"Ich habe eine Geschlechtskrankheit. Ich kann nicht zum Arzt gehen, weil ich nicht versichert bin. Ich habe mich in einen der Männer, die mich gefangen halten, verliebt. Er ist jetzt mein Freund. Er sagt, er wird mit mir flüchten. Er steckt sich absichtlich bei mir an, dann kann er für uns beide zum Arzt gehen. Denn die Medikamente teilen wir uns dann."
Die Fragestellung war für mich, wie ich diese brutalen Geschichten so erzählen kann, dass der strukturelle Hintergrund in den Vordergrund tritt und sie nicht mehr schicksalhaft erscheinen. Um zu sagen, dass die betroffene Frau nicht wahnsinnig ist, ihren Freund anzustecken, sondern geradezu dazu gezwungen - durch ein System, in dem sie keine Krankenversicherung bekommen kann. Die Geschichten des Frauenhandels werden in den Medien meist mit schwarzem Balken vor dem Gesicht erzählt. Eine Frau sitzt im Bild, sie weint. Es wird ein übliches Muster produziert: das arme Opfer im Film und der Betrachter, der Mitleid empfindet. Was die betroffenen Frauen brauchen, ist aber nicht Mitleid - es sind Rechte, damit ihnen diese Geschichten gar nicht erst passieren können.
Die Bilder, die ich in "Kurz davor ist es passiert" zu den Geschichten der Frauen zeige, sind aus dem Alltag derjenigen Personen, die diese Geschichten vortragen. Keine Strapse, kein nackter Popo. Ich wollte bewusst andere Bilder zeigen - und die übliche Bebilderung der Geschichten verweigern. Ich hinterfrage eine dokumentarische Vorgehensweise: Inwieweit muss der oder die Geschädigte ihr Schicksal selbst erzählen? Was passiert, wenn ich die übliche Vereinbarung mit dem Zuschauer, wer wem was erzählen darf, breche? Es krachen zwei Lebensrealitäten scharf aufeinander. Für mich werden dadurch in "Kurz davor ist es passiert" die Machtstrukturen auf spürbare und eindringliche Art und Weise freigelegt. So entstehen zwei Filme gleichzeitig: der, den man sieht, und der, den man hört und sich dazu vorstellt. Die Gedanken, die man sich zu den erzählten Geschichten macht, die Bilder, die man sich vorstellt, sind die Haupthandlung. Etwas, das man auf der Leinwand nicht sieht. Das ist wie im richtigen Leben, denn diese Frauen und ihre Geschichten werden aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeblendet.
Text:Anja Salomonowitz