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Oral-History-Archiv zu Fluchtgeschichten | Digitale Bildung und Geflüchtete | bpb.de

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Oral-History-Archiv zu Fluchtgeschichten

Mohammad Sarhangi Daniel Seitz Theresa Kühnert

/ 6 Minuten zu lesen

Das "Archiv der Flucht" versammelt 44 Interviews über Fluchterfahrungen nach und in Deutschland. Über das Projekt und die dazugehörigen Bildungsmaterialien sprechen Mohammad Sarhangi und Daniel Seitz.

Im Rahmen des Projekts "Archiv der Flucht" werden auch Workshops gehalten. (© Haus der Kulturen der Welt, Foto: Sebastian Bolesch)

Was genau ist das Archiv der Flucht?

Mohammad Sarhangi: Das Externer Link: Archiv der Flucht ist ein Online-Archiv mit Oral-History-Interviews mit Menschen, die zwischen 1945 und 2016 nach Deutschland emigriert oder geflohen sind. Das Projekt hat mit einer Idee der Publizistin Carolin Emcke angefangen, die damit an Stefanie Schüler-Springorum vom Zentrum für Antisemitismusforschung herangetreten ist. Auch Manuela Bojadžijev, die Professorin am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität in Berlin ist, war von Anfang an mit dabei. Es wurde überlegt, ein von der Form her ähnliches Oral-History-Online-Archiv wie die Externer Link: Archive zur Erinnerung an die Shoah zu konstruieren und zu erbauen. Aber eben mit dem Fokus auf Migration und Flucht. Der zweite Schritt war, ein Team aus Interviewer*innen zusammenzustellen. Dieses Team war sehr divers. Da hatte ich das Glück, von Anfang an dabei zu sein.

In mehreren internen Workshops haben wir ausgelotet, wie die Interviews zusammengestellt werden, wen wir interviewen wollen und wie wir die Interviews führen. Und dann ging es langsam darum, Menschen zu finden, die bereit sind, ihre Geschichten zu teilen. Wir haben geschaut, dass auch bei den Gesprächspartnerinnen eine große Diversität vorherrscht – bezüglich Geschlecht, sexueller Orientierungen und Identitäten, aber auch verschiedener religiöser Hintergründe und Herkunftsländer. Nach dieser Zusammenstellung haben wir dann angefangen zusammen mit einem Dokumentarfilm-Team die Interviews zu drehen.

Entstanden ist diese Idee vor dem Hintergrund der sogenannten Flüchtlingskrise 2015. Ich denke aber, dass diese Idee in Carolin Emcke schon lange gegoren hat: ein Archiv zu haben, das nicht nur von Flucht nach Deutschland erzählt, sondern das auch erzählt, wie es ist, hier anzukommen. Das erzählt wie es ist, nicht nur Teil der deutschen Geschichte zu sein, sondern auch zur deutschen Geschichte beizutragen. Wenn wir uns Geschichte und deutsche Historiographie anschauen, dann ist die Perspektive der Migrant*innen kaum vorhanden. Migrant*innen werden, wenn, dann kurz am Rande erwähnt und dann oft nicht wirklich als Teil der deutschen Gesellschaft. Das Archiv der Flucht kann dazu beitragen, dass noch mehr darauf geachtet wird, dass ein "Wir", zu dem auch ich dazugehöre, Teil der deutschen Geschichte ist und sie auch mitgestaltet.

Historiker Mohammad Sarhangi. (© Christian Kautz)

Wie ist das Archiv aufgebaut?

Mohammad Sarhangi: Das Kernstück des Archivs sind die Interviews für das Online-Archiv. Das Archiv wird ergänzt durch die Bildungsmaterialien von mediale pfade. Es wurde überlegt, wie wir die Interviews in die politische oder auch kulturelle Bildung einbeziehen können. Und das ist mit den Bildungsmaterialien nun möglich. Und zum Projekt gehörte natürlich auch eine Präsentation im Haus der Kulturen der Welt, dort sollte es auch eine große Öffentlichkeit bekommen.

Wie sind die Bildungsmaterialien entstanden? Und wer ist die Zielgruppe?

Daniel Seitz: Die Materialien sind aufbauend auf den Interviews entstanden. Die Zielgruppe ist ähnlich zu jener des Online-Archivs selbst, aber nicht identisch. Das HKW erreicht ein sehr großes, breites, aber wahrscheinlich auch insgesamt eher akademisches, bildungsbürgerliches Publikum. Wir wollten das noch mal erweitern und die Interviews so zugänglicher machen.

44 Interviews mit bis zu fünf Stunden Länge sind wunderbar, wenn man sich das anschaut. Aber es ist natürlich nicht die typische jugendliche Nutzungsgewohnheiten im Kontrast zu TikTok und Co. Und das war unser Anspruch, das Publikum, das sowieso erreicht wird, nochmal zu erweitern und dabei sowohl schulische als auch außerschulische Bildungskontexte in den Blick zu nehmen. Wir haben eine Kooperation mit den Goethe-Instituten, insbesondere in Ost- und Südosteuropa. Es gab die Idee, das Archiv dort "wieder" hinzubringen – zum Beispiel an die EU-Außengrenzen, ganz stark in Griechenland, wo es Ausstellungen dazu gab und wo es natürlich auch noch mal einen ganz anderen Blick auf das Archiv gibt. Wir haben mit Bibliotheken in Berlin, aber auch bundesweit, zusammengearbeitet. Wir hatten Fokusgruppen von verschiedensten größeren Institutionen, die da auch noch mal mit draufgeblickt haben. Durch die Förderung von der Bundeszentrale für politische Bildung haben wir eine gute Reichweite. Und mit den zehn verschiedenen Bildungsansätzen, die wir am Ende veröffentlicht haben, haben wir auch versucht, eine thematische Bandbreite hinzubekommen, um möglichst viele Menschen zu erreichen.

Wie ist das Bildungsmaterial strukturiert?

Medienbildner Daniel Seitz. (© Daniel Seitz)

Daniel Seitz: Vielleicht erst mal zu den Externer Link: Themenschwerpunkten: Wir standen vor der Herausforderung der Masse an Materialien und Informationen. Wir haben es natürlich bis heute nicht geschafft alles anzuschauen, weil es einfach so wahnsinnig viele Stunden an spannenden Inhalten sind. Daher haben wir es erstmal in drei Kategorien gefasst: Rassismuskritik, Flucht und Migration sowie Oral History. Also wie wird Geschichte überhaupt geschrieben, was ist das Format Oral History und damit das Besondere an diesem Archiv? Denn leider ist das bis heute in der Geschichtsschreibung, aber auch in der Geschichtsaufarbeitung und im Geschichtsunterricht gar nicht so stark Thema – die Frage wie überhaupt Geschichte entsteht und aus welcher Perspektive sie erzählt wird.

Das waren unsere groben drei Kategorien und innerhalb dieser haben wir verschiedene mediale Ansätze entwickelt: von datenjournalistischen Zugängen über Podcasts oder TikTok haben wir Formen gewählt, um möglichst nah an jugendlichen Mediennutzungsgewohnheiten zu sein und aktive Medienarbeit mit einfließen zu lassen. Wir haben die Interviews als Ausgangspunkte gesetzt um dann an die eigenen Geschichten von den Jugendlichen und auch die Migrationsgeschichten, die in den Klassen und Peer-Kontexten vorhanden sind, anzuknüpfen, sie auch als Ressourcen mit einzubringen. Wir wollten nicht, dass die Jugendlichen den Eindruck von "Guckt euch die Videos an und lernt dabei" bekommen und haben deswegen versucht, die Interviews möglichst partizipativ zu bearbeiten.

Und unter welcher Lizenz stehen die Materialien?

Daniel Seitz: Für uns sind offene Lizenzen superwichtig. Wir arbeiten mit öffentlichen Geldern und wollen damit auch öffentliche Werte schaffen. Deswegen steht alles was wir erstellen, produzieren und veröffentlichen unter einer freien Lizenz, wenn irgendwie möglich. Deswegen sind alle Materialien im Sinne von Open Educational Resources (OER) lizensiert. Das heißt, die Inhalte sind frei zugänglich, frei weiter bearbeitbar, konvertierbar und erweiterbar. Wir hoffen, dass die Ansätze sich verbreiten und nochmal Anpassungen an bestimmte Zielgruppen finden. Das ist durch die freie Lizenz (CC-BY) möglich. Das Archivmaterial selbst ist nicht unter freier Lizenz, aber eben frei zugänglich und damit kann es in Bildungskontexten eingesetzt werden.

Entstand das Bildungsmaterial in Zusammenarbeit mit der Zielgruppe?

Daniel Seitz: Da die Bildungsmaterialien entstanden sind, als das Archiv noch nicht veröffentlicht war, waren wir dahingehend ein bisschen eingeschränkt. Das heißt, wir konnten es nicht ganz so offen und partizipativ machen, wie wir das sonst gewohnt sind. Bis zu einem gewissen Punkt haben wir das Ganze im Team entwickelt. Dann haben wir die Materialien aber mit Jugendlichen erprobt und da sehr enge Feedbackschleifen gemacht und die Materialien weiterentwickelt. Wir hatten viele Fokus- und Testgruppen, um zu überprüfen, ob das Material so funktioniert.

Veröffentlich wurde es im Oktober 2021. Seitdem gab es einige Anfragen. Wie viel es tatsächlich genutzt wird, wissen wir nicht so genau. Bei verschiedenen Workshops, wo mit den Materialien gearbeitet wurde, zum Beispiel an Berliner Bibliotheken, an Schulen und auch an außerschulischen Bildungseinrichtungen, waren wir selbst beteiligt. Es ist auf jeden Fall für die Kürze der Zeit sehr gut angelaufen und angenommen worden.

Wir haben es von Anfang an so entwickelt, dass die Materialien sowohl in Präsenz als auch im Distanzunterricht funktionieren. Wir haben zusätzlich zu den OER-Materialien auch noch verschiedene Tools entwickelt. Das eine ist ein Externer Link: Chat-Simulator um jugendgerecht dialogisch Ergebnisse zu produzieren. Dafür haben wir ein eigenes Open-Source-Tool entwickelt, wo im Chat die Ideen und Dokumentationen von den Jugendlichen geschrieben werden können. Und das andere ist ein Mozilla Hub-Space, wo man sowohl im Browser als auch in Virtual Reality einen Externer Link: Online-Lernraum hat, der extra für das Archiv der Flucht entwickelt wurde.

Welches der Interviews würden Sie als Einstieg ins Archiv der Flucht empfehlen?

Mohammad Sarhangi: Also tatsächlich ist es sehr schwer, sowas zu sagen. Deswegen versuche ich es mal andersherum, von den Interviewenden ausgehend. Und ich würde immer mit Carolin Emcke anfangen.

Daniel Seitz: Ich tu mich auch schwer. Nicht, weil ich nicht sofort vor Augen hätte, was für tolle Interviews ich gesehen habe, sondern weil ich es umgekehrt so schade fände, Einzelne zu bevorzugen. Es gibt einfach wahnsinnig viele spannende Perspektiven. Ich würde erst einmal überlegen, was ein historisch spannender Moment ist, den man selbst sehen will: zum Beispiel die deutsch-deutsche Geschichte oder ein aktuelles Beispiel, etwa eine Fluchtgeschichte aus Syrien. Aber ich glaube, man kann grundsätzlich nichts falsch machen, und ich kann nur empfehlen, viele Stunden im Archiv zu verbringen. Da gibt es wirklich viel zu lernen.

Das Interview wurde von Theresa Kühnert geführt.

Weitere Inhalte

Mohammad Sarhangi ist Historiker und zurzeit als Bildungsreferent bei Externer Link: ufuq.de tätig. Davor arbeitete er am Haus der Kulturen der Welt und war dort unter anderem für Outreach, sowie wissenschaftlich-kuratorische Fragen für das Externer Link: Archiv der Flucht verantwortlich.

Daniel Seitz ist Geschäftsführer von Externer Link: mediale pfade, einem Verein für Medienbildung, vor allem in der politischen Bildung. Für das Haus der Kulturen der Welt entwickelte mediale pfade das begleitende Bildungsmaterial für das Externer Link: Archiv der Flucht.

Theresa Kühnert ist seit Juli 2019 als Redakteurin für Externer Link: werkstatt.bpb.de tätig. Davor studierte sie Sozial- und Politikwissenschaften in Leipzig sowie Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts an der FSU Jena. Seit 2020 betreut sie außerdem verschiedene Projekte im Bereich der historisch-politischen Bildungsarbeit.