Das Projekt "Fliegendes Klassenzimmer"
Das "Fliegende Klassenzimmer" ist ein Projekt des Vereins für Spiel- und Freizeitplätze Erfurt. In Kooperation mit der Firma ADICOM, der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie, dem Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung und dem Flughafen Erfurt-Weimar wird eine alte Passagiermaschine seit Ende 2017 zu Bildungszwecken umgebaut. Sie soll als außerschulischer Lernort für Schulklassen und Auszubildende dienen. Dabei stehen die Themen Klimaschutz, Unfallverhütung und Erklärbarkeit von KI im Fokus. Zur Wissensvermittlung werden KI-gestützte Software sowie Gamification-Elemente genutzt.
Das Teilprojekt "AI on the Fly" entstand aus der Ausschreibung zum Ideenwettbewerb "Gemeinsam wird es mit KI!" des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Das Fliegende Klassenzimmer soll Ende 2023 von den ersten Schulklassen besucht werden.
Herr Wehrstedt, können Sie uns etwas über die Anfänge des „Fliegenden Klassenzimmers“ erzählen?
Winfried Wehrstedt: Begonnen hat alles vor der Pandemie: Wir hatten ein Flugzeug auf dem Flughafen Erfurt Weimar, das damals für Brandschutzübungen für den Katastrophenschutz genutzt wurde. Der damalige Flughafendirektor wusste nicht so ganz, was aus dem Flugzeug werden sollte und da habe ich den Vorschlag unterbreitet, daraus ein fliegendes Klassenzimmer zu machen, frei interpretiert nach der literarischen Vorlage von Erich Kästner. Unser Ziel war es, Schulklassen aus ganz Thüringen nach Erfurt einzuladen, die bei uns eine Unterrichtsstunde absolvieren. Und dann, nach dieser Unterrichtsstunde, hätten sie noch die Möglichkeit, andere Orte des Flughafens kennenzulernen, beispielsweise die Wetterstation, die Flughafenfeuerwehr oder die Polizeihubschrauberstaffel.
Wie wird Künstliche Intelligenz konkret im Fliegenden Klassenzimmer eingesetzt?
Hans-Holger Wache: Künstliche Intelligenz hat in Deutschland einen relativ schlechten Ruf. Allerdings gibt es verschiedene Arten, mit künstlicher Intelligenz umzugehen. Es gibt die KI, die große Datensätze sammelt und diese dann im zweiten Schritt weiterverwendet. Wir nutzen beim Fliegenden Klassenzimmer eine wissensbasierte künstliche Intelligenz. Das heißt, bei uns fallen natürlich Daten an, während der Lernende an den Spielen sitzt, aber die werden hinterher gelöscht und sind nicht mehr verfügbar.
Was bedeutet das konkret?
Hans-Holger Wache: Wir nutzen die KI für adaptives Lernen: Wenn Schüler und Schülerinnen bei uns verschiedene Aufgaben lösen, dann zögern sie vielleicht an einer bestimmten Stelle. Das merkt die KI und gibt eine Hilfestellung, wenn die lernende Person nicht so schnell ist wie der Durchschnitt. Und damit ermöglicht sie es den Lernenden, das Ziel selbst zu erreichen und aus eigener Kraft die Aufgabe zu lösen. Das ist ein großer Unterschied, denn normalerweise ist es ja bei Fehlern so, dass man nochmal neu mit der Aufgabe anfangen muss. Das führt dazu, dass man frustriert ist – so aber entdeckt man mit Hilfe der KI den Fehler selbst. Und mit dieser Methode kommen wir auch schneller zu Lernergebnissen.
Klaus P. Jantke: Außerdem wollen wir sogenannte erklärbare künstliche Intelligenz im Fliegenden Klassenzimmer einbauen. Der Nutzer wird fragen können: Was hat die KI gemacht? Und warum hat sie das gemacht? Das nutzen wir vor allem bei den Präventionsspielen. Und wenn die Lernenden das fragen können, dann entwickeln sie natürlich auch ein Verständnis dafür, wie die KI arbeitet.
Weshalb ist es wichtig, KI im Unterricht zu behandeln und selbst kennenzulernen?
Klaus P. Jantke: Wir werden bestimmte technologische Entwicklungen nicht aufhalten können. Sie kommen auf uns zu und wir müssen sie beherrschen. Eine davon ist KI – sie macht Systeme flexibler und erlaubt damit, effizienter zu arbeiten und mehr Menschen zu erreichen. KI kommt also sowieso, deswegen sollten Menschen schon von klein auf verstehen, worum es sich dabei handelt. Und sie müssen es auch erleben. Es reicht nicht, Texte darüber zu lesen. Eine der häufigsten Fragen zum Thema KI ist: Ist die KI mein Gegner? Wir wollen jedoch erreichen, dass die Menschen KI verstehen und sehen, was eine KI im Wesentlichen ist und was sie kann. Und auch, was sie nicht kann.
Wie genau wollen Sie Lernenden die Funktionsweise von KI näherbringen?
Klaus P. Jantke: Lernende müssen natürlich zunächst einmal einen Zugang dazu finden, was KI überhaupt ist. Gerade bei jüngeren Menschen gibt es vielleicht noch wenig Berührungspunkte mit dem Thema. Meist wissen sie es aus digitalen Spielen, wo beispielsweise eine KI auf sie schießt und sie dann zurückschießen. Oder sie kennen NPCs (engl.: Non Playable Characters, dt.: Nicht Spielbare Charaktere), die von einer KI gesteuert werden. Wir wollen also helfen, dass junge Menschen zunächst genauer verstehen, was die KI eigentlich macht: sich adaptiv zu verhalten, sich autonom, also selbstständig zu verhalten, etwas von sich aus zu machen, verschiedene Dinge machen zu können. Und das ist natürlich nicht nur für junge Menschen wichtig, das müssen auch viele Erwachsene erst einmal verstehen.
Winfried Wehrstedt: Viele denken, dass die Schüler und Schülerinnen noch nicht so weit sind, sich mit dem Thema KI zu beschäftigen – dabei unterschätzen wir sie ungemein. Junge Menschen entwickeln mittlerweile durch den täglichen Umgang mit digitalen Medien so viel an Kenntnis und erwerben Wissen, das sie in der Schule häufig gar nicht vermittelt bekommen. Und indem wir sie an das Thema heranführen, geben wir ihnen die Möglichkeit, die KI nicht als Feind zu sehen, sondern als Begleiter. Klaus P. Jantke: Wir wollen KI durch das Fliegende Klassenzimmer niedrigschwellig vermitteln. Um KI erlebbar zu machen, bringen wir Aspekte ein, die im Bereich der Digital Games Science verortet sind. Hinter den Begriffen Extra und Meta Gameplay versteckt sich beispielsweise folgender Gedanke: Man spielt, aber manchmal kann man eine neue Qualität erreichen, indem man während des Spielens aus dem Spiel sozusagen aussteigt. Das nenne ich Extra Gameplay. Das ist so wie der Telefonjoker oder der Publikumsjoker bei einem Quiz, da holt man sich etwas von draußen hinzu. Das ist bei uns die erklärbare KI, indem Lernende während des Spiels fragen können: Wieso macht die KI das jetzt so oder so?
Welche Vorteile bieten KI-gestütztes Lernen und Gamification gegenüber herkömmlichen Lehr- und Lernmethoden?
Klaus P. Jantke: Wir versuchen mit Gamification-Elementen die Empfindungen der Spielerinnen und Spieler zu erreichen. Wir wollen sie also nicht nur rational ansprechen, sondern auch emotional. Wenn eine Erfahrung so gestaltet ist, dass man noch lange darüber nachdenkt, sind diese affektiven Medienerlebnisse auch in der Wissensvermittlung sehr viel effektiver als zum Beispiel einen Text zu lesen oder etwas auswendig zu lernen. Effektiv bedeutet für uns hier sowohl in Bezug auf die reine Wissensvermittlung, es schließt aber auch das Können und die Einstellung zum Lernen mit ein. Wir wollen mit dem Fliegenden Klassenzimmer wirkungsvolles Lernen ermöglichen. Und darauf setzen wir mit den Spielelementen.
Hals-Holger Wache: Das Flugzeug an sich macht schon neugierig und schafft Erwartungen. Die Lernenden sind in diesem Umfeld aufgeschlossener, sich mit Inhalten und Technologien auseinanderzusetzen, die in ihrem Alltag sonst nicht so einen hohen Stellenwert haben. Allein das macht das Lernen und natürlich alles, was dazugehört, wirkungsvoller.
Viele denken beim Thema Gamification an Onlinespiele, die in der Bildung eingesetzt werden oder Methoden, bei denen die Lernenden eine bestimmte Anzahl von Punkten pro Aufgabe erhalten und es am Ende einen Highscore gibt. Aber das Ziel von Gamification ist eigentlich, die Motivation zu erhöhen. Bei Videospielen sind es auch nicht unbedingt der Highscore oder die Rangliste, die Menschen motivieren, sondern die Tatsache, dass das Spiel Spaß macht. Gleichwohl gibt es im Gaming-Bereich auch problematische Phänomene wie Spielsucht, die man im Blick behalten sollte.
Das Bild von KI wird im Fliegenden Klassenzimmer schon sehr positiv vorgeprägt – inwiefern können sich Lernende selbst eine eigene Meinung zum Thema KI bilden?
Klaus P. Jantke: Das unmittelbare Erleben von KI ist natürlich hilfreich, um ein positives Bild davon zu stärken, das ist richtig. Die kritische Auseinandersetzung mit KI und die Fähigkeit, selbst zu urteilen, ist ein höheres Ziel, das wir mit dem Fliegenden Klassenzimmer auch erreichen wollen. Wenn man versteht, was die KI macht und warum sie etwas macht, hat man die Chance, auch etwas über die Grenzen von KI zu erfahren. Wir müssen also auch diese kritische Sicht erlebbar machen – und das erreichen wir durch Transparenz. Die Spielenden können am Ende eines Spiels zum Beispiel erkennen, dass der Beitrag der KI gar nicht so tiefsinnig war, oder sie sehen, nach welchen einfachen Regeln die KI agiert hat. Das regt natürlich sofort zum Nachdenken an, vielleicht auch dazu, zu hinterfragen, ob das nicht auch noch anders oder besser ginge.
Welcher Effekt von Gamification soll beim Lernen im Fliegenden Klassenzimmer erreicht werden?
Klaus P. Jantke: Wenn wir durch Gamification erreicht haben, dass die Wissensvermittlung Spaß macht, kommt die KI ins Spiel: Menschen rezipieren Medien sehr unterschiedlich – im Rahmen ihrer Erfahrungen, Vorlieben und gegenwärtigen Stimmung. Deswegen muss ein spielerisches Medium eigentlich, wenn man damit etwas lernen oder trainieren soll, auf den Menschen individuell eingehen. Im Prozess der Gamification haben wir die Möglichkeit, flexibel den Menschen etwas anzubieten und zu probieren, ob sie es mögen. Und je nachdem, wie sie sich verhalten, kann die KI das Angebot modifizieren. Und dann sind wir dabei, dass das digitale System adaptiv ist, sich also an seine Nutzerinnen und Nutzer anpasst.
Gibt es dabei eine Verknüpfung zum analogen Raum?
Klaus P. Jantke: In den Klassenzimmern passiert ja auch „natürliche Intelligenz“: Wenn man als Lehrende oder Lehrender den Studierenden in die Augen schaut und am Gesichtsausdruck sieht “Das muss ich anders sagen” oder “Das mache ich jetzt mal neu”, das ist Adaptation, da passt man sich den Menschen an. Und beim Fliegenden Klassenzimmer benötigen wir diese Anpassung genauso, dort eben in Form einer KI. Winfried Wehrstedt: Dadurch, dass das Fliegende Klassenzimmer analoge und digitale Elemente verbindet, sind auch die Kompetenzen vernetzt. Im analogen Bereich wird natürlich zuerst einmal eine Vielzahl von Erfahrungen und Kenntnissen vermittelt. Es geht um das Gemeinschaftsgefühl, um Zusammenhalt, das Vertrauen, die durch die Arbeit im Fliegenden Klassenzimmer gefördert wird. Sowohl der analoge als auch der digitale Raum müssen zusammenspielen. Erst in der Symbiose beider ergibt sich dann das, was wir eigentlich erreichen wollen.
Welche Rolle kann erklärbare KI in der politischen Bildung einnehmen?
Klaus P. Jantke: Wir gestalten unsere Gesellschaft. Und dabei stellt sich die Frage, ob alle Menschen daran gleichermaßen teilhaben oder ob sie sich aus dieser Teilhabe zurückziehen oder meinen, dass die Teilhabe ihnen gar nicht gegeben ist, weil sie es sowieso nicht können. Deshalb fragen wir uns: Wie können wir den Menschen vermitteln und sie dazu befähigen, dass sie KI gestalten können, dass sie mitmachen können und ihnen zu zeigen, dass diese Entwicklung nicht zwangsläufig eine bedrohliche ist, sondern eine ist, die wir mitprägen können.
Welches Potenzial sehen Sie im Fliegenden Klassenzimmer als Lernort? Und welchen Einfluss hat der Ort auf das Lernen?
Winfried Wehrstedt: Es gibt 300 Schultage im Jahr, wo die Schülerinnen und Schüler in der Regel in der Schule sind. Sie kennen den Klassenraum und ihre Fachräume in- und auswendig und das erdrückt sie oftmals. Klar, es gibt mal einen Wandertag oder Exkursionstag, aber darüber hinaus vermisse ich doch eine gewisse Kreativität im Umgang mit dem Lernort. Und da wollen wir zumindest den Schülern und Schülerinnen die Möglichkeit bieten, auch mal an einem Ort zu sein, den sie vielleicht gar nicht als Lernort identifizieren.
Hans-Holger Wache: Es werden sicherlich auch Leute kommen, die sich für die Themen KI oder beispielsweise auch Klimaschutz gar nicht interessieren. Aber vielleicht interessieren sie sich für den Lernort – und dann ist möglicherweise der Nebeneffekt, dass sie dort vielleicht auch noch ein bisschen Wissen aufschnappen. Künstliche Intelligenz ist nützlich, sie macht Dinge effizienter. Aber noch mehr wollen wir Lernende motivieren, sich mit Themen auseinanderzusetzen.
Über die Gesprächspartner
Dr. Winfried Wehrstedt ist Mitbegründer des Fördervereins Spiel- und Freizeitplätze der Generationen in Erfurt e.V. Ziel des Vereins ist die Erneuerung von Spiel- und Freizeitplätzen sowie deren Ausbau zu Mehrgenerationentreffpunkten in der Thüringer Landeshauptstadt. Zudem ist er Gründer der WIA Osteuropa und dort seit 1989 als geschäftsführender Gesellschafter tätig.
Prof. Dr. Klaus P. Jantke ist Chief Scientific Officer der ADICOM Group und ADICOM Software KG Weimar sowie Lehrbeauftragter an der FH Erfurt. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören u.a. Spieleforschung, Wirkungsweise, Game-Based Learning, Training mit Time Travel Prevention Games, Lernende Systeme, KI-Assistenzsysteme, und Erklärbare KI. Von 1990 bis 1996 war er als Fachbereichsdirektor für Mathematik und Informatik an der TH Leipzig beschäftigt sowie der erste frei gewählte Dekan der Fakultät Informatik, Mathematik und Naturwissenschaften.
Hans-Holger Wache ist diplomierter Chemiker und als Aufsichtsperson bei der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI) tätig. Er betreut und berät hier Mitgliedsunternehmen, die bei der BG RCI versicherten Branchen angehören. Zusätzlich leitet er interaktive Multimedia- und Virtual Reality-Projekte und ist auch als Trainer tätig.
Das Interview führte Sophia Suckel.