Die europäische Kolonisierung der Neuzeit begann im 15. Jahrhundert und gilt mit der Rückgabe der britischen Kronkolonie Hongkong an China 1997 formal als beendet.
Postkoloniale Theorien und dekoloniale Perspektiven
Klassische postkoloniale Theorien
Die Ansätze dekolonialer Denker/innen
Differenzierungen: Kolonialismus und Kolonialität
Der Begriff "Kolonialität" beschreibt das ungleiche Machtverhältnis zwischen Kolonisierer/innen und Kolonisierten, das mit der Eroberung einsetzte.
Frantz Fanon (1925-61) gilt als einer der Vordenker postkolonialer sowie dekolonialer Ansätze. Fanon schrieb in Die Verdammten dieser Erde (Les damnés de la terre, 1961), dass Dekolonisierung immer ein gewaltsames Unterfangen sei. Da die koloniale Situation eine gewaltvolle sei, sei auch deren Überwindung ohne gewaltsamen Widerstand kaum möglich.
"Concerning Violence" – filmische Eindrücke von Die Verdammten dieser Erde
In dem Film "Concerning Violence – Nine Scenes from the Anti-Imperalistic Self-Defence" (Schweden/USA/Dänemark/Finnland 2014) spielt der Regisseur Göran Hugo Olsson zu Zitaten aus Frantz Fanons Werk Die Verdammten dieser Erde Fernseharchivbilder aus den Befreiungskriegen in den (damaligen) portugiesischen Kolonien Angola, Mozambik und Guinea-Bissau sowie Kongo (Belgien), Liberia (USA), Tansania (Großbritannien), Burkina Faso (Frankreich) und Rhodesien (heute Simbabwe, Großbritannien) ein.
Die Bilder, die in "Concerning Violence" gezeigt werden, verweisen auf verschiedene Aspekte und Ebenen von Gewalt (ideologisch-religiös, wirtschaftlich-kapitalistisch, militärisch-destruktiv), die zu einem (De-)Koloniserungsmosaik miteinander verwoben werden. Der Film verdeutlicht so Fanons These, dass der erste Gewaltakt immer auf der Seite der Kolonisierer/innen zu sehen ist, die sich bewohntes Land aneigneten und die Bewohner/innen unterdrückten. Mit deren Gewaltmonopol wird die Ohnmachtsstellung der Kolonisierten kontrastiert, deren einziger Ausweg – laut Fanon – zunächst ebenfalls in der Gewalt liegt. Das im Film gezeigte Beispiel des streikenden liberianischen Arbeiters Robert Jackson soll untermauern, dass andere Formen des widerständigen Verhaltens nur mit neuen Maßnahmen von Gewalt beantwortet werden. Bis heute beziehen sich viele Theoretiker/innen auf Fanon und erweitern oder kontextualisieren seine Ausführungen.
Kontextualisierung des Films aus einer dekolonialen Perspektive
Der Film "Concerning Violence" wird von der renommierten postkolonialen Kritikerin Gayatri Chakravorty Spivak eingeleitet. Spivak hat die postkoloniale Theorie vor allem um die Gender-Perspektive erweitert. Sie bezeichnet Olssons Film als einen "Lehrtext", der dazu anregen soll, zwischen den Zeilen von Fanons Aufruf zur Gewalt gegen die Kolonisierenden zu lesen. Ihrer Meinung nach könne der Film dabei helfen anzuerkennen, dass Arme und Unterdrückte häufig auf Gewaltanwendung angewiesen seien, damit sich ihre Lebenssituation verändere. Spivaks Kontextualisierung setzt den Ton des Films: "Concerning Violence" geht es nicht vorrangig um historische Einsichten. Der Film will vielmehr das Publikum herausfordern, darüber nachzudenken, auf welche Weisen das koloniale Erbe heute noch wirkmächtig ist. Damit ordnet sich der Regisseur – zusätzlich zur Zitation Fanons – in eine Tradition dekolonialen Denkens ein, in dem strukturelle Kolonialität (also das Betrachten von Kolonialität in größeren Zusammenhängen) und die fortbestehenden Ungerechtigkeiten im Vordergrund stehen und die Frage, wie wir diese überwinden können.
Blickwechsel und Blickumkehr
Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre schrieb in seinem umstrittenen Vorwort zu Die Verdammten dieser Erde (1961), in dem er den Text auf den Gewaltaspekt reduzierte, dass sich dieses Werk nicht an ein europäisches Publikum richte, sondern an die Befreiungskämpfer/innen selbst. Fanon nahm die gewaltvollen psycho-sozialen Auswirkungen kolonialer Gewalt auf Kolonisierende und Kolonisierte in den Fokus, da die koloniale Situation für beide Seiten fatal sei. Olsson richtet mit seinem Film nun den Scheinwerfer von den Unterdrückten auf die Unterdrücker. Diejenigen, die bislang durch die kolonialen Ungleichheiten bevorteilt waren, müssen sich nun selbst befragen, ob sie in einer Welt leben wollen, in der ihre Vorteile auf der gewaltsamen Ausbeutung anderer Menschen und Regionen beruht. Hier bietet der Film Anknüpfungspunkte für aktuelle Fragen, etwa nach den Bedingungen, unter denen Produkte wie Handys, Laptops oder billige Kleidung in armen Ländern unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen produziert werden.
Es ist wichtig, Fanons Ausführungen aus ihrem Zeitkontext heraus zu verstehen. Als Fanon seine Texte verfasste, hatte der antikoloniale Befreiungskampf in Afrika erst begonnen. Seit der ersten Unabhängigkeitserklärung (Ghana 1957) in Afrika sind inzwischen fast 60 Jahre vergangen. Der Kolonialismus hat in Afrika (wie auch in anderen Regionen) den Grundstein gelegt, dass heutige Grenzkonflikte und Bürgerkriege das Bild von Afrika prägen und nationalstaatliche Strukturen in einigen Fällen brüchig sind. Gerade aus dekolonialer Perspektive stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob Nationenbildung nach "westlichem" Vorbild überhaupt der Maßstab für die ehemaligen Kolonien sein kann und soll. Es gibt Länder, die mit Bürgerkriegen, Korruption und Armut kämpfen, und andere, die nach der Befreiung eigene Wege gefunden haben. Die Gewalt ist mit der formellen oder politischen Dekolonisierung nicht automatisch beendet, sie hat nur die Bedingungen, Formen und handelnden Akteur/innen verändert.
Zum Weiterlesen:
- APuZ "Kolonialismus",
- Video (englisch): Chimamanda Adichie "The Danger of a Single Story", Externer Link: http://www.ted.com/talks/chimamanda_adichie_the_danger_of_a_single_story, zuletzt geöffnet am 18.9.2014
- Externer Link: http://www.spiegel.de/kultur/kino/concerning-violence-mit-lauryn-hill-rassismus-und-befreiungskampf-a-987598.html, zuletzt geöffnet am 18.9.2014