Hat es für Yoram Fridman eine Rolle gespielt, dass Sie sich als deutscher Regisseur dem Stoff angenommen haben?
Für ihn war es eine große Genugtuung. Er hat in seinem Leben so viel Leid von den Deutschen erfahren. Jetzt schenkt ihm die nächstfolgende Generation einen Film und hält sein Leben fest.
War ihre Nationalität für Sie persönlich ein Thema?
Natürlich war mir das Wissen um die Geschichte bewusst, aber nicht fühlbar. Erst mit dem Film habe ich das zu erspüren begonnen.
Was meinen Sie mit erspüren?
Dass die Attribute Gut und Böse in jedem Menschen verhandelbar sind. Es gibt kein einfaches Schwarz-Weiß-Denken, sondern Menschen, die für eine Flasche Wodka einen kleinen Jungen dem Tod ausliefern und Andere, die ihr Haus haben anzünden lassen, um ihn zu schützen. Dabei spielt keine Rolle, wer Deutscher oder Pole war. Mir ging es um das Alltägliche, am Wegesrand liegende. Nicht um das überbordende Sinnbild der Hakenkreuz beflaggten Städte, sondern um das in der Etappe gelebte Kriegsdasein. Es war ein Erspüren der Veränderung von geschichtlichen Wahrnehmungen.
Sie haben sich sehr präzise ans Buch gehalten. Wie haben Sie sich die Bezugspunkte zwischen Film, Buch und auch den Gesprächen mit den Zeitzeugen erarbeitet?
Ich habe da einen eigenen Kompass emotionaler Art. Als ich mit Heinrich Hadding anfing, das Drehbuch zu schreiben, haben wir zum Beispiel viel über den Erzählstrang des Hundes diskutiert. Uns war klar, dass für Srulik sechs tote Menschen nicht so viele Emotionen bewirken wie dieser kleine tote Hund.
Die Geschichte des Vaters haben Sie bewusst vom Beginn des Buches ans Ende des Films gesetzt.
Ja, denn es gab nichts Stärkeres als diesen Moment. Bestimmte ikonographische Bilder, die Spielberg und Polanski in ihren Filmen verwendet haben, brauchten wir nicht. Erst als der Junge das Warschauer Ghetto verlassen hat, wurde es für uns interessant. Da war plötzlich dieses Kind mit den naiven Augen auf einer Reise in eine Welt, die es nicht kannte, deren Einzelheiten er sich erkämpfen und das Überleben erlernen musste.
Yoram Fridman hat bei der Premiere des Films gesagt: "Genau so ist es gewesen". Wie gelingt es Ihnen als Regisseur, historisch korrekt zu arbeiten?
Man kann es so oder so machen: Wes Anderson hat es auf seine wunderbare Art anders gelöst (Anmerkung: Pepe Danquart bezieht sich auf Andersons Film "The Grand Budapest Hotel", der zum Zeitpunkt des Interviews in Deutschland im Kino zu sehen war. Die Filmhandlung ist in einem historischen Rahmen angesiedelt, der allerdings stärker als "Lauf Junge Lauf" fiktionalisiert wurde). Ich habe den Realismus vorgezogen, versucht narrativ so nah an dem Jungen und der authentischen Erzählung dran zu bleiben.
War es dabei von Bedeutung, dass sie sehr viel dokumentarisch gearbeitet haben?
Mit Sicherheit. Ich unterscheide da nicht und begreife beides als Kinoerzählung. Ich will nicht superrealistisch, sondern authentisch und wahrhaftig sein.
Wie erzeugen Sie diese authentische Wirkung?
Schon in der Locationsuche muss alles stimmen. Der Krieg ist immer präsent, ohne dass ich große Schlachten zeichne. Es gibt die eingefallenen Häuser, die verlassenen Dörfer, die Wälder. Ich habe extra das richtige Korn pflanzen lassen, damit die Feldarbeit wie in den Vierziger Jahren war. Wichtig war auch die Kleidung der Menschen. “Arme Leute“ bedeutet nicht, dass sie Lumpen tragen, sondern dass sie das, was sie haben, lange haben und deswegen pflegen, flicken und patinieren.
Srulik wird vom Zwillingspaar Andy und Kamil Tkacz gespielt. Wie haben Sie die beiden gefunden?
Ich habe rund 700 Kinder gecastet, hatte drei Wochen vor Drehbeginn noch immer keinen Hauptdarsteller. Dann habe ich Andy Tkacz gefunden. Andy erzählte mir von seinem Zwillingsbruder. Ich bin selber Zwilling und habe schnell festgestellt, dass sie unterschiedliche Persönlichkeiten sind. Der eine konnte weinen während der andere noch nie in seinem Leben eine Träne vergossen hat. Ich konnte zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten in einer Figur vereinen. Das war wie ein Sechser im Lotto.
Sie haben den Film als Abenteuerfilm bezeichnet. Ist das ein Format, in dem man Jugendlichen besonders gut Geschichte näher bringen kann?
Ich denke, dass die Geschichte "Huckleberry-Finnsche" Dimension hat. Es basiert auf Fakten, ist aber eine äußerliche Abenteuergeschichte, eine Reise, die im Holocaust verortet ist und ihn auch zeigt. Im Mittelpunkt aber sollte die Reise eines Kindes durch die Kriegswirren stehen. Wie Kinder, die sich heute in Syrien durchs Leben schlagen müssen zum Beispiel. Das ist so aktuell wie nie und trotzdem ein historischer Film.
Wie kann man den Film innerhalb medienpädagogischer Arbeit einsetzen?
Es gibt Arbeitsmaterialien zum Film für Schulen - von der geschichtlichen bis zur aktuellen Aufarbeitung: Holocaust, Rassismus, Identität, Familie. Durch diese Themen werden sich 13 bis 17-jährige ihrer eigenen Verantwortung bewusst. Bis hin zu der Frage, wie sie sich selbst in einer solchen Situation verhalten hätten. Ich denke, dass der Film ein langes Leben haben wird.
Wie haben Sie die Begegnungen mit Fridman und Orlev erlebt?
Bei unserem ersten Treffen haben sie ein großes Essen gemacht, waren wahnsinnig gastfreundlich. Ich fühlte mich schnell in die Familien aufgenommen. Die Frau von Yoram Fridman beschwerte sich einmal mit einem Grinsen. "Wir waren eine ganz normale Familie, bis du kamst. Auf einmal ist so ein Rummel." Die Kindheit des Großvaters ist in der Familie kein Thema mehr. Ich zeige ihn am Ende ja auch nicht als Held, sondern eingebettet in das Fußballspiel mit seinen Kindern und Enkelkindern.