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Gerechte Bildungschancen in der Krise? | Corona und die neue Lernwelt | bpb.de

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Gerechte Bildungschancen in der Krise?

Julia Schütz

/ 8 Minuten zu lesen

Welchen Einfluss hatte Corona auf den Stand der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland? Bildungsforscherin Julia Schütz gibt einen Überblick auf Grundlage einer empirischen Studie zur Professionalitäts- und Medienkompetenzentwicklung in Schule und Hochschule.

Mary Poppins fliegt als pädagogische Kunstfigur mit einem Tablet über Lernende hinweg und soll das Motto der PoBiKri-Studie symbolisieren: Ich habe Euch auf dem Schirm und unter meinem Schirm. (© Illustration (Ausschnitt): Gerald Moll Externer Link: www.traget-sorge.de)

Die Corona-Krise entfachte erneut eine gesamtgesellschaftliche und bildungspolitische Diskussion über den Stellenwert und die Umsetzbarkeit von Bildungsgerechtigkeit im Sinne von Chancengleichheit. Die häufig gebrauchte Metapher, dass die Corona-Krise wie ein Brennglas wirke, also etwas ohnehin schon existierendes deutlicher sichtbar werden lässt, konnte in Studien zur Bildungsungleichheit aufgezeigt werden. Vor allem wurde die Digitalisierung als wesentlicher Faktor von Bildungsungleichheit diskutiert, da die Schulen sowie Hochschulen zur Umsetzung von Fernunterricht und Fernlehre mit Hilfe digitaler Medien aufgefordert waren. Die Frage nach der Herstellung von Bildungsgerechtigkeit während der Corona-Krise stellte sich somit abermals und akut, da der bisher unzureichend beachtete Faktor der Digitalisierung ins Blickfeld (hoch-)schulischer und bildungspolitischer Diskussionen geriet.

Im Mittelpunkt bisheriger Diskurse um Bildungsgerechtigkeit steht häufig die soziale Ungleichheit und die mit ihr zusammenhängenden unterschiedlichen Ausgangslagen eines jeden Individuums. Bildungsgerechtigkeit als pädagogisches Handlungsziel und Zielsetzung bildungspolitischer Interventionen zielt auf den Abbau von Diskriminierung, einen chancengerechten Zugang zu (Bildungs-)Ressourcen und der Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe. "Bildungsungleichheiten beziehen sich auf eine Reihe sozialstruktureller Merkmale, die zu einer ungleichen Verteilung von Bildung führen können. Dazu gehören Merkmale wie die soziale Herkunft, der soziale Hintergrund oder sozioökonomische Status, Gender oder das Geschlecht sowie die kulturelle Herkunft im Zusammenhang mit Migrationshintergrund und ethnischer Zugehörigkeit und Sprache“. Der bildungspolitische Diskurs zum Thema Bildungsgerechtigkeit wird noch immer zentral von der Post-PISA Debatte geprägt, die den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg in den Mittelpunkt gerückt hat. Wenig berücksichtigt bleibt dabei, welche Differenzen durch Lehrende und ihr berufliches Handeln hergestellt oder reproduziert werden. Auch ist noch viel darüber bekannt, wie unterschiedliche Merkmale bzw. Differenzkonstrukte in ihrem Zusammenwirken Bildungsungleichheit ggf. verschärfen oder verändern können. Und dies paradoxerweise, obwohl der Umgang mit Vielfalt oder Heterogenität gerade im schulischen Kontext durch veränderte Unterrichtspraxis bearbeitet wird.

Durch die Corona-Pandemie und die dadurch bedingte Verlagerung des Lehrens und Lernens in den digitalen Raum ergeben sich, neben Fragen nach der materiellen und strukturellen Beschaffenheit von (Hoch-)Schulen hinsichtlich der Digitalisierung auch Fragen, die das berufliche Handeln der Lehrenden in einen unmittelbaren Zusammenhang mit Gerechtigkeit stellen. Wie bewerkstelligen Lehrende den Fernunterricht und die digitale Hochschullehre? Inwiefern wurden durch diese Umstellung Lerninhalte für bestimmte Lernendengruppen mehr oder weniger zugänglich? Und welche (strukturellen) Barrieren tragen zur Erzeugung von Bildungsungleichheiten, also einer Benachteiligung bei? Diesen Fragen geht das Projekt "Professionalität und Bildungsgerechtigkeit in der Krise“, kurz ProBiKri-Studie genannt, an der FernUniversität in Hagen nach. Der Einfluss des Handelns der lehrenden bzw. unterrichtenden Akteure auf die Wahrung und Herstellung von Bildungsgerechtigkeit steht hier im Fokus. Die Befunde dieser laufenden Studie bilden die Grundlage für die nachfolgenden Ausführungen.

Ergebnisse der ProBiKri-Studie

In der Pandemie wurden die Schulen erstmalig im März 2020 in allen Bundesländern und in den nachfolgenden Monaten immer wieder zeitweise für alle oder auch nur einzelne Jahrgangsstufen geschlossen. Die Hochschulen, d.h. die Universitäten und Fachhochschulen, wechselten in den sogenannten "Notbetrieb". Unterricht, Vorlesungen und Seminare wurden von den Bildungseinrichtungen in vielen Fällen über den Einsatz digitaler Lernumgebungen realisiert, ein Zusammentreffen ganzer Klassenverbünde oder Seminargemeinschaften in leiblicher Präsenz verlagerte sich in den digitalen Raum. In dieser Zeit wurde eine der zentralen Barrieren im Zugang zur Bildung unmittelbar deutlich: Schulen und Hochschulen waren in ihrer technischen Infrastruktur sehr unterschiedlich ausgestattet, um eine digitale Lernumgebung für die Lernenden bereitzustellen. Die Kommunikation mit den Schülerinnen, Schülern und Studierenden erfolgte häufig auf digitalen Wegen, insbesondere per E-Mail. Unmittelbar nach dem Einsetzen der Pandemie wurden Lehrkräfte an Schulen und Hochschullehrende nach ihren Einstellungen und professionellen Handeln vor dem Hintergrund einer chancengerechten Bildungsteilhabe der Schülerschaft und Studierenden befragt.

Befragung von Lehrkräften und Hochschullehrenden: N = 793 (429 Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen, 364 Hochschullehrende), Quelle: ProBiKri-Studie, FernUniversität in Hagen, Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung (© ProBiKri-Studie, FernUniversität in Hagen, Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung)

Der Großteil der Befragten hat angegeben, dass es ihnen wichtig sei, dass die gleichen Chancen für die Bearbeitung der von ihnen bereitgestellten Materialen bestehen und individuell auf den Lernstand der Lernenden einzugehen. Hier unterscheiden sich die beiden Befragungsgruppen in ihren Aussagen nur unwesentlich voneinander. Die gleichberechtigte Teilhabe der Schüler- und Studierendenschaft sehen die Befragten jedoch als gefährdet an, und auch eine gesonderte Berücksichtigung benachteiligter Personen gelänge nur eingeschränkt. Diese Zahlen und die Befunde aus den geführten Interviews verstärken den Eindruck, dass viele Schülerinnen und Schüler nicht erreicht werden konnten und der Kontaktverlust möglicherweise gravierende Folgen für die Bildungsgerechtigkeit hat.

So heißt es beispielsweise in einem der Interviews: "Ich habe allerdings, ich denke mal, vielleicht die Hälfte erreicht, wirklich. Ich weiß nicht, was die anderen, ob, was die gemacht haben oder nicht.". Dass der Kontaktverlust häufig aus der fehlenden technischen Ausstattung der Schülerinnen und Schüler resultierte, ist bekannt. Der Vergleich von Schulen und Hochschulen zeigt, dass die technische Ausstattung und das Lernen im digitalen Raum im hochschulischen Bereich weitaus besser umgesetzt werden konnte, da die Hochschulen in der Digitalisierung bereits deutlich weiter sind als Schulen. Während Studierende in der Regel über digitale Endgeräte verfügen und entsprechend das digitale Angebot annehmen konnten, wurde während den Schulschließungen offenkundig, dass sowohl Lehrkräfte als auch Schülerinnen und Schüler häufig weder über eigene Computer noch über entsprechende Zugänge verfügten. Die Teilhabe am Lernen im digitalen Lernraum wurde so für viele Schülerinnen und Schüler nahezu unmöglich. Besondere Benachteiligungen ergaben sich für sehr junge Schülergruppen der frühen Jahrgangsstufen, die weder digitale Geräte zur eigenständigen Nutzung besitzen und/oder nicht über die notwendigen Lese- und Schreibkompetenzen verfügen, um sich in digitalen Lernräumen selbstständig zu orientieren.

Doch auch wenn ein Kontakt hergestellt, die Zielgruppe des unterrichtlichen Handelns also erreicht wurde, schildern die Lehrkräfte in den geführten Interviews der ProBiKri-Studie, dass sie Schwierigkeiten hatten, den Lernprozess aus der Distanz angemessen begleiten und bewerten zu können. Es fehlte ihnen die Voraussetzung, um individuelle, angepasste Lerngelegenheiten zu schaffen und diese angemessen zu begleiten. Gerade Schülerinnen und Schüler sowie Studierende mit Benachteiligungen konnten in der Zeit des Distanz-Lernens weniger gut adressiert werden.

Aus den Interviews mit den Hochschullehrenden ist zu entnehmen, dass die Frage nach einer bildungsgerechten Teilhabe der Studierenden eine untergeordnete Rolle im Lehrhandeln einnimmt. Persönliche und/oder infrastrukturelle, d.h. technische Barrieren werden von den Lehrenden seltener wahrgenommen, was sich u.a. im strukturellen Lehr-/Lernsetting von Hochschullehre begründen lässt: in häufig großen, digitalen Veranstaltungsformaten (Vorlesungen und Seminare) über die Dauer eines Semesters ist das Individuum "unsichtbarer" als es im schulischen Lehr-/Lernsetting in mehrjährigen Klassenverbünden der Fall ist. Auch steht die Wissensvermittlung an Hochschulen viel stärker im Fokus als es in der Schule als Sozialisationsinstanz der Fall ist. Diese sozialisatorischen Prozesse bedürfen weitaus stärker als die Wissensvermittlung einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden. In digitalen Lernsettings gestaltet sich diese Beziehung anders als in Präsenz, es verflachen beispielsweise parasprachliche oder non-verbale Signale oder fallen im Kontakt über E-Mails gänzlich weg. Somit fehlt eine wichtige Basis, um die Lehr-/Lernbeziehung tragfähig zu gestalten und pädagogische Ziele, wie das einer bildungsgerechten Teilhabe, zu erreichen.

Der Kolibri ist Botschafter der ProBiKri-Studie. Weil er so klein ist, werde er laut der Studien-Autorinnen oft übersehen – wie die interaktionalen Leistungen von Lehrenden auch. (© Illustration: Gerald Moll Externer Link: www.traget-sorge.de)

Ausblick oder: Bildungsgerechtigkeit auch ohne Corona-Krise in der Krise

Die pädagogische Aufgabe von Lehrpersonen ist nicht auf eine reine Wissensvermittlung zu reduzieren. Dies ist auch in den meisten Schulgesetzen durch einen erzieherischen und demokratischen (Bildungs-)Auftrag verankert. Gerade in der Arbeit mit jungen Menschen stehen die Entwicklung und Stärkung der Persönlichkeit sowie sozialisatorische Prozesse für die Ausgestaltung der zukünftigen Lernbiografien im Fokus. Diese Perspektive wird in der bisherigen Debatte um die Verschärfung der Bildungsungerechtigkeit in der Krise unzureichend berücksichtigt, wenngleich die initiierten bildungspolitischen Maßnahmen, wie z.B. das sogenannte Aktionsprogramm "Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche" nicht ausschließlich auf die Kompensation der Lernrückstände abzielen.

In der ProBiKri-Studie konnte neben dem eingeschränkten Zugang zur digitalen Infrastruktur als weitere Bildungsbarriere die unzureichende Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien der jeweils handelnden Personen, also der Lehrkräfte und Hochschullehrenden, identifiziert werden. Schulen und Hochschulen sind in der Regel, d.h. außerhalb des Pandemiegeschehens, als Lernort in Präsenz angelegt. Die Umstellung in eine digitale Umgebung und auch die Nutzung unterschiedlicher digitaler Tools erfordert ein kompetentes Medienhandeln der Lehrenden. Neben den strukturellen Ressourcen in Form einer digitalen Infrastruktur benötigt es unbedingt Aus- und Fortbildungsangebote für Lehrpersonen, damit überhaupt erst die Voraussetzungen zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit gewährleistet sind. In diesen Aus- und Fortbildungsformaten muss die Verschiedenheit der Lernenden innerhalb eines substantiell ungerechten und ungleichen Erziehungs- und Bildungssystems als Normalfall vorausgesetzt werden. Entsprechend zählt die Reflexion und der sensible Umgang mit Heterogenität im Erziehungs- und Bildungssystem zu "einer zentralen Kompetenz [...], welche mittlerweile quasi zum professionstheoretischen Pflichtkanon zählt" – und sich bisher doch trotzdem unzureichend im berufspraktischen Handeln niederschlägt. Ziel und Auftrag der Lehrenden ist es – und dies hat die Corona-Pandemie durch die digitale Umstellung des Lehrens und Lernens deutlicher gemacht als zuvor – Ungleichheiten und Diskriminierungsformen wahrzunehmen, kritisch zu reflektieren und sensibel mit ihnen umzugehen.

Über unsere Autorin

Dr. Julia Schütz ist Professorin für Empirische Bildungsforschung an der FernUniversität in Hagen sowie Sprecherin des Zentrums für pädagogische Berufsgruppen- und Organisationsforschung (ZeBOHagen). Ihre Schwerpunkte sind Professionsforschung und Fragen der sozialen Anerkennung pädagogischer Berufsarbeit.

Literatur

Ackeren, Isabell van; Endberg, Manuela; Locker-Grütjen, Oliver: Chancenausgleich in der Corona-Krise. Die soziale Bildungsschere wieder schließen - In: Die deutsche Schule 112 (2020) 2, S. 245-248

Bremm, N. (2021). Bildungsbenachteiligung in der Corona-Pandemie. Erste Ergebnisse einer multiperspektivischen Fragebogenstudie. PraxisForschungLehrer*innenBildung, 3(1), 54–70. Externer Link: https://doi.org/10.11576/pflb-3937, Online verfügbar: 07.05.2021

Budde, Jürgen (2018): Heterogenität in Schule und Unterricht. Interner Link: https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/266110/heterogenitaet-in-schule-und-unterricht (22.09.2021)

Dietrich, F.; Heinrich, M.; Thieme, N. (Hrsg.) (2013): Bildungsgerechtigkeit jenseits von Chancengleichheit: Theoretische und empirische Ergänzungen und Alternativen zu 'PISA'. Wiesbaden: Springer VS.

Forsa Politik und Sozialforschung GmbH (2020). Die Corona-Krise aus der Sicht der Schulleiterinnen und Schulleiter. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativ-befragung 2020. Auswertung Nordrhein-Westfalen. Verfügbar unter Externer Link: https://vbe-nrw.de/downloads/PDF%20Dokumente/2020_11_16_Bericht_forsa_SL_DSLKII_NRW.pdf [20.09.2021].

Klusemann, Stefan; Rosenkranz, Lena; Schütz, Julia (2021). Professionalität und Bildungsgerechtigkeit. Oder: Ist pädagogisch professionelles Handeln bildungsgerechtes Handeln? S. 34-53 in: Heidkamp-Kergel, Birte; Kergel, David; August, Sven-Niklas (Hrsg.) Handbuch Interdisziplinäre Bildungsforschung. Beltz Juventa.

Miller, Susanne (2013): Umgang mit Heterogenität. In: Andresen, Sabine, Hunner-Kreisel, Christine, Fries, Stefan (Hrsg.): Erziehung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Wiesbaden: Springer VS, S. 296-303

Pangritz, Johanna (2020): Intersektionalität. In: Bollweg, Petra/ Buchna, Jennifer/ Coelen, Thomas/ Otto, Hans-Uwe (Hrsg.) Handbuch Ganztagsbildung, 2.Aufl., Wiesbaden: Springer VS, S.141-151.

Schneider, S. (2019): Der familiale und institutionelle Beitrag zur Reproduktion von Bildungsungleichheit am Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

te Poel, K. (2019): Bildungsgerechtigkeit und Anerkennung. Rekonstruktion impliziter Primate in der Kritischen Bildungstheorie Stojanovs. Wiesbaden: Springer VS.

Weitere Inhalte

Dr. Julia Schütz ist Professorin für Empirische Bildungsforschung an der FernUniversität in Hagen sowie Sprecherin des Zentrums für pädagogische Berufsgruppen- und Organisationsforschung (ZeBOHagen). Ihre Schwerpunkte sind Professionsforschung und Fragen der sozialen Anerkennung pädagogischer Berufsarbeit.