, Rainer Lanuschny, D: Abdoulaye N´Dongo, Sonja Tuchmann, Barbara Marcus, Cornelia Bayr, Edi Bierling, Babou Faye, Rama Thiam, Fatou Lam, 71' · Digital SD Obwohl sein Debütfilm Concerto pour un exil in Cannes und Oberhausen reüssierte, hinterließ der Ivorer Désiré Niamkey Écaré bei seinem Tod 2008 ein schmales Œuvre von nur drei Filmen. Sein von der Nouvelle Vague beeinflusster Erstling erzählt mit Witz und Selbstironie von Leben, Lieben und Streiten einer Gruppe afrikanischer Student*innen in Paris. Eine Generation später erzählt der Senegalese Masseye Niang in der ZDF-Produktion Europa, mein Traum eine ähnliche Geschichte in München. In einem Prolog wird gezeigt, wie Abdou in der Schule das erste Mal von Deutschland hört, das Land, gegen das sein “Mutterland“ Frankreich einmal im Krieg stand. Der Lehrer spielt ihnen Beethoven vor. Bei Abdou macht etwas ‚klick' und wir sehen ihn zehn Jahre später als angehenden Biologie-Studenten in München ankommen. Der Film handelt von seinem Leben dort, von Missverständnissen, Freundschaften und Abdous mühsamen Kampf gegen das rückständige Bild von Afrika, das damals wie heute die Köpfe dominiert. (th)
Oktjabr Oktober MR/FR/RU 1993, R/B: Abderrahmane Sissako, K: Georgi Rerberg, D: Irina Apeksimowa, Wilson Buyaya, 36' · 35mm, OmeU Ich, deine Mutter Man sa yay BRD/SN 1980, R/B: Safi Faye, K: Patrick Fabry, Papa Moctar Ndoye, D: Moussa J. Sarr, Yay Sokhna, Yvonne Nafi, 59‘ · Digital SD, DF
Abderrahmane Sissako gehörte Mitte der 1980er Jahre zur letzten Generation afrikanischer Filmemacher*innen, die in der Sowjetunion ausgebildet wurden. Als er im Winter 1991/92 in Moskau Oktober drehte, war sein Gastland bereits in Auflösung begriffen. Fast wortlos und in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten erzählt Oktober vom Scheitern der Liebe zwischen dem afrikanischen Studenten Idrissa und seiner russischen Freundin Ira. Die Senegalesin Safi Faye ist in der Arbeit mit Jean Rouch zum Filmemachen gekommen. Nach einem Ethnologie-Studium in Paris behandelten ihre ersten Filme das Leben bäuerlicher Gemeinschaften im Senegal. 1979 kam Faye für einen Video-Workshop an die Freie Universität Berlin und blieb anschließend mit einem DAAD-Stipendium in der Stadt. In dieser Zeit entstand der vom ZDF produzierte Spielfilm Man sa yay, der das Leben eines senegalesischen Studenten in Berlin schildert. Die regelmäßigen Briefe seiner Mutter lindern seine Entfremdung nur oberflächlich, denn sie konfrontieren ihn auch mit Erwartungen seiner Familie in Senegal, die er kaum wird erfüllen können. (th)
Otobüs TR/SW/CH 1975, R/B: Tunç Okan, K: Günes Karabuda, M: Pierre Favre, Leon Francioli, Zülfü Livaneli, D: Tunç Okan, Tuncel Kurtiz, Björn Gedda, Aras Ören, 84‘ · Blu-ray, OmeU
Ein Schleuser fährt eine Gruppe von illegalen Arbeitsmigranten im titelgebenden Autobus aus der Türkei nach Stockholm und lässt sie mitten in der Innenstadt ohne Geld und ohne Pässe sitzen. Während der Schleuser in Hamburg auf der Reeperbahn mit Prostituierten seinen Lohn verprasst, warten seine Passagiere geduldig auf seine Rückkehr. Der Hunger zwingt sie schließlich, den Bus zu verlassen. Was als Komödie beginnt, führt zu immer schrecklicheren und schließlich komplett surrealen Begegnungen mit dem ihnen unbekannten Land. Die Odyssee der türkischen Arbeiter endet mit geplatzten Träumen und dem Verlust aller Mittel. Regisseur Tunç Okan arbeitet hauptberuflich als Kieferchirurg und hat die meisten seiner Filme selbst produziert und finanziert. Sein düsterer, tragikomischer Road Movie Mercedes Mon Amour (1992) handelt von der Arbeitsmigration aus der Türkei nach Deutschland. Einen der Migranten in Otobüs spielt Aras Ören, der Autor von Frau Kutzer und andere Bewohner der Naunynstraße, der ebenfalls in der Programmreihe zu sehen ist. (tb)
Frau Kutzer und andere Bewohner der Naunynstraße BRD 1973, R: Friedrich Zimmermann / Berliner Werkstatt, B: Aras Ören, K: Horst Kandeler, D: Dorothea Tiess, Claus Gärtner, Peter Kock, Tuncel Kurtiz, Renate Koehler, Krikor Melikyan, Güner Yüreklik, 55‘ · Digital SD Soliloque 2 – La Barbarie entstand bei einer Erstbegegnung mit West-Berlin, einer eingemauerten Stadt, die Véronique Goël als eine weltferne Insel des Vergessens erlebt hat. Die Schweizer Filmemacherin verbindet eine Serie langer Travelling Shots mit Textfragmenten, die zwischen weltpolitischen Themen und persönlichen Reminiszenzen einer Briefschreiberin oszillieren. In Inventur Metzstraße11 treten die Bewohner eines Münchener Mietshauses der Reihe nach vor die Kamera und stellen sich und ihre Lebensumstände kurz vor. Die karge Situationskomik ist typisch für die Kurzdokumentationen von Želimir Žilnik, der zu den bekanntesten Exponenten der jugoslawischen “schwarzen Welle“ gehörte und Mitte der 1970er Jahre für zwei Jahre in der Bundesrepublik lebte. 1973 veröffentlichte der aus der Türkei nach Deutschland ausgewanderte Schriftsteller Aras Ören im Rotbuch Verlag das Prosagedicht Was will Niyazi in der Naunynstraße?, das als Beginn der Brückenliteratur gilt, die die Migrationserfahrung der türkischen “Gastarbeiter*innen“ literarisch verarbeitete. Frau Kutzer und andere Bewohner der Naunynstraße kombiniert Passagen aus Örens Gedicht mit Erinnerungen einer älteren Berlinerin und Dokumentaraufnahmen aus einem Kreuzberg, das zu dieser Zeit systematisch vernachlässigt wurde, um eine Kahlschlagsanierung vorzubereiten, die zum Glück nie stattgefunden hat. (tb/th)
Frauen in Berlin DDR 1982, R: Chetna Vora, K: Thomas Plenert, 139' · Digital SD
In langen, kaum geschnittenen Einstellungen sprechen Frauen über ihr Leben. Alle Gespräche sind in Innenräumen gedreht und zeugen von Vertrauen und großer Offenheit. Es geht um die Arbeit, die Beziehung, was vom Tage bleibt, um das Familiäre, das selbstverständlich politisch ist. Zum roten Faden der Gespräche wird das Verhältnis von Wunsch und Wirklichkeit und womöglich die Ahnung, dass eine dauerhaft glückliche Beziehung mit einem Mann ebenso unwahrscheinlich ist, wie eine glückliche Zukunft des Arbeiter- und Bauernstaats. Chetna Vora kam 1976 zum Regiestudium an die HFF in Babelsberg. Frauen in Berlin wäre ihr erster Langfilm geworden, die Produktion wurde jedoch vor Fertigstellung von der HFF abgebrochen und das Negativmaterial größtenteils vernichtet. Geblieben ist eine zuvor heimlich auf Video abgefilmte Rohfassung, die gerade in dieser Form zu einem unschätzbar aufrichtigen Dokument geworden ist. Chetna Vora zog 1983 mit ihrem Lebenspartner, dem Filmemacher Lars Barthel, und der gemeinsamen Tochter nach Indien. Sie starb 1987. (th)
Ekkehard Schall DDR 1965, R: Ahmed Rohmi, K: Klaus-R. Schulz, 22' · Digital SD Deutschland – Endstation Ost DDR 1964, R: Frans Buyens, K: Hans-Eberhard Leupold, 84' · 35mm Der belgische Dokumentarfilmer Frans Buyens interviewte Passanten in Ost-Berlin und Dresden, Fabrikarbeiterinnen und Technische Zeichnerinnen der Warnow-Werft in Rostock, Kleinunternehmer in Karl-Marx-Stadt, LPG-Bauern auf dem Lande, ausländische Studenten am Gottfried-Herder-Institut in Leipzig und Industriearbeiter in Magdeburg und Eisenhüttenstadt. Kurz nach dem Bau der Mauer dokumentierte Deutschland – Endstation Ost Zustimmung, Ablehnung, auch Ängste der Befragten. Anfänglich von der SED-Führung gefördert, geriet die Produktion ins Ränkespiel im Vorfeld des so genannten “Kahlschlag“-Plenums 1965. Nur mit Mühe gelang es Buyens noch, den Film am Rande der Leipziger Dokumentarfilmwoche zu zeigen. Danach fiel er bis zum Ende der DDR dem Vergessen anheim. Etwa zur selben Zeit drehte der Jordanier Ahmed Rohmi, ein Regiestudent an der HFF Babelsberg, mehrere Kurzdokumentationen am Berliner Ensemble, darunter ein Portrait des Schauspielers Ekkehard Schall während der Proben zu Brechts Coriolan in der Regie von Manfred Wekwerth und Joachim Tenscher. (tb/th) Dank an das Deutsche Rundfunkarchiv, Berliner Ensemble, den Suhrkamp Verlag und das Bundesarchiv-Filmarchiv.
Begegnung mit Berlin DDR 1965, R/B/K: Charles Owúsú, 5‘ · Digital SD, stumm This side of paradise US/BRD 1989/1991, R/B/K: Ernie Gehr, 14’ · 16mm, OF Former East / Former West US/BRD 1994, R/B/K: Shelly Silver, 62‘ · Digital SD, OmeU Zwei Momentaufnahmen aus dem geteilten Berlin und eine Passantenbefragung zwei Jahre nach dem Mauerfall. Begegnung mit Berlin ist eine verspielte Kameraübung des Ghanaers Charles Owúsú, der an der HFF Babelsberg studiert hat. – Der US-amerikanische Experimentalfilmer Ernie Gehr war Ende der 1980er Jahre als DAAD-Stipendiat nach West-Berlin gekommen. In This side of paradise hält er wenige Tage vor dem Mauerfall auf dem sogenannten “Polenmarkt“ am Potsdamer Platz eine “ängstliche Feststimmung“ (Gehr) fest und auf der Tonspur wie ein Mantra schon das Codewort der Wiedervereinigung: “Eine Mark!“. – Ebenfalls mit einem DAAD-Stipendium kam 1991 Shelly Silver nach Berlin. Sie begab sich mit Kamera und Mikrofon auf die Straße und befragte Hunderte Passanten nach ihren persönlichen Meinungen über die Schlagworte der Zeit: Heimat, Sozialismus, Begrüßungsgeld etc. Es entstand das offenherzige, verstörende Portrait einer Stadt, die noch lange nicht geeint war. (th)
Afrika am Rhein BRD 1985, R/B: Pape Badara Seck, K: Bernd Mosblech, D: Oumar Diop (aka Gilbert Diop), Ronald Mkwanazi, Sabine Kückelmann, Hanns Zischler, 108’ · DigiBeta
1984 entstand in Köln unter der Regie von Pape B. Seck die WDR-Produktion Afrika am Rhein. Darin kommt Goór Diop nach Köln, um eine Maske zurück zu verlangen, die er einst einer deutschen Touristin in Senegal verkaufte. Seine klandestine, aber insistierende Anwesenheit wirkt wie ein Kontrastmittel, durch das die steinerne Domstadt wie eine Festung erscheint. Afrika am Rhein entstand nach einer Vermittlung durch Volker Schlöndorff, der Pape Seck in Paris kennengelernt hatte, wo dieser Filmregie studierte. Secks in jeder Hinsicht originellem Langfilmdebüt folgte in Deutschland keine weitere Produktion. Die Hauptdarsteller des Films konnten hier jedoch Fuß fassen. Gilbert Diop wurde als Musiker und Griot zu einer Kultfigur der Berliner Weltmusikszene. Ronald Mkwanazi spielte in Lars Beckers Kalte Sonne (1988) und wurde einem breiten Publikum bekannt, als er von April 1991 bis Februar 1992 in der TV-Serie Die Lindenstraße den südafrikanischen Studenten David Motibe verkörperte, eine Figur, die er auch selber entwickelt hatte. (th)
Wechselbalg BRD 1987, R: Sohrab Shahid Saless, B: Jürgen Breest, nach seinem Roman, K: Michael Faust, M: Wolfgang Heinze, D: Friederike Brüheim, Henning Gissel, Katharina Baccarelli, Erika Wackernagel, Helga Jeske, 135’ · Blu-ray
Der iranische Regisseur Sohrab Shahid Saless wanderte nach dem Erfolg seines Films Tabiate Bijan (Stilleben) 1974 bei der Berlinale (ausgezeichnet mit dem “Silbernen Bären“) als Gegner des Schahs nach Deutschland aus. Zwischen 1975 und 1990 drehte er hier einen Großteil seines Werkes. 1985 inszenierte Saless im Auftrag des Saarländischen Rundfunks diesen Film über eine Adoption, der auf einer Romanvorlage von Jürgen Breest basiert. “Friederike Brüheim zeigt so viel ‚Innenleben’, dass die Gefahr, die Figur könnte ins Monströse abrutschen, nie gegeben ist. Geschrieben steht das ‚Innenleben’ nicht im Drehbuch. Es entsteht aus Bildern, aus Blicken, aus einem verzögerten Schritt, einer plötzlichen Drehung des Kopfes, einer verlorenen Handbewegung. Saless hat recht: Film ist Prosa mit anderen Mitteln.” (Jürgen Breest). (tb)
Vier Filme von Irena Vrkljan Widmung für ein Haus BRD 1966, R: Irena Vrkljan, 5' · Digital SD Berlin unverkäuflich BRD 1967, R: Irena Vrkljan, 15' · 16mm Farocki dreht BRD 1967, R: Irena Vrkljan, 14' · Digital SD Berlin BRD 1969, R: Irena Vrkljan, 33' · 16mm Als Irena Vrkljan 1966 ein Regiestudium an der neu gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin (dffb) begann, war die damals 35-jährige in Jugoslawien bereits eine viel gelesene Lyrikerin. Ihr selbstgewähltes Leben zwischen Zagreb und Berlin, “zwischen Süd und West“ (Vrkljan), wurde später Gegenstand mehrerer autobiografischer Romane. Die vier Filme, die Vrkljan in Berlin drehte, sind Ortserkundungen einer Rutengängerin, Geschichten vom “Schattenberlin“ (so der Titel eines 1990 erschienenen Romans), aber auch kritische Positionierungen zur politisch bewegten dffb-Generation, der sie angehörte. Widmung an ein Haus ist eine filmische Hommage an das legendäre “Haus Vaterland“ am Potsdamer Platz, dessen Ruine damals im Niemandsland zwischen West- und Ost-Berlin stand. Berlin unverkäuflich verbindet Aufnahmen von Randorten im nördlichen Charlottenburg mit einem Text von Benno Meyer-Wehlack, der den Bildern eine Geschichte einschreibt, die schon kaum mehr zu sehen ist. Farocki dreht zeigt den Kommilitonen Harun Farocki bei den Dreharbeiten zu Der Wahlhelfer. Vrkljans Diplomfilm, Berlin, geht abermals an die soziale und bauliche Peripherie, um die Stadt an die Ruinen zu erinnern, auf denen sie sich ihre Zukunft baut. (th)
Tilman Baumgärtel ist Autor, Medienwissenschaftler und Journalist. Seit 2015 ist er Professor für Medientheorie im Fachbereich Gestaltung an der Hochschule Mainz. Er ist Kurator der Filmreihe In deutscher Gesellschaft - Passagen-Werke ausländischer Filmemacher*innen 1962-1992.
Tobias Hering kuratiert Film- und Videoprogramme und arbeitet als unabhängiger (Film-)Publizist. Er ist Kurator der Filmreihe In deutscher Gesellschaft - Passagen-Werke ausländischer Filmemacher*innen 1962-1992.
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