Das derzeitige Schulsystem ist nicht mehr zeitgemäß, lautete das weitgehend einhellige Urteil von Lehrkräften und Schulleitungen auf der Veranstaltung "Teachers On Stage" der Bildungsinitiative #WirfürSchule, die Ende September 2022 in Berlin stattfand.
"Es kann in der Schule nicht darum gehen, Antworten auf Fragen zu geben, die vor vielen Jahren einmal notiert wurden. Es geht darum, dem Leben zu begegnen, so wie es heute ist", fasste es Uli Marienfeld, Schulleiter an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum, zusammen. Der Schulentwickler Markus Teibrich sah es ähnlich: "Vieles wird im Unterricht vorgegeben; Interessen und Bedürfnisse können kaum berücksichtigt werden, wenn wir weiterhin ein so hohes Pensum an Lernstoff haben, der größtenteils wieder vergessen wird." Rieke Strehl, Gymnasiallehrerin für Mathe und Chemie, bekräftigte: "Die Welle zur Neugestaltung von Schule, die die Pandemie ins Rollen gebracht hat, pausiert." Und Nick Krichevsky, Lehrer und Fachbereichsleiter für Bildung für nachhaltige Entwicklung an der Hildesheimer Robert-Bosch-Gesamtschule, ging sogar noch weiter: "Eine gesellschaftliche Transformation hin zu mehr Verbundenheit mit sich selbst, zueinander und mit der Natur, setzt eine Bildungstransformation voraus."
Doch was ist mit dem Begriff "Bildungstransformation" konkret gemeint?
Digitalisierung spielt beim Diskurs um Bildungstransformation eine wichtige Rolle. So wurde vor allem während der Corona-Pandemie der Fokus darauf gelegt, wie Bildung digitaler werden kann. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) erklärte beispielsweise in ihrer Antrittsrede, dass sie sich in der laufenden Legislaturperiode vor allem auf das Voranbringen des Digitalpakts konzentrieren möchte, damit Unterricht "digitaler, moderner und sicherer" wird. Bei der Veranstaltung in Berlin vertraten die Teilnehmenden nun die Meinung, dass eine Bildungstransformation in Gang gesetzt werden müsste, die über den Aspekt der Digitalisierung weit hinausgeht.
Was ist Bildungstransformation?
Transformation wird nach dem Deutschen Institut für Urbanistik als grundlegender Wandel verstanden. Ein System wird von Grund auf verändert, und etablierte Strukturen werden hinterfragt und umgestaltet – die Transformationsforscherin Maja Göpel beschreibt es als "gegen den Strom der etablierten Pfadabhängigkeiten und Gewohnheiten (...) schwimmen". Auf die Bildung übertragen: Mit einer sich verändernden Gesellschaft und in einer Welt der Veränderung kommen neue Herausforderungen auf die Menschen zu, auf die sich Lernende heute bereits vorbereiten können. In der transformativen Bildung sollten daher laut Göpel grundlegende Fähigkeiten zur Zusammenarbeit, Haltungen und eine Orientierung mitgegeben werden, um große Veränderungen mitgestalten zu können.
Bildungstransformation in Deutschland
Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen formuliert 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, kurz: SDGs) – diese bekräftigen, was die Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung bereits 1992 formuliert hat: Bildung müsse auf allen Ebenen auf das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung ausgerichtet werden; nur dann könnten die SDGs erreicht werden. Bildung sei demnach ein entscheidender Schlüssel für gesellschaftliche Transformation.
Den SDGs steht der Nationale Bildungsbericht 2022 des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) gegenüber. Dieser identifiziert als größte Herausforderungen im aktuellen Bildungssystem die Zusammenarbeit von Bildungsakteurinnen und -akteuren, die Digitalisierung sowie Personalgewinnung und -qualifizierung. Das seien grundlegende Probleme, die eine nachhaltige Entwicklung schwer machen würden. Daher sei es wichtig, eine digitale Bildungstransformation anzustoßen, die ganzheitlich gedacht wird, so der Bericht.
Bildungstransformation für die Schule der Zukunft
Auf der Veranstaltung "Teachers On Stage" wurden erste Ansätze gezeigt, wie eine solche Schule der Zukunft aussehen kann. Lehrkräfte und Schulleitungen teilten ihre Best Practices im Unterricht mit dem Publikum.
Digitalisierung
Es sei wichtig, Digitalisierung ganzheitlich zu denken, damit auch Eltern das Potenzial der Digitalisierung erkennen, so Björn Nölte, Referent in der Schulaufsicht bei der Evangelischen Schulstiftung. Zur Digitalisierung in der Bildung gehöre mehr als nur eine digitale Ausstattung: Hinter digitalisiertem Unterricht stecke eine Grundhaltung, die einen zeitgenössischen und inklusiven Umgang mit interaktiven Lehrmethoden fordere. Die Nutzung digitaler Technologien müsse laut UNESCO in inklusive pädagogische Konzepte eingebettet werden, damit Chancengleichheit in der Bildung erreicht werden könne.
Dort setzt die Kultusministerkonferenz mit ihrer Strategie "Bildung in der digitalen Welt" an. Mit dieser wurde 2016 ein Handlungskonzept für die zukünftige Entwicklung der Bildung in Deutschland vorgelegt – 2021 erschien der Bericht zur Umsetzung der Strategie. Die grundlegende Erkenntnis ist, dass sich durch die Digitalisierung auch das Gesamtkonzept von Bildung verändern müsse. Durch die Digitalisierung komme es sowohl zu einem Wandel an technologischen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Praktiken als auch zu einem Wandel der relevanten Kompetenzanforderungen.
Das bekräftigten auch Dominik Petko, Beat Döbeli Honegger und Doreen Prasse in ihrem Vortrag zur Digitalen Transformation in Schulen. Der gesellschaftliche Wandel müsse in der Schule gespiegelt und thematisiert werden. Ein Ansatz dafür sei das sogenannte
Rolle und Kompetenzen von Lehrkräften und Lernenden
Mit einer Umsetzung solcher Modelle müsse auch eine Veränderung der Rolle von Lehrkräften und Lernenden einhergehen, so Nick Krichevsky. Er sprach sich in seinem Vortrag für eine aktive Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern in den Schulalltag aus. Wenn Lernende selbst mitentscheiden und Neues entstehen lassen könnten, führe dies laut Krichevsky zu mehr Selbstverantwortung und in der Konsequenz zu mehr Weltverantwortung. Dies stellte er beispielhaft am Projekt Årø dar: Schülerinnen und Schüler der Robert-Bosch-Gesamtschule organisieren seit 1989 jedes Jahr die sogenannte Sommerschule. Dabei verbringen der gesamte Jahrgang der 8. Klasse, Lehrkräfte, einige Eltern und Ehemalige vier Wochen auf der dänischen Ostseeinsel Årø. Das Besondere: Schülerinnen und Schüler organisieren gemeinsam mit den Lehrkräften den Ausflug auf die Insel und arbeiten überall mit – von der Reiseplanung über den Aufbau bis hin zum Programm. Dort sollen die Jugendlichen etwas über die Natur, aber auch über Gemeinschaft lernen. Die Sommerschule sei ein Ort zum Fehlermachen, um Dinge neu zu erlernen und Erfahrungen abseits der Unterrichtsstunden zu sammeln, fasst Krichevsky das Konzept zusammen.
Grundlegend für den Rollenwechsel von Lehrkräften sei, dass sie den Schülerinnen und Schülern immer zur Seite stehen und mit Empathie begegnen sollten, hielt Rieke Strehl fest. Das sei aber nur die Spitze des Eisbergs: Lehrende würden zukünftig weniger als Beurteilerinnen und Beurteiler, Wissensvermittlerinnen und Wissensvermittler denn als Kommunikatorinnen und Kommunikatoren sowie Kooperateurinnen und Kooperateure gefragt sein. Wichtige Voraussetzung hierfür sei, dass Lehrkräfte eine Haltung der Zurückhaltung übten: Sie müssten ihren Schülerinnen und Schülern Dinge zutrauen und versuchen, nicht alles kontrollieren zu wollen, so Schulentwickler Markus Teibrich.
Wie Lehrende Kontrolle abgeben und Schülerinnen und Schüler partizipieren könnten, zeigt das Beispiel der Heliosschule in Köln. In der Gesamtschule lernten die Schülerinnen und Schüler 2021 während des Projekts "Zukunft gestalten mit Mensch und Technik", wie digitale Technik im Unterricht angewendet wird und konnten darüber hinaus eigene Projektideen verwirklichen. Dabei erarbeiteten sie sich das Wissen in Gruppen mit Hilfe von Bausätzen, Filmen und Tutorials und begleitet und motiviert von ihren Lehrkräften selbst.
Rahmenbedingungen schaffen: Inhalte und Lernorte
In der Schule gehe es darum, Türen zu öffnen, ist Uli Marienfeld überzeugt. Schule sei das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten. Doch viel zu oft würden die Begabungen und Interessensfelder von Lernenden nicht erkannt und gefördert, sondern vom Curriculum untergraben. Aus diesem Grund fördere Marienfeld an seiner Schule das Projekt "Herausforderung", bei dem Lernende sich für drei Wochen eine Herausforderung suchen und diese meistern sollen – unterstützt wird dies mit 150 Euro pro Schülerin und Schüler. Die Herausforderung kann dabei alles sein: Ein Musikinstrument lernen, in Brandenburg wandern oder eine Fahrradtour in den Alpen machen. Schülerinnen und Schüler ab der 7. Klasse werden von volljährigen Mitschülerinnen und Mitschülern oder Studierenden begleitet. Dabei sei entscheidend, dass Lehrkräfte den Lernenden den Raum geben, sich auszuprobieren, ihnen Türen öffnen und sich dann überraschen lassen. Denn: "Es geht in der Schule nicht um Fächer – es geht zuerst und zuletzt um Menschen."
Bildung wird klassischerweise als etwas gesehen, das in der Schule stattfindet. Daniel Jeseneg, Schulleiter in Zeihen, Schweiz, spricht sich deshalb dafür aus, dass Schule und Welt wieder zusammenwachsen und es dafür sowohl schulische als auch außerschulische Lernorte geben müsse. Dadurch werde “die gegenwärtige Welt zum Lerngegenstand”, und Kinder könnten mehr fürs Lernen begeistert werden. Jedes Kind an der Grundschule Zeihen verbringt seit Oktober 2020 einen Vormittag pro Woche in der Natur, wo es lernen, arbeiten und spielen kann. Genauso wie Nick Krichevsky mit dem Projekt Årø möchte auch Jeseneg mit dieser "Draußenschule" Raum und Rahmen für Innovation und Partizipation schaffen.
Zu oft werde Bildungstransformation in Deutschland noch mit Digitalisierung gleichgesetzt, dabei sei sie viel mehr als das – so das Fazit der Veranstaltung "Teachers on Stage". Die Lehrenden wünschen sich, dass Schule in Zukunft ein Raum der Mitbestimmung, des Ausprobierens und des Erlebens wird.