Welche Reformen des vergangenen Jahrhunderts haben unser heutiges Schulsystem am stärksten geprägt?
Marianne Demmer: Auf struktureller Ebene haben vor allem solche Reformen das Schulsystem geprägt, die das gemeinsame Lernen aller Kinder – unabhängig von ihrer Herkunft – zum Ziel hatten: Das war in den 1920er Jahren in der Weimarer Republik die gemeinsame vierjährige Grundschule, nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der späteren DDR die gemeinsame achtklassige, später zehnklassige Einheitsschule (die 1990 im Zuge der Wiedervereinigung wieder abgeschafft wurde), in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik neben dem traditionellen mehrgliedrigen Schulsystem die Ermöglichung integrierter Gesamtschulen in den Klassen 5 bis 13 und seit zehn Jahren in Teilbereichen der Übergang zu einem inklusiven Schulsystem als Reaktion auf entsprechende Externer Link: Beschlüsse der UN.
Daneben gab und gibt es strukturelle Reformen, die auf die größere Eigenständigkeit der Einzelschule zielen. Hier ist vor allem die ab den 2000er Jahren als Folge des sogenannten PISA-Schocks
Dana Maria Kier: In den 1970ern wurden in der Bundesrepublik außerdem neue Schulfächer eingeführt, wie beispielsweise Gesellschaftslehre als Verbundfach zwischen Politik, Erdkunde und Geschichte. Die politische Bildung, die hier implementiert wurde, wurde als zukunftsfähig für die moderne Gesellschaft angesehen.
Parallel wurden auch universitäre Strukturen weiter reformiert und neu erschlossen. Es gab somit einen enormen Anstieg an Bildungszugängen – also mehr Möglichkeiten, sich vor allem im akademischen Bereich zu betätigen. Es wurden nicht nur neue Institutionen geschaffen, sondern auch neue fachdidaktische Wissenschaftsbereiche, etwa die Geschichts- und Politikdidaktik.
In Teilen der Bildungspolitik, der Wissenschaft und der Bevölkerung war seinerzeit die Wahrnehmung verbreitet, dass das Schulsystem in einer Krise stecke. Aus dieser gesellschaftlichen Stimmung heraus ergab sich ein Reformeifer, der zu den grundlegenden Änderungen im Schulsystem als Bewältigungsstrategie führte.
Welche Rolle spielten Krisen oder solche wahrgenommenen Krisen denn in Bezug auf vergangene Schulreformen und welche heute?
Dana Maria Kier: Die Struktur, dass Reformphasen durch Krisen ausgelöst werden, erkennt man immer wieder. Der PISA-Schock ist dafür ein klassisches Beispiel. Ausgehend von einer gesellschaftlichen Wahrnehmung, dass das Schulsystem nicht mehr zukunftsfähig sei, wurden Reformen als Bewältigungsstrategie herangezogen. Unter anderem wurden zentrale Abschlussprüfungen und das G8-System eingeführt. Aktuell befinden wir uns in der Corona-Krise, die Ausgangspunkt und Anstoß für Reformen in Bezug auf Digitalisierung sein könnte.
Was glauben Sie, bedarf es immer einer Krise, um Schulreformen durchzusetzen?
Dana Maria Kier: Nicht unbedingt, aber Krisen können den Blick auf Leerstellen im Bildungssystem lenken. In den 1970er Jahren war es beispielsweise ein schleichender Prozess hin zur Wahrnehmung, dass das Schulsystem nicht mehr den industriellen Anforderungen der Zeit und den individuellen Anforderungen der Schülerinnen und Schüler entsprach. Das hatte sich in den 1960er Jahren schon angedeutet. Bildung gilt in Deutschland als "Ländersache". Wie bewerten Sie diese Trennung der Zuständigkeiten – etwa hinsichtlich der Anpassungsfähigkeit des Schulsystems an gesellschaftspolitische Veränderungen?
Marianne Demmer: Der Bildungsföderalismus in Deutschland ist ein zentrales Merkmal der deutschen Bildungspolitik. Er führt zu uneinheitlichen Entwicklungen in den Bundesländern, verlangsamt Entscheidungsprozesse und bringt oftmals wenig zufriedenstellende Kompromisse hervor. Er eignet sich jedoch gut, um auf regionale Unterschiede einzugehen und sich an die Kultur von Bundesländern anzupassen.
Dana Maria Kier: Das föderale System hat sich über Jahrzehnte, in Teilen sogar über Jahrhunderte entwickelt. Um den Problemen des Bildungsföderalismus, wie beispielsweise der genannten Schwerfälligkeit bei Entscheidungsprozessen, entgegenzuwirken, müsste die Menge an Entscheidungsträgern reduziert werden. Meiner Meinung nach braucht es eine zentrale Arbeitsgruppe, die unabhängig von den einzelnen föderalen Staaten Vorgaben treffen kann. Nicht nur vonseiten der Bildungspolitik, sondern mit unterschiedlichen Interessenvertretern und -vertreterinnen. Es braucht neben den schulischen und bildungspolitischen Sichtweisen auch wissenschaftliche Perspektiven. Natürlich haben wir es mit einem traditionellen System zu tun, aber um Lösungen für neuartige Probleme zu entwickeln, kann man sich in den seltensten Fällen auf Tradition berufen.
Marianne Demmer: Föderalismus muss aber auch nicht zwangsläufig zu einem Reformstau führen. Verglichen mit der Schweiz, deren Schulsystem auch föderal organisiert ist, sind die Entscheidungsfindungsprozesse in Deutschland sehr schwerfällig. In der Schweiz ist es so, dass bildungspolitische Vorschläge einzelner Kantone für alle gelten, wenn die anderen Bundesländer nicht widersprechen. In Deutschland muss die Kultusministerkonferenz immer einheitlich beschließen, wenn es um substanzielle Änderungen geht. Dadurch kann ein einzelnes Bundesland eine fortschrittliche Schulpolitik verhindern.
Welche Lehre kann aus der Corona-Pandemie gezogen werden, wenn es um die Anpassung des Schulsystems an die digitalen Möglichkeiten des 21. Jahrhundert geht?
Marianne Demmer: Die Pandemie hat die Lösungsfindung für praktische Probleme im Bildungsalltag angekurbelt. So wurde z.B. durch den Wechselunterricht sehr deutlich, wie viel effektiver das Lernen in kleinen Gruppen ist. Auch wird man im Laufe der nächsten Jahre den Internetzugang für Schulen vermutlich verbessern. Der in der Pandemie notwendig gewordene digitalgestützte Unterricht hat technische Probleme offenbart, die eigentlich schon längst offensichtlich waren, aber nicht konsequent angegangen wurden.
Die Schulen befinden sich beispielsweise immer noch in einer Situation, in der ein Großteil der Wartung der digitalen Geräte, die im Unterricht genutzt werden, von der Lehrerschaft selbst übernommen wird. Dabei wäre die Bereitstellung einer intakten Infrastruktur eine Aufgabe der Kommunen. Aber wie wir wissen: die einen Kommunen sind arm, die anderen reich. Diese Diskrepanzen tragen auch maßgeblich zu den ungleichen Bildungschancen in Deutschland bei.
Wie kann sich digitale Kompetenz an deutschen Schulen auch langfristig etablieren?
Dana Maria Kier: Die Digitalisierung ist nichts Neues. Damit diese auch an den Schulen ankommt, braucht es sowohl Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer als auch ausreichende Möglichkeiten für Schülerinnen und Schüler, den Umgang mit digitalen Medien zu erlernen. Das betrifft den Umgang mit der Hardware, aber auch das Erkennen von Risiken, die mit dem Umgang digitaler Medien verknüpft sind. Die bildungspolitische Leitfrage sollte dabei lauten: Wie kann es gelingen, Schülerinnen und Schüler bestmöglich für die Zukunft und die Anforderungen, die diese an sie stellt, auszubilden?
Die Problematik besteht darin zu schauen, wie man das in die Lehrpläne implementieren und geeignete Medienbildung gewährleisten kann. Das ist nicht kurzfristig zu lösen, sondern braucht mehrere Jahre Planung und vielleicht auch eine permanente Reform, um die Wirkungen an den Schulen miteinzubeziehen und zu schauen, wie sich gewisse Reformansätze in der Praxis umsetzen lassen. Die aktuellen technischen Bedarfe in der Pandemie wurden bei vergangenen Planungen nicht einkalkuliert. Aber auch solche Ausnahmeszenarien müssen mitgedacht werden, damit gewährleistet ist, dass zum Beispiel Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Haushalten digitale Geräte ausgeliehen werden können.
Ungleiche Bildungschancen betreffen sowohl den Zugang zu Bildungsstätten als auch die Qualität der bereitgestellten Bildungsinhalte. Wie äußert sich das in Deutschland konkret?
Marianne Demmer: Momentan ist es so, dass diejenigen Schulen, deren Schülerinnen und Schüler das meiste Geld und die meiste Unterstützung benötigen, diese nicht erhalten. Dies ist ziemlich beschämend für eine demokratische Gesellschaft, die zwar pausenlos beteuert, allen Kindern gleiche Bildungschancen ermöglichen zu wollen - und nach dem
Dana Maria Kier: Wir haben zuvor bereits über die Einführung von Gesamtschulen gesprochen. Deren oberstes Ziel war und ist es, einen Bildungszugang für alle zu schaffen, sodass jede Schülerin und jeder Schüler das Recht auf höhere Bildung hat. Diese werden aber nach wie vor stigmatisiert und als Orte des gemeinsamen Lernens unterschätzt. Von dieser Sichtweise sollten wir uns als Gesellschaft dringend entfernen.
Der Lehrerberuf muss außerdem attraktiver werden, sodass mehr Menschen sich dafür entscheiden, Lehrkraft zu werden. So würde ein höherer Betreuungsschlüssel ermöglicht und eine individuellere Förderung bereitgestellt werden können. Auch um die Inklusion zu verbessern, wäre es angebracht, mehr Lehrkräfte auszubilden.
Es braucht ein Umdenken in der Gesellschaft, damit gemeinsames und inklusives Lernen als Gewinn betrachtet wird. Und damit nicht nur die Anerkennung einer Schule über den beruflichen oder akademischen Werdegang eines Menschen entscheidet.
Über unsere Gesprächspartnerinnen:
Dana Maria Kier ist Doktorandin am Lehrstuhl für Geschichte der Universität Duisburg-Essen. Im Rahmen ihrer Dissertation "Zukunftsgestaltung durch Schulreformen – Gesamtschulen und das Fach Gesellschaftslehre als Form des 'social engineering'" beschäftigt sie sich mit der Einführung der Gesamtschule und des Faches Gesellschaftslehre in NRW in den 1970er Jahren.
Marianne Demmer betreibt die Galerie und Agentur "Externer Link: bild-wort-ding". Sie ist pensionierte Lehrerin und ehemaliges hauptberufliches Mitglied des Vorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). 2020 hat sie anlässlich des 100. Jahrestages der Reichsschulkonferenz das Heft "Externer Link: 1920-2020 Schulreform in Deutschland. Eine (un)endliche Geschichte?!" veröffentlicht.