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Der Stummfilm | Klassiker sehen – Filme verstehen | bpb.de

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Der Stummfilm

Dr. Martin Ganguly

/ 6 Minuten zu lesen

1895 gilt als das Geburtsjahr des Kinos, in Berlin und Paris finden die ersten öffentlichen Filmvorführungen statt. Bis Ende der 1920er gab es technisch noch keine Möglichkeit, Geräusche und Sprache simultan zum Bild abzuspielen.

Waren Erklärungen zum Bild erforderlich, wurden diese als Zwischentitel einmontiert. Die Filme dieser Epoche sind deswegen als Stummfilme bekannt. Dabei waren die Kinovorführungen in dieser Zeit keineswegs stumm.

Die Filme wurden, je nach Größe des Vorführsaals, von Klaviermusik, Kinoorgeln oder sogar von großen Orchestern begleitet, um das Publikum in die jeweils gewünschte Stimmung zu bringen. Im ersten Jahrzehnt des neuen Mediums war die Auswahl der Musikstücke eher willkürlich aus dem bereits vorhandenen Repertoire der Musiker zusammengestellt.

Ab Mitte der 1910er-Jahre wurde es jedoch zunehmend üblich, vor allem für längere Filme, eigens komponierte Filmmusik zur Untermalung zu spielen. In einigen Kinos erklärten auch Filmerzähler die Handlung. Die Filmbilder waren nicht in einfachem Schwarz-Weiß, sondern vielfach viragiert, das bedeutet, sie waren in verschiedenen Farbtönen eingefärbt. So wurde zum Beispiel Blau für Nachtszenen, Rot für Liebesszenen oder Grün für Szenen in der Natur verwendet.

Die "Sprache" des Stummfilms

Stummfilme haben ihre eigene "Sprache", die universell verständlich ist. Diese frühen Filme nutzen die Ausdrucksformen des rein Visuellen und bestechen durch eigenwillige Bildkompositionen und Darstellungsweisen, die einen ganz besonderen Reiz haben, der sich heute noch erkennen und genießen lässt.

In der Frühzeit des Tonfilms, die ungefähr bis zum Anfang des Ersten Weltkrieges anzusiedeln ist, orientierte sich die Bildsprache am Theater. Die dargestellte Zeit entsprach meist der Realzeit. Schnitte wurden eher aus technischen, als aus künstlerisch-gestalterischen Gründen eingesetzt. Qualität und Länge des Filmmaterials waren zu dieser Zeit noch begrenzt.

Die Einstellungsgrößen variierten ebenfalls kaum, die Schauspieler/innen waren in ihrer Gänze, also in Halbtotalen, zu sehen. Ihre Spielweise war meist sehr körperbetont und theatralisch – anfangs wurden vorwiegend Bühnenschauspieler/innen engagiert.

Der Beruf des Filmschauspielers und der Filmschauspielerin entstand erst in den 1920er-Jahren. Da das Filmmaterial vergleichsweise lichtschwach war, musste die Schminke besonders dick aufgetragen werden, um Mimik und Gestik optisch zu verstärken. In den späteren Stummfilmjahren wurde diese Überzeichnung bewusst als Stilmittel eingesetzt.

Die sperrigen Kameras erlaubten in den ersten Jahren der Filmproduktion wenig Bewegung – Schwenks und Kamerafahrten kamen erst zum Einsatz als auch das technische Equipment beweglicher wurde.

Film wird ein Massenmedium

Während und nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich das Kino allmählich zu einem Massenphänomen und zum wohl beliebtesten Gruppenunterhaltungsmedium, vor allem in den USA und in Europa.

Statt wie in den USA in kleinen Nickelodeons oder in Kintopps, wie die Vorführstätten in Deutschland hießen, fanden Filmvorführungen nun zunehmend in prächtig ausgestatteten Kinopalästen statt, die Tausende Menschen fassten. In den USA wurden Filme zunächst an der Ostküste gedreht. Da die technisch nötigen Lichtverhältnisse dort jedoch unbefriedigend waren, beschlossen Filmpioniere wie der deutsche Einwanderer und Filmproduzent Carl Laemmle (Karl Lämmle) die Produktion von Filmen ins sonnige Kalifornien, in einen Vorort von Los Angeles, nach Hollywood, zu verlegen.

Laemmle war es auch, der in der zweiten Hälfte der 1910er-Jahre maßgeblich das Star-System entwickelte, das Schauspieler/innen zu Idolen aufbaute. Die 1920er-Jahre gelten als die "Goldene Ära" des Stummfilms, das Medium Film wurde in dieser Zeit zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Statt Kurzfilmen oder mittellangen Filmen wurden nun mehrheitlich Langfilme produziert, die teilweise mehrere Stunden dauerten. Bildausschnitte, Montagetechniken und Schauspielstile hatten sich nach und nach weiterentwickelt und wurden nun bewusst als Kunst- und Stilmittel eingesetzt.

Filme wurden weltweit gezeigt und produziert, allerdings waren die USA, Frankreich, England, Italien, Russland und Deutschland in technischer Hinsicht führend. Sie exportierten ihre Filme international. In den USA und Italien entstanden erste monumentale Filme mit Heerscharen von Statisten/innen und Schauspielern/innen sowie einem aufwändigen Produktionsdesign. Beispiele hierfür sind etwa Intolerance (Intoleranz, USA 1916, R: David Wark Griffith) oder Quo vadis? (I 1923/24, R: Gabriellino D’Annunzio/ Georg Jakoby).

Der Erste Weltkrieg und andere gesellschaftspolitische Umbrüche, etwa die Russische Revolution, stoppten vorübergehend den internationalen Austausch von Filmen. Dies bewirkte eine noch stärkere individuelle Ausprägung nationalen Filmschaffens und ein Herauskristallisieren von neuen Erzählformen wie die des Dramas oder der Komödie und Serien. Zugleich wurden verschiedene Filmgenres (darunter auch Horror- und Vampirfilme), wie Animations- und Dokumentarfilme entwickelt.

Zwischen Massenunterhaltung und Propaganda

Während Europa Kriegsschauplatz war, bauten die USA ihre Vormachtstellung im Bereich der Film­produktion aus. In Hollywood wurden Studios und Produktionsfirmen gegründet, die auch heute noch marktführende Positionen einnehmen – man denke an Universal, Paramount, Twentieth Century Fox oder die von den Filmstars Charles Chaplin, Mary Pickford, Douglas Fairbanks und dem Regisseur David W. Griffith gegründete United Artists.

Hollywood verstand sich als Unterhaltungsindustrie, die neben kassenträchtiger Massenware auch zahlreiche künstlerisch anspruchsvolle Filme, Dramen und Komödien hervorbrachte. Besonders beliebt waren Filme von Komikern wie dem Duo Stan Laurel & Oliver Hardy (in Deutschland auch als Dick & Doof ­bekannt), Buster Keaton, Harold Lloyd und der auch heute noch populäre Charles Chaplin, dessen tragikomischen Filme wie The Gold Rush (Goldrausch, USA 1925) oder The Great Dictator (Der große Diktator, USA 1940) wiederholt im Kino oder im Fernsehen gezeigt werden.

Die neugegründete Sowjetunion verstand Film vor allem auch als agitatorisches Mittel und sah die erzieherischen Möglichkeiten dieser neu entstandenen Kunstform. Der Regisseur Sergej Eisenstein entwickelte in Filmen wie Bronenossez Potjomkin (Panzerkreuzer Potemkin, UdSSR 1925) die innovative ­konstruktivistische Montagetechnik, bei der die Handlung nur in Ausschnitten gezeigt wird und es dem Zuschauenden überlassen bleibt, die jeweilige Szene zu vervollständigen und die Bilder und Szenen in einen Zusammenhang zu bringen. Eine der bekanntesten Beispiele für konstruktivistische Montage ist die Duschszene aus Psycho (USA 1960, R: Alfred Hitchcock).

Das Weimarer Kino

Der deutsche Stummfilm erlebte seine Blüte in der Weimarer Republik. Noch im Kriegsjahr 1917 wurde die Universum-Film AG (UFA) in Potsdam-Babelsberg gegründet, die sich in den 1920ern zur größten Filmgesellschaft Europas entwickelte.

Nach dem Ersten Weltkrieg expandierte die deutsche Filmproduktion, da einerseits die Menschen in Deutschland vermehrt ins Kino gingen, um sich von den Entbehrungen der Nachkriegszeit abzulenken, und andererseits die Entwertung der Währung es den deutschen Anbietern ermöglichte, deutsche Filme konkurrenzlos günstig im Ausland anzubieten.

Die UFA konnte es sich nun erlauben, aufwändige Kolossalfilme wie Madame Dubarry (D 1919, R: Ernst Lubitsch) zu drehen, die auch in anderen europäischen Ländern und in den USA kommerziell erfolgreich waren. Im Rahmen der neuen finanziellen Möglichkeiten und in der im Gegensatz zum deutschen Kaiserreich, künstlerisch freizügigen Weimarer Republik entstanden Hunderte neue Produktionsfirmen, die den Markt im In- und Ausland bedienten und 400 bis 500 Filme jährlich produzierten (vgl. kinofenster.de Externer Link: Ausgabe 02/2013: Berlinale-Retrospektive 2013 "The Weimar Touch")

Neben kommerzieller Unterhaltungsware experimentierten die Filmschaffenden mit Stilen und Themen. Filmgeschichtlich besonders bedeutsam ist hierbei der expressionistische Film.

GlossarExpressionistischer Film

Bildende Kunst, Theater und Literatur des Expressionismus beeinflussten den zeitgenössischen Film. Der expressionistische Film, dessen Werke zwischen 1919 und Mitte der 1920er entstanden, weist entsprechend ähnliche Intentionen und Merkmale auf. Die Welt wird nicht ­realistisch abgebildet, sondern in verzerrten und verschobenen Perspektiven, die versuchen elementare menschliche Gefühle wie Angst, Gewalt, Liebe oder Hass auszudrücken. Dies entsprach auch dem Zeitgeist eines krisengeschüttelten Nachkriegsdeutschlands.

Der expressionistische Film versucht diese Haltung durch das bewusst kulissenartige Produktions­design, extrem kontrastreiche Licht- und Schattenzeichnungen, sowie einem ­expressiven Schauspielstil der Darsteller/innen abzubilden.

Zu den bedeutendsten expressionistischen Stummfilmen gehören Das Cabinet des Dr. Caligari (D 1919, R: Robert Wiene), Murnaus Filme Nosferatu (D 1921/22) und Faust (D 1926) sowie Fritz Langs Filme Nibelungen (D 1924) und Metropolis (D 1926).

Die Elemente des expressionistischen deutschen Stummfilms finden sich später als Stilmittel im klassischen US-amerikanischen Horrorfilm der 1930er und 1940er wie auch im Film noir (siehe nächsten Kasten), vor allem in der klassischen Periode dieses Genres, wieder.

GlossarFilm noir

Der klassische Film noir bezeichnet US-amerikanische Kriminalfilme der 1940er- und 1950er- Jahre, die das übliche Gut-Böse-Schema verlassen und eine düstere und pessimistische Weltsicht widerspiegeln. Die Helden/innen sind gebrochene Menschen, die sich auf niemanden verlassen können.

Angesiedelt sind diese Filme meist in nächtlichen Umgebungen von Großstädten. Film noir-Filme, die nach Ende der 1950er-Jahre entstanden, werden als "Neo noir" bezeichnet.


Zeitgleich mit der wirtschaftlichen Konsolidierung der Weimarer Republik im Jahre 1925 wendete sich der Film wieder mehr der Realität zu und bildete das Alltagsleben von Arbeitern/innen und Kleinbürgern/innen sozialkritisch ab. Zu den künstlerisch anspruchsvollen Vertretern dieser, als Neue Sachlichkeit bekannten, Filmgattung gehören die Filme von Gustav Wilhelm Pabst, dessen Film Die freudlose Gasse (D 1925) als erster dieser Richtung gilt.

Das Weimarer Kino hat neben neuen künstlerischen Formen auch bedeutende Schauspieler/innen wie Emil Jannings, Conrad Veidt oder Marlene Dietrich und Regisseure wie Ernst Lubitsch, Friedrich Wilhelm Murnau und Fritz Lang international berühmt gemacht. Lubitsch und Murnau emigrierten bereits in den 1920ern in die USA, wo ihnen bessere Produktionsbedingungen ermöglicht wurden.

Ernst Lubitsch machte sich in den Vereinigten Staaten mit eleganten Komödien à la Ninotchka (Ninotschka, USA 1939) oder der Politsatire To Be or Not to Be (Sein oder Nichtsein, USA 1942) einen Namen. Der 1931 verstorbene Murnau wurde dort vor allem mit seinem Melodram Sunrise – A song of two humans (Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen, USA 1927) bekannt.

Fritz Lang emigrierte aus politischen Gründen erst 1934 mit Umweg über Frankreich in die USA, wo er zahlreiche Film Noirs wie The Woman in the Window (Gefährliche Begegnung, USA 1944) drehte.

Beginn der Tonfilmära

Mit dem Aufkommen des Tonfilms Ende der 1920er-Jahre – der erste US-amerikanische Tonfilm war The Jazz Singer (Der Jazzsänger, USA 1927, R: Alan Crosland), der erste deutsche Tonfilm Melodie des Herzens (D 1929, R: Hanns Schwarz) – ging die Ära des Stummfilms zu Ende.

In Billy Wilders Schwanengesang auf die Stummfilmkunst Sunset Boulevard (Boulevard der Dämmerung, USA 1950), in dem viele ehemalige Stummfilmstars und Regisseure auftraten, oder dem Musical Singin’ in the Rain (USA 1952, R: Stanley Donen, Gene Kelly) wird diese Filmepoche noch einmal lebendig.

Dass Stummfilme auch heute noch ihr Publikum begeistern können, bewies unlängst The Artist (F/B 2011, R: Michel Hazanavicius), eine in Stummfilmformat gedrehte Tragikomödie, die den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm nacherzählt. Neben vielen anderen internationalen Preisen konnte dieser Stummfilm 2012 Oscars® für den besten Film und für vier weitere Kategorien, sowie drei Golden Globes gewinnen.

Fussnoten