Stell dir vor, es gibt einen riesigen Hype um ein bestimmtes Produkt. Sagen wir, Donuts. Eigentlich gibt es das Produkt schon recht lange, aber jetzt wurde es ein bisschen verfeinert und weiterentwickelt und plötzlich reden alle darüber. Gleichzeitig gibt es nicht so viele Läden, die diese neuen, gefeierten Donuts verkaufen. Aber neugierig wie du bist, möchtest du diese Donuts auch probieren.
Also machst du dich auf die Suche nach dem nächsten Laden in deiner Nähe, um einen solchen Donut zu probieren. Schon die Ladentheke sieht verlockend aus, mit verschiedenen Varianten, Farben und Füllungen. Den „Donut Classic” gibt es sogar umsonst, einfach so zum Probieren – wie toll ist das denn? Genüsslich beißt du hinein. Der erste Bissen schmeckt fantastisch. Doch beim zweiten Bissen stimmt etwas nicht: Moment mal, das schmeckt… nach saurer Gurke! Was macht dieser Geschmack denn im Donut?
Verwirrt gehst du zurück zur Ladentheke und fragst nach. Die Person an der Theke zeigt auf ein Schild und antwortet leicht genervt: „Steht doch da. Beim ‚Donut Classic' kann es manchmal zu produktionsbedingten Beigeschmäckern kommen. Die werden von unseren Backmaschinen hergestellt. Das läuft automatisiert, und da passieren manchmal kleine Fehler. Wir wissen nicht genau, wie, aber dafür gibt es die Donuts ja auch kostenlos. Für den puren Donut-Genuss empfehlen wir unsere Premium-Donuts.” Kopfschüttelnd verlässt du den Laden. Hier wirst du keinen Donut mehr essen.
Geheimzutaten von KI-Anwendungen – wie transparent sind ChatGPT & Co.?
Vielleicht ist die Analogie schon klar geworden. Der Donut in diesem Beispiel ist eine Metapher für KI-Anwendungen, genauer gesagt für einen der bekanntesten und am weitesten verbreiteten generativen Chatbots – ChatGPT. Seit dieser im Herbst 2022 veröffentlicht wurde, haben immer mehr Schülerinnen und Schüler, Studierende und Lehrpersonen angefangen, damit zu experimentieren. Auch die Bundesländer stellen ihren Lehrenden und Lernenden zunehmend zentrale Zugänge zum Chatbot zur Verfügung (Füller, 2024; Kraft, 2024). Auch wenn Deutschland noch weit entfernt ist von einem flächendeckenden und vergleichbaren Zugang für alle Bildungsbereiche, sind entsprechende Bemühungen der Bundesländer in diese Richtung zu beobachten (Kraft, 2024).
Grundsätzlich ist es zu begrüßen, wenn digitale Lösungen zentral und für die Endnutzenden kostenfrei angeboten werden, wie es im Fall von ChatGPT bereits für Schulen in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern oder Rheinland-Pfalz geschehen ist (Kraft, 2024). Auch aus medienpädagogischer Perspektive ist es sinnvoll, wenn Lehrende und Lernende niedrigschwellig mit neuen Technologien wie aktuell den generativen Chatbots experimentieren und ihre Erfahrungen gemeinsam reflektieren können. Denn in der direkten Anwendung lassen sich Funktionsweisen, Nutzungsszenarien und Konsequenzen am besten nachvollziehen (Dagstuhl-Dreieck, 2016).
Problematisch wird das Ganze, wenn es für unabhängige Dritte keine Möglichkeit gibt, die eingesetzten Produkte zu überprüfen. Die Firma hinter ChatGPT, OpenAI, macht weder die verwendeten Trainingsdaten oder -modelle noch die eingesetzten Filter ihrer Sprachmodelle transparent. Gleichzeitig ist unklar, was mit den Anfragen und Daten passiert, die Nutzende in den Chatbot eingeben, um mit ihm zu interagieren. Hinweise wie jene des Landesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Baden-Württemberg (2023), Lehrkräfte sollten bei der Nutzung des Chatbots im Schulkontext darauf achten, dass Schüler*innen keine personenbezogenen Daten in den Chatbot eingeben, erscheinen nicht sehr praxistauglich.
Digitale Autonomie durch Open-Source-Sprachmodelle
Eine Lösung für diese Probleme wäre der Einsatz von gemeinwohlorientierten und offenen KI-Anwendungen. Eine gute Anlaufstelle bietet die Plattform HuggingFace, auf der zahlreiche Open-Source-Sprachmodelle zur freien Verwendung bereitgestellt werden. Forschungskonsortien wie Occiglot, die Open-Source-Sprachmodelle weiter trainieren und auf europäische Sprachen optimieren, haben ihre weiterentwickelten Modelle auf dieser Plattform zur Verfügung gestellt. Statt wie bisher auf das proprietäre Produkt ChatGPT zu setzen, bei dem das Recht und die Möglichkeiten der Wieder- und Weiterverwendung sowie Änderung und Anpassung stark eingeschränkt ist, bieten solche Alternativmodelle die Chance, sie für spezifische Bedarfe anzupassen bzw. anpassen zu lassen. Anschließend können sie – wie dies bisher in vielen Bundesländern bereits mit ChatGPT gemacht wird – über Schnittstellen (APIs) in bestehende Lernplattformen eingebunden werden.
Im Hochschulbereich hat die Gesellschaft für wissenschaftliche Datenverarbeitung (GWDG) seit Juni 2024 neben ChatGPT einige Open Source Modelle als Chatbots im Angebot (GWDG 2024a). Über ein eigenes Interface können Hochschulmitarbeitende auf diesen Service zugreifen. Das Hosting der offenen Sprachmodelle wird vorübergehend über das KI-Servicezentrum für sensible und kritische Infrastrukturen (KISSKI) und damit Projektgelder des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert (GWDG 2024b).
Ähnliche Entwicklungen wären auch für den schulischen Bereich wünschenswert, um sich unabhängiger von den Nutzungsbedingungen und Lizenzkosten der Big-Tech-Firmen wie Google, Microsoft oder OpenAI zu machen.
Charmant an solchen unabhängigen Lösungen ist die Rückgewinnung der Kontrolle über Nutzungsbedingungen und Datenströme, aber auch über die inhaltliche Ausgestaltung der eingesetzten Produkte. Sind Trainingsdaten und -modelle sowie Filter transparent und offen zugänglich, können sie an die pädagogischen Bedürfnisse und Ziele angepasst werden. Darüber hinaus können unabhängige Expert*innen die Produkte prüfen, bewerten und auch vor potenziellen Gefahren warnen. Insbesondere wenn KI-Anwendungen Lernenden Feedback oder Empfehlungen für weitere Lernschritte geben, sollte nachvollziehbar sein, wie diese zustande kommen.
Die größten Herausforderungen bei der Umstellung auf Open-Source-Alternativen sind die Ressourcen, die für das Hosting, die technische Betreuung und Beratung vor Ort benötigt werden. Es braucht sowohl eine entsprechende Infrastruktur mit den notwendigen Rechenkapazitäten als auch Personen mit fachlicher Expertise, die in der Lage sind, ein Sprachmodell zu hosten, zu warten und technischen Support zu leisten. Mit einer zeitlich begrenzten Projektförderung wird ein solch zentraler Infrastrukturumbau nicht zu realisieren sein. Hier bedarf es einer langfristigen und nachhaltigen Strategie der politischen Entscheidungstragenden.
Zu einer zeitgemäßen Lernkultur
Allerdings greift es zu kurz, nur auf die Technologie und ihre Bereitstellung zu blicken. Bildung ist immer in soziale Praktiken eingebettet. Und diese ändern sich durch die Verfügbarkeit generativer Chatbots gewaltig. Altbekannte Prüfungsformate wie schriftliche Haus- oder Abschlussarbeiten können inzwischen mit Unterstützung eines großen Sprachmodells verfasst werden. Auch früher konnten solche Arbeiten unter Mitwirkung Dritter entstehen. Doch jetzt geht es ohne viel Aufwand in wenigen Sekunden. Neue Prüfungsformate sind nötig und darüber hinaus auch eine zeitgemäße Lehr- und Lernkultur. Dahinter steckt die Idee, das Lehren und Lernen in Bildungsinstitutionen als partizipativen, vernetzten, offenen Prozess zu sehen, indem Veränderungen – wie eine neue Technologie oder auch eine weltweite Pandemie – mit gemeinsamen Such- und Forschungsprozessen begegnet wird statt mit vermeintlich fertigen Lösungen.
Dazu braucht es Räume für Lehrende und Lernende, die dieser Lernkultur entsprechen: Räume, in denen miteinander und voneinander gelernt werden kann. Räume, in denen kollegial und niedrigschwellig Neues ausprobiert werden kann. Räume, in denen eigenen Fragen und Interessen nachgegangen werden kann. Und Räume, in denen Erfahrungen in einem geschützten Rahmen rückgebunden und reflektiert werden können. Die bisherige Lehr- und Lernkultur sieht solche Freiräume nur selten vor und wenn, dann meist im Rahmen von Projekttagen oder -wochen. Auch Fortbildungen finden in den meisten Fällen eher punktuell statt und sind weder in die Bildungsinstitutionen eingebettet noch kontinuierlich und damit nachhaltig gestaltet. Eine große Chance, die mit der Herausforderung der Bildungslandschaft durch KI-Technologien einhergeht, liegt daher in der Verzahnung von Weiterbildung, schulischer Organisationsentwicklung und statusgruppenübergreifender Zusammenarbeit, um veränderten Kontextbedingungen und schulspezifischen Bedarfen zu begegnen.
Das Konzept der Offenheitskompetenzen
Sollen die hier diskutierten Aspekte der digitalen Autonomie und einer zeitgemäßen Lernkultur zusammengedacht werden, so ist noch ein drittes Konzept zu nennen: Offenheitskompetenzen. Sie lassen sich als „Katalysatoren verstehen, um gezielt die wichtigsten Kompetenzen für das Leben in der digitalen Welt zu entwickeln” (Bündnis Freie Bildung, 2024). Die Offenheitskompetenzen beziehen sich dabei auf Wissen, Fertigkeiten und Haltungen, die für einen Umgang mit offenen Bildungsressourcen und damit zum Beispiel auch mit offenen KI-Anwendungen relevant sind. Denn es ist eine Sache, gemeinwohlorientierte und offene KI-Anwendungen zur Verfügung zu stellen – eine andere Sache ist es, den Mehrwert und die Besonderheiten der Anwendungen zu kennen und sie entsprechend in die eigenen Lehr- und Lernkontexte einzubinden. Das hierfür nötige Wissen, die praktischen Fertigkeiten aber auch die damit einhergehende Haltung einer Kultur des Teilens müssen kennengelernt, ausprobiert und gelebt werden, um sie im eigenen Lehren und Lernen einsetzen zu können.
In der Praxis kann dies bedeuten, dass Schülerinnen und Schüler der Oberstufe im Rahmen des Unterrichts gemeinsam ein KI-Wiki verfassen, in dem sie ihre Erfahrungen und Tipps zum Prompting teilen oder eine Anleitung dazu schreiben, wie sie es geschafft haben, ein Open-Source-Sprachmodell auf dem eigenen Endgerät zu installieren. Dabei würden sie mit verschiedenen Aspekten der Offenheit konfrontiert sein: Eigenes Wissen teilen, die Inhalte von anderen Personen verändern oder weiterentwickeln und tatsächlich mit Open-Source-Produkten interagieren.
Um auf die Donuts vom Anfang des Textes zurückzukommen: Wenn wir ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Donuts mit einem öffentlich zugänglichen Rezept uns die Möglichkeit geben, die Zutaten zu überprüfen und das Produkt nachzubacken, dann können wir uns im besten Fall auch gesellschaftlich darauf einigen, dass es sich lohnt, in gemeinwohlorientierte Backstuben zu investieren. Damit wären wir der Praxis einer offenen und freien Bildung auch im Digitalen ein großes Stück nähergekommen.
Hinweis
Der Artikel beruht auf den zehn Externer Link: Handlungsempfehlungen für den Einsatz gemeinwohlorientierter und offener KI-Technologien in der Bildung (Wikimedia Deutschland e. V., 2024). Diese wurden von Wikimedia Deutschland e. V. in Kooperation mit der Bildungswissenschaftlerin und Pädagogin Nele Hirsch und gemeinsam mit zahlreichen Menschen aus Bildungspraxis, -forschung, -politik und der Zivilgesellschaft entwickelt. Über sechs Monate hinweg fanden Austauschforen und Schreibwerkstätten statt, um bestehende Entwicklungen, Herausforderungen, Bedarfe und Wünsche in Richtung der Bildungs- und Digitalpolitik zu formulieren. Am 14. Mai 2024 wurden die Empfehlungen veröffentlicht und seitdem vielfältig diskutiert.