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TikTok als antisemitischer Radikalisierungstunnel

Deborah Schnabel Lilith Jogwer

/ 7 Minuten zu lesen

TikTok: Chance für politische Bildung oder Radikalisierungstunnel? Deborah Schnabel erklärt, wie die Plattform genutzt wird, welche Risiken sie birgt und was Lehrkräfte beachten sollten.

Demokratiefeindliche Akteure nutzen gezielt soziale Medien wie TikTok zur Verbreitung ihrer Botschaften – extremistische Inhalte erscheinen dabei unvermittelt zwischen Unterhaltungsformaten wie Katzenvideos in den Feeds. (bpb, Mel Wilken) Lizenz: cc by-sa/4.0/deed.de

werkstatt.bpb.de: Wie kann TikTok für politische Bildungsarbeit genutzt werden?

Deborah Schnabel: TikTok ist selbstgesteuert und informell. Es ist eine Plattform, bei der ich Inhalte zur Verfügung gestellt bekomme. Als Bildungseinrichtung können wir relativ niedrigschwellig Menschen erreichen, die nicht aus eigenem Antrieb auf unsere Inhalte stoßen und mit den klassischen Medien nicht so gut zurechtkommen. Menschen, die Informationen ein wenig kurzweiliger oder emotionaler brauchen. Zum Beispiel mit Humor oder Ironie – Mitteln, die wir in formellen Bildungssettings gar nicht nutzen.

werkstatt.bpb.de: Und was sind die Risiken von Plattformen wie TikTok?

Deborah Schnabel: Auf TikTok wird Diskriminierung multipliziert. Die Richtlinien und Verfahren zum Melden und Löschen sind nicht streng genug. Diskriminierende Inhalte bleiben viel zu lange stehen oder kommen immer wieder neu auf die Plattform. Ich sehe eine große Gefahr darin, dass diese Inhalte en passant zu den Menschen kommen, ohne dass sie aktiv danach suchen.

Alle können dort Wissen verbreiten und eigene Narrative an ihre Zielgruppe bringen. Wir sehen geschichtsrevisionistische Ansätze, Falsch- und Desinformationen. Diese Inhalte treffen auf Nutzer*innen, die zum Teil minderjährig sind und wenig Vorwissen zu bestimmten Themen haben. Auch künstliche Intelligenz spielt eine Rolle, besonders in Bezug auf KI-generierte Videos von historischen Persönlichkeiten und Deepfakes. Das Gegengewicht ist momentan noch nicht stark genug, weil zu wenig demokratische Akteure wirklich guten Content auf TikTok kreieren.

werkstatt.bpb.de: Welche Rolle spielt algorithmische Radikalisierung?

Deborah Schnabel: Wir haben als Bildungsstätte getestet, was passiert, wenn bestimmte Begrifflichkeiten angeklickt werden. Zum Beispiel, wenn ich „Gaza“ in die Suchleiste eintippe. Bei einem Versuch war es so, dass das erste vorgeschlagene Video von einer deutschen, jungen Creatorin stammte, die in zweieinhalb Minuten unfassbar viel verschwörungsideologischen, antisemitischen Content äußerte. Das endete mit der Behauptung, dass die israelische Regierung gewusst hätte, dass das Massaker beim Supernova Festival geschehen würde.

Anschließend schlug TikTok immer neue Inhalte dieser Art vor. So ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich mich nach drei, vier Videos in eine bestimmte Richtung bewege, in die ich mich selbst gar nicht aktiv bewegt hätte. Es kann meine Wahrnehmung der Realität komplett verändern, wenn ich solche Inhalte mehrere Stunden auf TikTok konsumiere. Die selektive Auswahl erweckt den Eindruck, dass die Inhalte den realen Gegebenheiten entsprechen und die vermeintlich einzige Meinung abbilden, die es zu dem Thema gibt. Andere Perspektiven werden völlig ausgeblendet. Das kann einen Radikalisierungstunnel öffnen, aus dem man nicht so schnell wieder rauskommt.

werkstatt.bpb.de: Welche Strategien nutzen radikale Akteure auf der Plattform?

Deborah Schnabel: TikTok und viele andere soziale Plattformen werden verstärkt von rechtsextremen, demokratiefeindlichen Akteuren erfolgreich genutzt. Sie sehen, dass in den sozialen Medien viele junge Menschen unterwegs sind, die sie mit einer direkten und einfachen Ansprache adressieren. Zum Beispiel, indem sie sie duzen. Oder indem sie die Ängste, Sorgen und Nöte von jungen Menschen adressieren, ihnen Tipps geben, eine Art Lebensbegleitung anbieten. Und sie greifen Trends auf.

Wir sprechen bei TikTok auch von dem Spam-Netzwerk der extremen Rechten. Weil sie unfassbar viele Unterstützer*innen auf dieser Plattform haben, die ihre Inhalte immer wieder in Umlauf bringen. Entsprechend kommen rechte und rechtsextreme Inhalte öfter vor als Inhalte von anderen politischen Strömungen. Ich begrüße es natürlich, dass inzwischen immer mehr demokratische Akteur*innen ihre Inhalte auf TikTok platzieren. Dennoch besteht weiterhin ein Ungleichgewicht, zu dem vor allem der aktive Unterstützer*innen-Kreis aus dem Spam-Netzwerk der extremen Rechten beiträgt.

Auch islamistische Akteure nutzen die sozialen Medien seit langer Zeit schon für ihre Zwecke. Sie rekrutieren auch darüber – aus den gleichen Gründen wie rechtsextreme Akteure: Sie können dabei schnell und mit wenig Geld große, vulnerable Zielgruppen erreichen.

werkstatt.bpb.de: Was steckt hinter dem Begriff „TikTok-Intifada“?

Deborah Schnabel: Bereits 2021 kam es zu dem Vorfall der sogenannten TikTok-Intifada. In einem Video wurde ein ultra-orthodox gelesener, jüdischer Mann von einem palästinensisch gelesenen Mann geohrfeigt. Das Video ging viral. Es folgten Nachahmungsvideos mit Gewalt gegenüber jüdisch-orthodoxen Menschen unter dem Hashtag #TikTokIntifada. Das wurde als Widerstand der Palästinenser*innen gegen die israelische Politik oder Israel als Ganzes verkauft.

Der Begriff Interner Link: Intifada ist grundlegend problematisch. Aber auch Hashtags, wie #FreeGaza oder #StandwithPalestine, die aus einer solidarischen Haltung mit palästinensischen Opfern ins Leben gerufen wurden, werden häufig von radikalisierten Akteuren gekapert. Nutzer*innen finden unter dem Hashtag alles Mögliche, sowohl solidarische als auch klar radikale Äußerungen, sodass sich die Inhalte in der Konsequenz nicht mehr so leicht auseinanderhalten lassen.

werkstatt.bpb.de: Was für antisemitische Narrative begegnen Ihnen auf TikTok?

Deborah Schnabel: Schon vor dem 7. Oktober 2023 fand man da eigentlich alles an typischen antisemitischen Narrativen und Verschwörungserzählungen. Aus unserer Sicht ist die Hemmschwelle nach dem 7. Oktober weiter gesunken. Gerade Formen des israelbezogenen Antisemitismus treten auf: Inhalte, die das Existenzrecht Israels absprechen, die Hamas verherrlichen oder bestimmte Schlüsselworte nutzen. Hierzu gehört alles, was in Richtung Relativierung oder Täter-Opfer-Umkehr geht: Zum Beispiel Memes, die den Staat Israel mit dem Nazi-Regime gleichsetzen.

Das passiert nicht nur am islamistischen Rand, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft. Auch Mikro-Influencer*innen haben sich nach dem 7. Oktober auf TikTok schnell radikal positioniert. Da holt uns der sogenannte Experten-Bias ein. Den Mikro-Influencer*innen wird Wissen zum Nahostkonflikt beigemessen, auch wenn sie dies wahrscheinlich nicht haben, weil sie sich nicht als Historiker*innen oder politische Bildner*innen damit beschäftigen, sondern Privatpersonen sind und normalerweise Kochvideos posten.

werkstatt.bpb.de: Welche antisemitischen Codes gibt es auf sozialen Netzwerken?

Deborah Schnabel: Es gibt bestimmte Emojis. Zum Beispiel die israelische Flagge mit dem Toiletten-Emoji oder dem Schuh-Emoji soll bildlich gesprochen bedeuten, man solle den Staat Israel in der Toilette herunterspülen oder mit Schuhen treten. Für diejenigen, die sich damit auskennen, ist ganz klar, dass es sich dabei um Emojis handelt, die im Zusammenhang mit israelbezogenem Antisemitismus stehen – unwissenden Personen fallen sie vielleicht gar nicht auf. Und dann gibt es beispielsweise Inhalte, in denen eine Landkarte gezeigt wird und der Staat Israel durchgestrichen ist.

Ein Beispiel wäre das Video einer Schmink-Influencerin, die sich ihr Gesicht bemalt. Normalerweise macht sie aufwendige Schminkvideos. In diesem Video kommt dann unvermittelt durch die Gesichtsbemalung ihre Interpretation von der Verteilung von Land und Grund in dieser Region zutage. Sie setzt den Staat Israel in Anführungszeichen – ein Indikator dafür, dass sie die Legitimität des Staates anzweifelt.

Das Wassermelonen-Emoji an sich ist kein antisemitischer Code, sondern ein Zeichen der Palästina-Solidarität und daher nicht mit Schuh oder Toilette zu vergleichen. Ähnlich wie bei solidarischen Hashtags wird aber auch die Wassermelone in Kombination mit Israel-Hass und Antisemitismus verwendet. Ursprünglich solidarisch gemeinte Hashtags oder Symbole im Netz werden immer wieder gekapert.

werkstatt.bpb.de: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen antisemitischen Inhalten auf sozialen Netzwerken und Gewalt?

Deborah Schnabel: Wir wissen aus anderen Bereichen, dass auf antisemitische Äußerungen auch antisemitische physische Gewalt folgen kann. Das hat nicht unbedingt was mit sozialen Medien zu tun.

Ich würde sagen, dass Antisemitismus wie jede Form von Diskriminierung eine Form von Gewalt ist. Da liegen physische Gewalt und sprachliche Gewalt oft nah beieinander. Und wir haben gesehen, dass Gewalt auch insofern eine Rolle spielt, als dass zum Beispiel die Täter des 7. Oktober ihre gewaltvollen Taten sehr explizit über die sozialen Medien geteilt haben. Es war Teil ihrer Strategie, um sich selbst zu feiern, aber auch um Nachahmungstaten zu generieren.

Von antisemitischen und rassistischen Anschlägen der Vergangenheit wissen wir, dass sich die Täter*innen vielfach auf eine bestimmte Art und Weise im Netz aufgehalten haben, bestimmte Plattformen genutzt haben, bestimmte Inhalte gepostet haben. Das macht zumindest einen Teil der Radikalisierungsbiografie aus.

werkstatt.bpb.de: Stichwort Nachahmerinnen und Nachahmer: Wie kann so ein Radikalisierungsprozess vonstattengehen? Vom Konsum von Social-Media-Inhalten hin zur Nachahmung?

Deborah Schnabel: Die meisten Nutzer*innen der sozialen Medien gehen schon mit ihren antisemitischen Denkmustern, Narrativen und Wissenslücken in diese Medien rein. Der Konsum von wenigen antisemitischen Inhalten führt nicht dazu, dass sich eine Person radikalisiert. Radikalisierungsbiografien sind sehr komplex. Das hängt an sehr vielen verschiedenen Faktoren. Dafür kann man die sozialen Medien nicht allein verantwortlich machen.

werkstatt.bpb.de: Wie sollten politisch Bildende und Lehrkräfte damit umgehen, dass ihre Schülerinnen und Schüler sehr viel Zeit auf sozialen Medien verbringen und all diese Inhalte konsumieren?

Deborah Schnabel: Der erste Schritt ist anzuerkennen, dass TikTok ein Teil der Realität von jungen Menschen ist. Auch zu verstehen, wie weit der Social-Media-Konsum geht und in Meinungsbildungsprozesse hineinragt, dass sich junge Menschen teilweise ausschließlich dort informieren. Als Lehrkraft gilt es an der eigenen Einstellung zu feilen und die sozialen Medien nicht zu verteufeln, sondern zu versuchen, die Lebensrealität und kulturelle Identität dieser Generation zu verstehen.

werkstatt.bpb.de: Sollten Lehrkräfte selbst auf TikTok unterwegs sein?

Deborah Schnabel: Ich finde nicht, dass man als Lehrkraft selbst auf TikTok sein muss. Aber man sollte verstehen, wie dort kommuniziert wird, wie die Plattform überhaupt funktioniert, auch um jungen Menschen die Funktionsweisen erklären zu können. Vielfach verstehen Nutzer*innen von TikTok gar nicht, wie der Algorithmus dieser Plattform funktioniert.

Unserer Erfahrung nach sind Social-Media-Inhalte immer auch eine Referenz für den Ursprung antisemitischer Äußerungen bei Schüler*innen. Lehrkräfte können Tipps geben, beispielsweise sich selbst zu schützen, Grenzen zu ziehen, Inhalte aktiv wegzuklicken, sich auszutauschen. Sie können TikTok im Unterricht einbeziehen, indem sie mit den Schüler*innen gemeinsam hinterfragen, was sie dort sehen und was das mit ihnen macht. Dazu gehört auch das ABC der Mediennutzung: Zum Beispiel die Richtlinien zu erklären, wie problematische Inhalte gemeldet werden können und wie man seine Privatsphäre schützen kann.

Das Interview führte Lilith Jogwer.

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Dr. Deborah Schnabel ist Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank und setzt sich u.a. damit auseinander, wie antisemitismus- und rassismuskritische Bildung im digitalen Raum gelingen kann. Sie ist Mitherausgeberin der digitalen Reports „Die TikTok-Intifada – der 7. Oktober & die Folgen im Netz“ und „Das TikTok-Universum der (extremen) Rechten“, sowie des Sammelbandes „Code & Vorurteil. Über Künstliche Intelligenz, Rassismus und Antisemitismus“.

Als Journalistin und politische Bildnerin arbeitete Lilith Jogwer u.a. in der Online-Redaktion der Bundeszentrale für politische Bildung bei Werkstatt bpb, bei den Neuen Deutschen Medienmacher*innen e.V. und bei den Internationalen Filmfestspielen in der Sektion Berlinale Generation, die sich auf Kinder- und Jugendfilm spezialisiert. Sie studierte Politikwissenschaft und Sozial- und Kulturanthropologie in Berlin, Leipzig und Ankara.