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Digitale Nachhilfe bietet nicht den Königsweg zu mehr Bildungsgerechtigkeit | Pro & Contra: Digitale Nachhilfe auf Knopfdruck | bpb.de

Debatte Pro & Contra: Digitale Nachhilfe auf Knopfdruck

Contra-Beitrag

Digitale Nachhilfe bietet nicht den Königsweg zu mehr Bildungsgerechtigkeit

Heinz-Peter Meidinger

/ 3 Minuten zu lesen

Nur eine breit implementierte, individuell angepasste Langzeit-Betreuung kann einen sinnvollen Schritt zu mehr Bildungsgerechtigkeit leisten, ist Heinz-Peter Meidinger überzeugt. Digitale Nachhilfe auf Knopfdruck könne diesem Anspruch nicht gerecht werden.

Heinz-Peter Meidinger meint, nur individuelle, langfristige Betreuung von ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen kann nachhaltige Lernunterstützung und damit einen Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit schaffen. (© CDC Externer Link: pexels.com)

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands (© Deutscher Lehrerverband)

Bei allen Problemen, Schwierigkeiten und technischen Hemmnissen – infolge der Corona-Pandemie haben sehr viele Eltern, Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler zum ersten Mal die Chancen und Möglichkeiten von digitalen Lernangeboten erfahren und erleben können. Da stellt sich die Frage, ob auch nach Ende der Schulschließungen digitale Lernangebote, also z.B. Online-Nachhilfe aufrechterhalten und weiterentwickelt werden sollen. Nachhilfe auf Knopfdruck, jederzeit, in allen Fächern und Jahrgangsstufen, ist das vielleicht der Gamechanger auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit?

Ich bin da sehr skeptisch, insbesondere, was die kommerziellen Start-ups und Lernplattformen im Bereich Nachhilfe angeht, die derzeit überall expandieren und aus dem Boden schießen. Das Versprechen der umfassenden, individuellen und auch kostengünstigen Alternative zu bisherigen analogen Nachhilfeangeboten stößt in der Praxis schnell an Grenzen.

Erfolgreiche Nachhilfe ist immer von mehreren Faktoren abhängig: einer Lehrkraft, die die jeweiligen curricularen Anforderungen genau kennt, und die sind bei 16 Bundesländern und über 60 verschiedenen Schularten allein im allgemein bildenden Bereich enorm unterschiedlich, ein gutes, motivierendes persönliches Verhältnis zwischen Lehrkraft und Lernendem sowie Kontinuität und eine gewissen Zeitdauer. Nicht von ungefähr sind bei analogen Nachhilfeangeboten gute Erfahrungen mit einzelnen Lehrkräften bzw. die Weiterempfehlungen anderer Eltern die häufigste Entscheidungsgrundlage.

Gegenmeinung

Durch ein kostenloses Peer-to-Peer-Angebot bieten Nachhilfeangebote Schülerinnen und Schülern die Chance auf niedrigschwellige Lernunterstützung. Richtig implementiert können derartige Plattformen eine inklusive Wirkung haben, kommentiert Marc Fabian Buck.

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Das ist bei der digitalen Nachhilfe auf Knopfdruck oft anders. Weder hat man großen Einfluss auf die Person der Nachhilfelehrkraft, noch kann man sich sicher sein, dass diese die jeweilige schulische Situation und die Lernanforderungen genau kennt. Gerade im digitalen Nachhilfesektor wechseln die Lehrkräfte bekanntlich besonders häufig. Meist ist digitale Nachhilfe zwar etwas günstiger als analoge, aber trotzdem können sich viele Familien auch diese kaum leisten, es sei denn, dass im Rahmen des Corona-Aufholprogramms oder des Bildungs- und Teilhabepaktes solche Angebote vom Staat bezahlt werden.

Etwas anders sieht es aus mit den ehrenamtlichen Nachhilfeangeboten und den Plattformen, auf denen wie etwa auf Externer Link: naklar.io Studierende und andere Freiwillige kostenlose Nachhilfe anbieten. Ich habe größten Respekt vor diesem idealistischen Engagement. Aber auch hier sollte man nicht zu viel erwarten, was die Verwirklichung von mehr Chancengleichheit und mehr Bildungsgerechtigkeit angeht. Die schmerzhafteste Erfahrung während der Zeit der Schulschließungen bestand in der Erkenntnis, dass wir während des Distanzunterrichts – auch da wo er funktionierte – vor allem Kinder aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Schichten nicht erreicht haben. Das hatte unterschiedliche Ursachen: zu wenig tastaturfähige Geräte, geringe Bildungsmotivation, kaum elterliche Unterstützung. Gerade für diese Schülerinnen und Schüler ist der persönliche Kontakt, die Face-to-face-Motivation im Rahmen des Präsenzunterrichts, der direkte Zugriff essentiell.

Über "naklar.io"

Externer Link: Naklar.io ist eine kostenlose Nachhilfeplattform, die Lernunterstützung für Schüler/-innen bietet. Studentische, ehrenamtliche Tutoren/-innen können auf der Plattform für Termine angefragt werden und sich im Anschluss über Video- oder Audiotelefonate auf der Plattform Big Blue Button mit Schülern/-innen verbinden, um bei Fragen zu Schulstoff und -aufgaben zu helfen. Naklar.io gründete sich im Rahmen des #wirvsvirus Solution Enabler Programms unter Schirmherrschaft des Bundeskanzleramts und wird im Rahmen der Förderinitiative digital.engagiert von Amazon AWS und dem Stifterverband gefördert. Darüber hinaus bestehen Partnerschaften zu weiteren Unternehmen. Naklar.io betreut neben der Plattform weitere Tutoring- und Vernetzungsprojekte und kooperiert u.a. mit bayerischen Schulen, dem Münchner Referat für Bildung und Sport oder dem sächsischen Staatsministerium für Kultus, das innerhalb des Systems eine eigene Plattform für sächsische Schüler/-innen eingerichtet hat. Laut eigener Aussage sammelt naklar.io so wenig Daten wie technisch nötig und läuft auf bayerischen Servern mit einem ISO-Sicherheitsstandard. Die Datenschutzerklärung ist Externer Link: hier einsehbar.

Warum also ausgerechnet freiwillige digitale Nachhilfe auf Knopfdruck zu besserer Förderung führen soll, erschließt sich mir nicht. Letztendlich wird eine Zusatzförderung, egal ob analog oder digital, nur dann einen Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit leisten können, wenn sie für diejenigen, die Nachholbedarf haben, auch verpflichtend ist. Das setzt voraus, dass ein umfangreiches kostenloses, vom Staat finanziertes Angebot für mindestens 20 Prozent aller Schüler vorgehalten wird. Davon sind wir allerdings meilenweit entfernt.

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Pro-Beitrag

Mehr Medien, mehr Chancen, mehr Möglichkeiten

verfasst von Heinz-Peter Meidinger

Durch ein kostenloses Peer-to-Peer-Angebot bieten Nachhilfeangebote Schülerinnen und Schülern die Chance auf niedrigschwellige Lernunterstützung und wirken dadurch inklusiv, sagt Marc Fabian Buck.

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Heinz-Peter Meidinger ist Präsident des Dachverbandes Deutscher Lehrerverband und pensionierter Gymnasialschulleiter. Von 2004 bis 2017 war er Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbands.