Wer sich gesehen fühlt und ein Zutrauen in seine Lern- und Leistungsbereitschaft erfährt, leistet mehr. Zahlreiche Metastudien zur Bildungsforschung belegen empirisch den Zusammenhang von Beziehung und Leistung. Die bekannteste ist die Hattie-Studie. Der Pädagoge John Hattie hat die Auswirkung vielfältiger Faktoren auf die Lernleistung untersucht. Die Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler oder Schülerin wirkt sich demnach besonders stark auf die Lernleistungen der Lernenden aus. Neben dem Akzeptiert- und Gesehenwerden, kommt es darauf an "dem Kind die Erfahrung zu ermöglichen, im Klassenzimmer anerkannt zu sein." Diese Erfahrung können Kinder und Jugendliche dann machen, wenn Lehrkräfte Verständnis zeigen, wenn sie den Schülerinnen und Schülern Feedback geben und ihnen Sicherheit vermitteln.
Auch die Neurowissenschaften bestätigen die Bedeutung gelingender pädagogischer Beziehungen für den Aufbau von Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit als Grundlage von Resilienz und Lernerfolg. Gespräche mit Lehrpersonen während Seminaren, Fortbildungen und Tagungen zeigen, dass Kinder und Jugendliche häufiger als früher rebellieren, mit Gewalt drohen und die Lehrkräfte in Machtkämpfe verstricken. Solche Machtkämpfe eskalieren schnell, wenn gegenseitiger Respekt und Achtung fehlen. Eine Kooperation mit Kindern und Jugendlichen gelingt über die persönliche Beziehung, über inhaltliche Orientierung, souveränes Setzen von Grenzen, Wertschätzung und Würdigung. In der Lehreraus- und Weiterbildung wird die Bedeutung der pädagogischen Beziehung meist nur theoretisch gewürdigt. Es fehlen praktische Kurse dazu, wie Beziehungen aufgebaut, Bedürfnisse erkannt und Konfliktsituationen deeskaliert werden können.
Wie kann Beziehungskompetenz trainiert werden?
Beziehungen werden erlebt und erspürt. Vieles läuft nonverbal ab. Im Tonfall vermittelt sich die Stimmung und im Blickkontakt das Verständnis. Wir sind unserer Wahrnehmung nicht ausgeliefert, sondern können entscheiden, ob wir uns auf Defizite und Probleme konzentrieren, die uns schwächen oder Gelingendes und Potenziale wahrnehmen, die uns stärken. Wer Gelingendes und Potenziale statt Defizite und Probleme wahrnimmt und anspricht, schafft eine aktivierende, lernförderliche Atmosphäre, die auf die ganze Klasse wirkt.
Wer Kinder und Jugendliche aktivieren und beteiligen will, anstatt sie zu disziplinieren und zu belehren, bleibt auch im Konflikt verbunden und empathisch. Eine solche Haltung lässt sich trainieren – beziehungskompetentes Verhalten entwickelt sich daraus spontan in der Situation.
Möglichkeiten und Grenzen von Beziehungslernen im digitalen Raum
Wenn wir mit einem "Potenzialblick" auf den digitalen Raum schauen, entdecken wir vielfältige Möglichkeiten, um Kontakte persönlich zu gestalten und Schülerinnen und Schüler am Lernprozess zu beteiligen. Potenzialblick bedeutet, dass die Aufmerksamkeit nicht auf Probleme, die wir meistens nicht direkt lösen können, gelenkt wird, sondern vielmehr auf Ressourcen, die für die Lösung des Problems genutzt werden können.
Eine freundliche, ruhige, zugewandte Stimme mit einer wertschätzenden Begrüßung prägt die Atmosphäre im digitalen Raum entscheidend. Ein Check-in Ritual mit einer persönlichen Frage wie beispielsweise "Was hat euch am Wochenende gutgetan?" öffnet einen Begegnungsraum, in dem eine angenehme Lernatmosphäre herrscht. Es gibt eine ganze Palette von Ritualen, die hierfür eingesetzt werden können: Eine Minute Stille, ein Bodyscan, ein Stimmungsbarometer oder eine "Kompliment-Dusche" sind nur wenige Beispiele. Es wäre von Vorteil, wenn alle Teilnehmenden ihre Kameras anschalten, um sich gegenseitig zu sehen. Viele Lehrerinnen und Lehrer berichten über fehlende Bereitschaft der Jugendlichen dies zu tun. In den Einzelgesprächen mit den betroffenen Schülerinnen und Schülern stellten sie fest, dass sich diese zum Teil schämen, das eigene Zuhause zu zeigen. In diesen Fällen ist ein Gespräch in einem geschützten Raum sinnvoll, um dem Anliegen der Kinder und Jugendlichen einen Raum zu geben.
Um die Kommunikation in der Lerngruppe anzukurbeln, kann die Chat-Funktion für individuelle Antworten auf offene Fragen genutzt werden. Alle Teilnehmenden können zeitgleich antworten, sind aktiviert und beteiligt. Auch stille oder schüchterne Schülerinnen und Schüler können sich beteiligen ohne aufzufallen. Die Lehrperson bekommt schnell einen Überblick über Anliegen und Bedürfnisse, auf die sie empathisch reagieren kann. So fühlen sich alle Kinder und Jugendliche gesehen und gehört. Ruhige, schüchterne und lernschwache Kinder und Jugendliche können zu persönlichen Videokonferenzen in kleinen Gruppen eingeladen werden. Hier bietet der digitale Raum geschützte Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten. Gleichzeitig darf die Gefahr des Cybermobbings nicht unterschätzt werden. Je authentischer und ehrlicher der Kontakt zwischen der Lerngruppe und der Lehrperson ist, desto wahrscheinlicher werden solche Konflikte gemeinsam gelöst.
Die Grenzen von Beziehungslernen im digitalen Raum sind neben schlechten Internetverbindungen und technischen Mängeln vor allem die eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen untereinander. Sinnliches Wahrnehmen, Bewegung, nonverbales Kommunizieren und spontanes Spiel sind im digitalen Raum sehr eingeschränkt. Physische Begegnung und informelle Gespräche im Sozialraum Schule fehlen. Können sie im familiären Rahmen nicht kompensiert werden, vereinsamen viele Kinder und Jugendliche durch die soziale Isolation und fühlen sich von den Erwachsenen häufig nicht gesehen. Auch das kognitive Lernen, das mit der Qualität der sozialen Beziehungen verbunden ist, ist schwieriger. Der Psychologe Jean Piaget postulierte bereits in den 1970er Jahren, das Lernen als eine Ko-Konstruktion zu verstehen ist, in der das Denken in einer gemeinschaftlichen Atmosphäre aus Kooperation und Kollaboration eingebettet ist.
Beziehungslernen im schulischen und im außerschulischen Raum
Das Wirkungsgefüge des Lernens zeigt drei Kreisläufe, die zusammenwirken. Der obere, blaue Kreislauf ist der Beziehungsdialog. Hier geht es um Kontakt, Vertrauen und um das Gesehenwerden. Wenn sich Kinder und Jugendliche verstanden und respektiert fühlen, kooperieren sie mit Erwachsenen. Der linke grüne Kreislauf ist der Lerndialog. Hier geht es um den Kompetenzerwerb über Impulse und Aufgabenstellungen.
Alles Lernen findet im rechten, orangenen Kreislauf statt. Es ist der innere Dialog, der bei den Kindern und Jugendlichen selbst stattfindet. Lernen gelingt, wenn sich Kinder und Jugendliche Lernerfolge zutrauen, Lernimpulse motiviert aufgreifen und mit ihren Lehrpersonen kooperieren. Das Zutrauen und Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen können Lehrpersonen im Beziehungsdialog über Ermutigung, Anerkennung und Wertschätzung stärken.
Das Wirkungsgefüge der Grafik zeigt: Der "Umweg" über die Beziehung lohnt sich. Besonders bei lernschwächeren und weniger selbstbewussten Kindern und Jugendlichen. Im schulischen Kontext geht es häufig um den Kompetenzerwerb in Schulfächern und Projekten. Im außerschulischen Kontext geht es um Gemeinschaft, Sozialverhalten und spielerischen Kompetenzerwerb. In beiden Kontexten ist die kooperative, vertrauensvolle Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern der entscheidende Gelingensfaktor.
Eine Checkliste für den Alltag zur Stärkung der Beziehung
Die abschließende Checkliste kann helfen, die Inhalte im Schulalltag umzusetzen:
Authentisch bleiben und sich für die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler interessieren.
Nach persönlichen Erfahrungen – aktuell zum Beispiel im Umgang mit der Corona-Krise – fragen.
Aufmerksam zuhören, das Gelungene, das Positive entdecken und formulieren.
Die Lernenden aktivieren und an der Entwicklung des Unterrichts beteiligen.
Interessen erforschen und wahrgenommene Talente würdigen.
Schülerinnen und Schüler durch kleine Erinnerungsnachrichten an die nächste Unterrichtsstunde oder die angesetzte Leistungsüberprüfung unterstützen.
Regelmäßige Online-Stunden anbieten.
Ein Jugend-Café und/oder kleine virtuelle Picknicks während der Pause initiieren. So entstehen auch im digitalen Raum kleine Flurgespräche, die die Klassengemeinschaft stärken.
Energizer und Relaxer (das sind kurze Übungseinheiten zur Aktivierung und Entspannung) einsetzen, um die fehlende Bewegung zu kompensieren.
Literatur
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Lienhard, L., Schmid-Fetzer, U. & Dr. Cobb, Eric.(2019). Neuronale Heilung: Mit einfachen Übungen den Vagusnerv aktivieren – gegen Stress, Depressionen, Ängste, Schmerzen und Verdauungsprobleme. Riva-Verlag: München.
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