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Berlin – Ecke Schönhauser | Klassiker sehen – Filme verstehen | bpb.de

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Berlin – Ecke Schönhauser

Dr. Martin Ganguly

/ 8 Minuten zu lesen

Eine Gruppe von Ostberliner Halbstarken, darunter Dieter, "Kohle", Karl-Heinz und Angela, treffen sich regelmäßig unter der U-Bahnbrücke an der Schönhauser Allee im Stadtteil Prenzlauer Berg. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen mit Erwachsenen oder der Volkspolizei, ohne dass eine der beiden Seiten die Ursachen dieser Protesthaltung reflektiert.

Plakat zu Berlin – Ecke Schönhauser (© DEFA-Stiftung)

1957

Produktionsland: DDR
Regie: Gerhard Klein
Laufzeit: 81 Minuten
ALtersfreigabe: FSK: 12

"Warum kann ich nicht leben, wie ich will? Warum habt ihr lauter fertige Vorschriften?

Wenn ich an der Ecke steh, bin ich halbstark, wenn ich Boogie tanze, bin ich amerikanisch. Und wenn ich das Hemd über der Hose trage, ist es politisch falsch."

Darsteller/innen

Dieter: Ekkehard Schall
Angela: Ilse Pagé
Karl-Heinz: Harry Engel
Kohle: Ernst-Georg Schwill
Angelas Mutter: Helga Göring
VP-Kommissar: Raimund Schelcher
Bruder von Dieter: Manfred Borges

Inhalt

Eine Gruppe von Ostberliner Halbstarken, darunter Dieter, "Kohle", Karl-Heinz und Angela, treffen sich regelmäßig unter der U-Bahnbrücke an der Schönhauser Allee im Stadtteil Prenzlauer Berg. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen mit Erwachsenen oder der Volkspolizei, ohne dass eine der beiden Seiten die Ursachen dieser Protesthaltung reflektiert.

Für "Kohles" ständig betrunkenen Stiefvater sind Schläge das einzige Erziehungsmittel (© DEFA-Stiftung Siegmar Holstein, Hannes Schneider)

Dieter, der zusammen mit seinem Bruder, einem Volkspolizisten lebt, hat zwar bereits Arbeit, will jedoch seine Freiheit ausleben und kommt deswegen mit den Erwachsenen nicht klar. Für "Kohles" ständig betrunkenen Stiefvater sind Schläge das einzige Erziehungsmittel und Angela stört mit Ihrer Anwesenheit zuhause ihre verwitwete Mutter bei dem Versuch sich eine neue Beziehung mit einem verheirateten Kollegen aufzubauen.

Karl-Heinz, der die höhere Schule abgebrochen hat, wird zuhause zwar verhätschelt, aber ebenfalls nicht mit seinen Sorgen und Bedürfnissen wahrgenommen. Aus Frustration, und um von zuhause loszukommen, versucht er im Westsektor mit gestohlenen DDR-Pässen illegal zu Geld zu kommen. Dieter und "Kohle" werden ohne wirklich Anteil daran zu haben in seines kriminelle Geschäfte verstrickt. Nach einer Auseinandersetzung mit Karl-Heinz fliehen die beiden in Panik vor der Volkspolizei in den Westteil Berlins. Als "Kohle" durch Verkettung unglücklicher Umstände im Auffanglager stirbt, kehrt Dieter dem nun gar nicht mehr so erstrebenswert erscheinenden "goldenen Westen" den Rücken und geht in den Ostsektor zurück. Er versteht nun, dass die Ursache für seine Unzufriedenheit nicht im Staat, sondern an ihm selbst liegt. Am meisten freut er sich auf Angela, die ein Kind von ihm erwartet.

Hintergrund

Berlin – Ecke Schönhauser stellt eine der wichtigsten Ausnahmeerscheinungen des DEFA-Filmschaffens der 1950er-Jahre dar. Nach dem Tod Stalins im März 1953 und der Einleitung des kurzen kulturpolitischen "Tauwetters" unter Nikita Chruschtschow hatte die sowjetische Kinematografie wieder zu einer eigenständigen Sprache gefunden. Michail Kalatosows Antikriegsfilm Letyat zhuravli (Die Kraniche ziehen, UDSSR 1957, R: Michail Kalatosow) fungierte als Initialzündung eines von Demagogie befreiten Kinos, das wieder den einzelnen Menschen mit seinen Nöten und Sehnsüchten in den Mittelpunkt rückte. Wie in den anderen sozialistischen "Bruderstaaten" auch, fiel diese Neuausrichtung in der DDR auf fruchtbaren Boden.

Erstmals konnten hier künstlerische Positionen vertreten werden, die zuvor noch der Zensur zum Opfer gefallen wären. Gerhard Kleins Film bekennt sich ganz offen zum Instrumentarium des Neorealismus, der in Italien seit Mitte der 1940er-Jahre mit Filmen von Luchino Visconti, Vittorio de Sica oder Roberto Rossellini Triumphe gefeiert und die internationale Filmsprache erneuert hatte. Wie seine italienischen Kollegen dreht Klein nicht länger in der aseptischen Atmosphäre hochwertig ausgestatteter Studios, sondern begibt sich mitten in das Leben seiner Zeitgenossen.

Angela stört mit Ihrer Anwesenheit zuhause ihre verwitwete Mutter bei dem Versuch sich eine neue Beziehung mit einem verheirateten Kollegen aufzubauen. (© PROGRESS Film-Verleih)

Berlin – Ecke Schönhauser ist trotz vieler kritischer Gesellschaftsbetrachtungen kein umstürzlerischer Film; er bewegt sich durchweg im staatspolitischen Kanon und bedient bewährte Ost-West-Gut-Schlecht-Schemata. Doch wie keine andere filmische Arbeit jener Zeit reizt er die vorhandenen Spielräume aus.

Er wirbt vehement um Verständnis für jene jungen Menschen, die in zahlreichen anderen Publikationen und Filmen als untypisch für das sozialistische Gemeinwesen klassifiziert werden. Nur selten wurde ein derart differenziertes Jugendbild in der DDR zugelassen. Die Vorläufer, die zu Berlin – Ecke Schönhauser inspiriert haben, waren Rebel Without a Cause – Denn sie wissen nicht, was sie tun und Die Halbstarken (BRD 1956, R: Georg Tressler). (vgl.: Parallelwelt: Film. Ein Einblick in die DEFA, Begleitmaterialien zu den DVDs, bpb, Berlin 2006, S. 19ff.)

Berlin – Ecke Schönhauser wurde von Filmhistorikern und -journalisten im Verbund Deutscher Kinematheken als einer der 100 wichtigsten deutschen Filme gewählt. (Quelle: Externer Link: http://www.filmportal.de/thema/die-wichtigsten-deutschen-filme-chronologische-uebersicht)

Drehbuch und Regie

Gerhard Klein (© DEFA-Stiftung)

Berlin – Ecke Schönhauser (DDR 1957, R: Gerhard Klein) ist der dritte gemeinsame Film von Gerhard Klein und Wolfgang Kohlhaase. Die beiden davor entstandenen Filme Alarm im Zirkus (DDR 1954, R: Gerhard Klein) und Eine Berliner Romanze (DDR 1955, R: Gerhard Klein) spielen ebenfalls im Ost-Berlin der 1950er-Jahre. Im Mittelpunkt beider Filme stehen junge Menschen, die am Ende erkennen, dass sie nur mithilfe des allumsorgenden Staates, der für Wohnung und Arbeit sorgt und ihnen damit einen festen Platz in der sozialistischen Gesellschaft zuweist, aus ihren Schwierigkeiten herausfinden.

Das im Sommer 1956 entstandene Drehbuch von Berlin – Ecke Schönhauser wurde von der HV (Hauptverwaltung Film) zunächst nicht genehmigt, da Szenario und Drehbuch nur "die negativen, problematischen, eine kritische Auseinandersetzung geradezu verlangenden Erscheinungen unseres Lebens" thematisierten. Gerhard Klein begann dennoch, ohne die Produktionsbestätigung abzuwarten, mit den Dreharbeiten unter dem Arbeitstitel "Wo wir nicht sind" – gleichlautend wie das Zitat des Volkspolizisten am Ende des Films: "Wo wir nicht sind, sind unsere Feinde."

Die HV Film kritisierte den Film in scharfer Form: Er würde, "den Feinden unserer Republik in ihrer Hetze helfen" und "schädlich auf unsere Menschen wirken" − mit dieser Begründung wurden eine Zulassung des Films sowie Testvorführungen verweigert. Schließlich kam der FDJ-Zentralrat, der Vorstand des staatlichen Jugendverbands nach einer internen Begutachtung zu einer positiven Einschätzung. So stufte beispielsweise Hans Modrow, einer der Funktionäre im Zentralrat, den Film als positives Gegenstück zu dem westdeutschen Film Die Halbstarken ein (vgl. das Protokoll der Diskussion vor Mitgliedern des Zentralrates der FDJ, 14.06.1957).

Aufgrund dieser Einschätzung zog die HV ihre Bedenken zurück und der Film konnte Ende August 1957 seine Premiere als einer der erfolgreichsten DEFA-Filme mit "mehr als 1,5 Millionen Zuschauer(n)" feiern. (Zitate aus: Ralf Schenk (Red.), in: Filmmuseum Potsdam (Hrsg.): Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946-1992. Henschel, Berlin 1994, S. 130.)

Wolfgang Kohlhaase (© Deutsche Film akademie, Christine Halina Schramm)

Wolfgang Kohlhaase (geb. 1931) gehört zu den bekanntesten und wichtigsten Drehbuchautoren Deutschlands. Seine Sprache gilt als besonders geistreich und pointiert, vor allem in der Betrachtung verschiedener Milieus und ihrer dazugehörigen Charaktere.

Bereits in der DDR schreibt er Drehbücher zu Filmen, die heute zu den Klassikern ihrer Zeit gehören, so zu Ich war neunzehn (DDR 1968, R: Konrad Wolf), einem Antikriegsfilm, der die Geschichte eines jungen Deutschen erzählt, der als Leutnant der Roten Armee 1945 nach Deutschland zurückkehrt, oder zu Solo Sunny (DDR 1980, R: Konrad Wolf), der Geschichte einer jungen Arbeiterin, die ihr Glück als Sängerin sucht.

Nach 1989 bleibt Kohlhaase weiterhin ein gefragter Drehbuchautor und schreibt bis heute Drehbücher für Filme wie Die Stille nach dem Schuss (D 2000, R: Volker Schlöndorff), einem Film über eine in der DDR untergetauchte RAF-Terroristin, oder Sommer vorm Balkon (D 2005, R: Andreas Dresen), eine Berliner Beziehungskomödie, die wie Berlin – Ecke Schönhauser ebenfalls im Prenzlauer Berg spielt – ein halbes Jahrhundert später.

Gerhard Klein (1920-1970) ist zunächst Drehbuchautor für Kurzfilme und Regieassistent, bevor er bei der DEFA ab 1952 13 Kurz- und Langfilme dreht.

Er ist auch maßgeblich am Aufbau des Kinderfilmstudios der DEFA beteiligt und politisch aktiv, so zum Beispiel als Abgeordneter der Volkskammer von 1963-1967.

Filmfiguren

    "Im Mittelpunkt des Films stehen unangepasste Jugendliche, die sich den Freizeitangeboten der FDJ bewusst entziehen, nach westlicher Musik aus Kofferradios auf öffentlichen Plätzen tanzen und sich in ihrer Kleidung, Haartracht und ihren Gesten an Vorbildern orientieren, die von der ‚feindlichen‛ Unterhaltungsindustrie geliefert wurden. Von Karl-Heinz abgesehen, der als Anstifter des Steinwurfs durchweg mit negativen Attributen versehen wird, sind die anderen Mitglieder der Gruppe ausnehmend positiv gezeichnet."

(zitiert aus: Claus Löser: Parallelwelt: Film. Ein Einblick in die DEFA, ebd, S. 21f.)

Wie bei Rebel Without a Cause – Denn sie wissen nicht, was sie tun nimmt sich auch dieser Film der Problematik eines fehlenden männlichen Vorbilds an. In Berlin – Ecke Schönhauser wächst der Protagonist Dieter bei seinem älteren Bruder, einem Volkspolizisten, auf, den er jedoch zunächst nicht als Vorbild anerkennt. Seine Freundin Angela wächst bei ihrer verwitweten Mutter auf, der Liebhaber ihrer Mutter erweist sich jedoch keinesfalls als väterliche Bezugsfigur.

Die Staatsmacht, verkörpert durch den Kommissar oder durch Dieters Bruder, zeigt sich zwar autoritär, verbindet ihre Autorität dabei jedoch stets mit Fürsorge. Der Kommissar will für "Kohle" eine Lehrstelle besorgen, Dieters Bruder hilft diesem immer wieder aus brenzligen Situationen heraus. Die Polizei ist damit nicht nur Ordnungsmacht, sondern auch eine in sich ruhende Ersatzautorität, die an Stelle der abwesenden oder überforderten Eltern erzieherisch wirkt.

Besetzung

Die Rolle des Dieter ist mit dem späteren Brecht-Schwiegersohn Ekkehard Schall (1930–2005) besetzt, der vor allem durch seine Bühnenrollen und Regiearbeiten am Berliner Ensemble, besonders als Arturo Ui in Bertolt Brechts Stück "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui", zu einem der bekanntesten Bühnendarsteller der DDR wird.

Gelegentlich spielt er auch in DEFA-Filmen mit. Berlin – Ecke Schönhauser ist sein Filmdebüt. Das Männerideal des Arbeiter- und Bauernstaats DDR unterschied sich vom Ideal der USA und der Bundesrepublik. Im Gegensatz zu James Dean und Horst Buchholz (der die Hauptrolle des jugendlichen Rebellen in Die Halbstarken verkörpert) ist Ekkehard Schall weniger ein sensibler, gutaussehender junger Mann, sondern ein zupackender, durchschnittlich aussehender Jugendlicher.

Die Westberlinerin Ilse Pagé (geb. 1939) gibt in der Rolle der Angela ebenfalls ihr Filmdebüt. Von Seiten der HV (Hauptverwaltung Film) wurde kritisiert, dass sie die DDR Valuta (Westgeld) gekostet habe. In der Bundesrepublik Deutschland macht sie anschließend in verschiedenen Film- und Fernsehrollen Karriere. Zu einer ihrer bekanntesten Rollen gehört die der Gretchen Scheffler in der Oscar-prämierten Literaturverfilmung Die Blechtrommel (BRD 1979, R: Volker Schlöndorff). Dieters Kumpel "Kohle" wird von Ernst-Georg Schwill (geb. 1939) verkörpert, der bereits in Kleins Jugendfilm Alarm im Zirkus eine Hauptrolle gespielt hatte.

Bildsprache und Musik

"Der Film spielt hauptsächlich in den Straßen Berlins. Dadurch, dass die Kamera und die Bildeinstellungen Beschönigungen des Alltags ausschließen, gewinnt die Bildsprache stark an Authentizität und gleicht damit formal den Filmen des Neorealismus.

Schon die erste Einstellung des Films setzt programmatische Zeichen. Noch während des Vorspanns verdichten sich vorüberfahrende Straßenbahnen, eilende Passanten, ein Kohlenlieferant mit Handwagen sowie zahllose andere Einzelbewegungen zu einem Bild pulsierenden Verkehrs.

Die im Zentrum des Films stehende Gruppe Jugendlicher wird als Teil dieser Wirklichkeit eingeführt, ihr Handeln und Denken signalisiert somit eine organische Zugehörigkeit zur vorgefundenen Realität. Auch die Benutzung von Alltagsprache, die dokumentarisch eingesetzte Kamera oder die oft direkt aus dem Geschehen kommende Realmusik kennzeichnen Kleins – für die DEFA sehr ungewöhnlichen – Stil.

Die meisten Filme jener Zeit waren stilistisch noch dicht an die Traditionen der starren Ufa-Ästhetik gekoppelt, mit starren Einstellungen, einem eher deklamatorischen Sprachstil und vielen Studioaufnahmen. Die Musikuntermalung (Musik: Günter Klück), die neben der im Film vorkommenden Tanzmusik oder Gesängen vorkommt, besteht im Wesentlichen aus groß angelegter Orchestermusik. Sie wird sparsam bei besonders spannenden Szenen eingesetzt."
(zitiert aus Parallelwelt: Film. Ein Einblick in die DEFA, ebd., S. 21.)

Fussnoten

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