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Von "Brennpunktschulen" und Bildungsungleichheit

Bahar Aslan Leonie Meyer

/ 6 Minuten zu lesen

Bahar Aslan ist Lehrerin an einer sogenannten Brennpunktschule. Im Interview spricht sie über das Image strukturell benachteiligter Schulen, ihre Erfahrungen und ihr Selbstverständnis als Lehrerin.

Als "Brennpunktschulen" werden Schulen bezeichnet, die strukturelle Benachteiligung erfahren. (© picture alliance / imageBROKER)

werkstatt.bpb.de: Wie findest du den Begriff "Brennpunktschulen" – und verwendest du ihn selbst?

Bahar Aslan: Ja, aber ich sage sogenannte Brennpunktschulen, um einzuordnen, dass ich damit Schulen meine, die in einem strukturschwachen Quartier mit hoher Arbeitslosigkeit, hoher Armut und vielleicht einem hohen Migrationsanteil angesiedelt sind. Dass dies Schulen mit besonderen Herausforderungen und Problemlagen sind. Die von Kindern besucht werden, die bildungsbenachteiligt sind, die aus Elternhäusern kommen, die keine Akademiker sind, deren Eltern arbeitssuchend oder alleinerziehend sind oder anderweitige Probleme haben. Eltern, die ihre Kinder aus sozioökonomischen Gründen nicht mit Nachhilfe und außerschulischen Aktivitäten fördern können. Den Begriff verwende ich also auch, um ihn zu dekonstruieren.

werkstatt.bpb.de: Wie nimmst du den öffentlichen Diskurs zu den sogenannten Brennpunktschulen wahr?

Bahar Aslan: Der Begriff findet häufig Anwendung, wenn wir Schulen mit hohem Migrationsanteil meinen. Das finde ich fatal, weil sich dann Schubladen auftun und wir rassistisch aufgeladene Debatten führen – auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen. Das gibt die eigentliche, differenzierte Situation vor Ort nicht wieder.

werkstatt.bpb.de: Gibt es auch Aspekte in der Diskussion, die du zutreffend findest?

Bahar Aslan: Ich finde schon, dass auch richtige Punkte angesprochen werden – etwa, dass es an diesen Schulen zu wenig Personal gibt. Aber die sozialen Folgen kommen mir in der Debatte insgesamt zu kurz. Soziale Probleme zu ethnisieren und kulturalisieren gießt nur Öl ins Feuer und führt nicht dazu, dass wir konstruktiv an Lösungen arbeiten.

Lehrerin Bahar Aslan. (© privat)

werkstatt.bpb.de: Wie sähe eine konstruktive Lösung für dich aus?

Bahar Aslan: Eine adäquate soziale Bildungspolitik, die den Familien unter die Arme greift, damit auch ihren Kindern Bildung zugutekommt und wir nicht mehr das Problem haben, dass einige Schulen besser ausgestattet sind, mehr Lehrer und damit auch mehr Möglichkeiten haben, die Kinder adäquat zu fördern – das wäre ein wichtiger Schritt. Und umgekehrt wäre es auch wichtig, dass bestimmte Schulen für Lehrkräfte nicht mehr attraktiver sind als andere.

Das sieht man aktuell auch in der Debatte zur Kindergrundsicherung. Da sagen Abgeordnete: zwölf Milliarden Euro sind uns einfach zu teuer. Das ist für mich ein Symptom dafür, dass wir hier eine defizitäre Bildungs- und Sozialpolitik haben. Viele Kinder wachsen in diesem Land in Armut auf, die dazu führt, dass sie nicht am Leben teilhaben können. Ich glaube, dass wir mehr schauen sollten, wo wir noch Gesetze erlassen müssen, um Kinder aus sozioökonomisch schwachen Haushalten zu unterstützen.

werkstatt.bpb.de: Was glaubst du, warum sich viele Lehrkräfte dagegen entscheiden, an einer strukturell benachteiligten Schule zu unterrichten?

Bahar Aslan: An meiner ehemaligen Schule haben sich viele Lehramtsanwärter*innen und Absolvent*innen nach ihrer Hospitation gar nicht mehr gemeldet oder sich für eine andere Schule entschieden. Einmal hat mir eine Kollegin gesagt, dass sie Angst vor den Kindern hat, wenn sie auf dem Schulhof ist und dass sie sich nicht vorstellen kann, an dieser Schule zu unterrichten.

Die Kinder auf dem Schulhof waren sehr lebendig und manchmal auch frech, das könnte zu einem Angstgefühl führen. Aber im Endeffekt sind halt eben diese Kinder auch Kinder – das darf man nicht vergessen. Und ja, der Unterricht ist nicht immer einfach. Eine Struktur reinzubringen und eine Lernatmosphäre zu schaffen, das ist eine Herausforderung.

werkstatt.bpb.de: Welche Erfahrungen hast du beim Unterrichten gemacht?

Bahar Aslan: Am Anfang hatte ich damit zu kämpfen, überhaupt Unterricht durchzuführen. Der Trick besteht eigentlich nur darin, sich bei den Schüler*innen ein Standing aufzubauen. Wenn dieses Standing erst mal da ist und die Schüler*innen einen als Bezugsperson akzeptieren – als Autoritätsperson akzeptieren die einen am Anfang sowieso erst mal nicht – dann läuft eigentlich alles. Dann läuft der Unterricht, dann kann man auch Konsequenzen durchsetzen, ohne dass die Schüler*innen rebellieren.

Meiner Erfahrung nach hat rebellisches Verhalten von Schüler*innen immer etwas damit zu tun, dass sie sich durch Autoritätspersonen nicht gerecht behandelt fühlen. Wenn man es schafft, eine Bindung zu den Kindern aufzubauen und in der Kritik zu vermitteln, „das geht gar nicht um dich als Person, sondern das, was jetzt hier problematisiert wird, ist dein Verhalten“, dann akzeptieren die das.

Diese Kinder haben, anders als vielleicht Kinder auf dem Gymnasium oder der Realschule, in ihrem Leben zum Teil wenig Motivation, Zuwendung und Liebe erhalten. Die kriegt man dann besonders schnell, wenn man eine Offenheit signalisiert, sie lobt und zeigt, dass man auch gerne mit ihnen arbeitet.

werkstatt.bpb.de: Wo liegt der zentrale Unterschied zum Unterrichten an Schulen ohne die beschriebenen Problemlagen?

Bahar Aslan: Bei uns geht es erstmal um den Beziehungsaufbau und erst danach um den Unterricht. Wenn ich das Gefühl habe, der Unterricht wird heute nicht funktionieren, weil ein Kind Probleme zu Hause hat oder irgendwas in der Klasse passiert ist, dann stecke ich den Unterricht auch mal zurück. An meiner alten Schule gab es gefühlt jeden Tag Polizeieinsätze. Teilweise waren das Fälle, die meine Klasse unheimlich aufgewühlt haben. Dabei gab es auch Einsätze, bei denen sich die Polizei gegenüber den Kindern teilweise diskriminierend, teilweise auch körperlich danebenbenommen hat. Wo ich dann mehrmals in die Maßnahme eingreifen und darum bitten musste, dass das nicht so geschehen soll.

Wenn solche Probleme nicht im Schulalltag besprochen werden, finden sie andere Wege. Dann finden Unterrichtsstörungen statt, dann können sich die Kinder nicht konzentrieren. Vielleicht baut sich dann Wut oder Unverständnis auf, weil sie denken, dass ein Mitschüler oder eine Mitschülerin ungerecht behandelt wurde.

werkstatt.bpb.de: Du beschreibst zusätzliche Herausforderungen neben der reinen Lehrtätigkeit. Wieso hast du dich dennoch dafür entschieden, an einer solchen Schule zu unterrichten?

Bahar Aslan: Das hängt viel damit zusammen, wie ich meinen Beruf begreife und wie ich zur Politik der vergangenen Jahre stehe. Ich wusste von Anfang an, dass gerade solche Schulen Lehrer*innen brauchen, die tatkräftig präsent sind und mit anpacken. Kinder, die in solchen Stadtteilen zur Schule gehen, brauchen besondere Unterstützung und eine positive Lernatmosphäre, damit sie überhaupt zur Schule kommen. Das war meine Hauptmotivation: Schule für diese Kinder als positiven Ort zu gestalten.

Häufig haben diese Kinder keinen positiven Bezug zu Institutionen, weil sie im Alltag mit ihren Eltern auch immer wieder negative Erfahrungen machen – beim Arzt, der Behörde oder der Polizei. Das finde ich fatal. Das sind Kinder, die in meinen Augen deutsch sind, die hier geboren und aufgewachsen sind, hier zur Schule gehen. Wir müssen darüber sprechen, wie wir es schaffen können, diesen Kindern einen positiven Bezug zu diesem Land und seinen demokratischen Institutionen zu ermöglichen. Wenn es schon daran scheitert, positiven Bezug zur Schule als Institution herzustellen, wie soll das dann in Bezug auf die anderen Behörden und das demokratische System gelingen?

Ich glaube, viele meiner Kolleg*innen übersehen, dass wir gerade deswegen für diese Kinder einen Ort schaffen müssen, wo ihnen das Gefühl vermittelt wird: "Hier seid ihr willkommen, wir nehmen euch hier an, egal woher ihr kommt, egal wie ihr seid."

werkstatt.bpb.de: Thema Digitalisierung: Siehst du sie im Kontext von Bildungsungleichheit eher als Chance oder Herausforderung?

Bahar Aslan: Es gab an meiner alten Schule in jedem Klassenraum ein Smartboard. Es gab eine Dokumentenkamera, es gab einen PC mit Drucker und tatsächlich funktionierendes Internet. Ich habe also problemlos Unterricht mit den Geräten machen können. Das hat vieles erleichtert, weil gerade Hauptschüler*innen auch immer wieder einen Bezug brauchen: Wo bin ich gerade und was muss jetzt gemacht werden?

Trotzdem glaube ich, dass die Digitalisierung kein Allheilmittel ist. Die Pandemie hat gezeigt, dass viele Schulen technisch sehr prekär aufgestellt sind. Die digitale Ausstattung verbessert sich langsam, aber es stellt sich auch die Frage: Wenn man die Digitalisierung an den Schulen voranbringen möchte, wie sieht das mit der Schüler*innenschaft aus? Wenn ich in der Schule mit Tablets arbeite, die Kinder zuhause aber keine digitalen Endgeräte haben, dann ist das ein Problem. Gerade Kinder aus einkommensschwachen Familien müssen gezielt unterstützt werden, damit sie an digitaler Bildung teilhaben können.

werkstatt.bpb.de: Du bist selbst "Arbeiterkind". Welche Perspektive bringst du dadurch für den Lehrberuf mit?

Bahar Aslan: Dass soziale Benachteiligung und Ungleichheit im Bildungssystem ein Thema ist. Dass das nicht nur ich, sondern auch viele meiner Kolleg*innen, die eine vergleichbare Biografie haben, auch durchgemacht haben. Und dass es engagierte Lehrer*innen braucht, um diese Kinder im Bildungssystem zu entdecken und zu fördern.

Gleichzeitig aber auch, dass es nicht sein darf, dass der Bildungserfolg von bildungsbenachteiligten Kindern von dem Engagement einzelner Lehrkräfte abhängt. Sondern dass Bildungspolitik und Schule insgesamt mehr leisten müssen, um diese Kinder adäquat zu fördern.

Das Interview führte Leonie Meyer.

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Bahar Aslan unterrichtet als Lehrerin an einer Kölner Realschule die Fächer Englisch und Sozialwissenschaften. Daneben ist sie Lehrbeauftragte an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV NRW), tritt regelmäßig als Speakerin auf und publiziert zum Thema Rassismus.

Leonie Meyer war von 2021-2024 Redakteurin für werkstatt.bpb.de. Ihr thematischer Schwerpunkt liegt auf den Wechselwirkungen von Sozialen Netzwerken und Politik bzw. politisch-historischer Bildung. Leonie Meyer hat einen Hintergrund in der Politikwissenschaft und studierte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.