Digitale Lebenswelten
Jugendliche wachsen heute selbstverständlich mit und in digitalen Kulturen auf. Ihre Lebenswelten können als "post-digital" bezeichnet werden – wobei die Vorsilbe "post" hier nicht meint, dass die Phase der Digitalisierung schon abgeschlossen wäre. Sie soll vielmehr zeigen, dass wir schon jenseits der Phase sind, in der irgendetwas als explizit digital bezeichnet werden muss.
Strukturen, die sich aus Digitalisierungsdynamiken ergeben haben, prägen heute auch nicht-digitale Lebensbereiche immer schon mit. Das Digitale ist damit insbesondere für Jugendliche eine grundlegende Bedingung ihres Alltages – ein "permanentes Hintergrundrauschen" (Jörissen/Carnap/Schröder 2020)
Post-digitale Bildungsprozesse
Gleichzeitig halten medienpädagogische Konzepte an Begriffen der "Medienkompetenz" oder der "digitalen Souveränität" fest (exemplarisch: Baacke 1997; Blossfeld et al. 2018). Dabei bauen sie auf einem Verständnis auf, das darauf abzielt, mediale Darstellungs- und Kommunikationsverfahren zu entschlüsseln und so die Nutzerinnen und Nutzer zu einem kritisch-distanzierten Umgang mit diesen Medien zu erziehen (Zahn 2021).
Hier bietet es sich an, stärker auf den Begriff der Medienbildung zu setzen, da dieser sich nicht nur auf die Bildung über Medien oder die Bildung mit Medien bezieht, wie sie beispielsweise in E-Learning-Formaten umgesetzt wird. Wenn Bildung die Veränderungen beschreibt, wie Individuen ihre Umgebung (und sich selbst) sehen und Medien die Strukturen dieses Sehens wesentlich bestimmen, dann umschreibt Medienbildung die Welt- und Selbstverhältnisse von Menschen in medial geprägten kulturellen Welten.
Kritische Distanz kann immer nur eine mögliche, angestrebte Haltung gegenüber digitalen Medien sein und Kritik auch ohne Distanz bzw. im Medium selbst geäußert werden. So bergen Positionen, die unmittelbar mit und in vernetzten medialen Kulturen artikuliert werden, auch das Potenzial, sich ästhetisch mit ihrer eigenen Verwicklung auseinandersetzen zu können. Subversive Parodien und Überschreitungen verweisen beispielsweise spielerisch-kritisch auf Möglichkeiten und Abweichungen. (Flasche/Carnap 2021).
Wie sehen post-digitale Lebenswelten Jugendlicher in ländlichen Räumen aus?
Ländliche Jugendwelten sind – wie die städtischen – grundlegend post-digital verfasst, aber dieses Post-Digitale differenziert sich regional-, bzw. raumtypisch aus. Auch wenn eine räumlich-vereinfachende Perspektive zu kurz greift, ist das Aufwachsen beispielsweise in einem bestimmten Orts- oder Stadtteil nach wie vor alltagsprägend für Jugendliche (vgl. Herrenknecht/Hillig 2015). Für ländliche Räume liegen diesbezüglich aktuell keine aussagekräftigen Daten, sondern nur einzelne Befunde vor: So erleben Jugendliche beispielsweise ein unzureichendes Kultur- und Freizeitangebot als Nachteil einer ländlichen Wohnsituation (Opitz/Pfaffenbach 2018, S. 174). Sie erfahren sich – durch mangelndes Angebot, räumliche, aber auch digitale Unerreichbarkeit – als von der Kommunikation und Öffentlichkeit teilweise ausgeschlossen (Beierle/Tillmann/ Reißig 2016, S. 16).
Aus den Interviews mit pädagogischen Expertinnen und Experten sowie aus Gruppendiskussionen mit Jugendlichen im ländlichen Raum, die im Rahmen des Projektes BiDiPeri
Ein erster wichtiger Punkt ist die grundsätzliche Netzanbindung. Die Jugendlichen gehen hier so weit, in Analogie zu "fließendem Wasser" von "fließendem Internet" zu sprechen, dessen Nichtvorhandensein ihren Alltag präge – in dieser Metaphorik ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Netzzugang nicht als Nebensache, sondern als Grundbedürfnis des täglichen Lebens empfunden wird. Für Jugendliche, die in Gemeinden ohne stabiles Netz aufwachsen, besteht die Gefahr, dass – beispielsweise durch die Verlagerung kultureller Angebote ins Netz – bestehende Ungleichheiten gegenüber urbanen Räumen nicht nivelliert, sondern sogar verstärkt werden.
Zweitens weist insbesondere die Auswertung der Expertinnen- und Experten-Interviews darauf hin, dass Jugendarbeit in ländlichen Räumen generell als prekär und bedroht erlebt wird. So muss die finanzielle und/oder infrastrukturelle Ausstattung von Angeboten für Jugendliche vor Ort immer wieder über Projekt- und Förderanträge sichergestellt werden. Solche Analysen knüpfen nahtlos an die von Herrenknecht (Herrenknecht 2000) bereits mit Beginn des Jahrtausends festgehaltenen Befunde zum "massiven baulichen Verschwinden […] jugendlicher Attraktions- und Geheimorte" an (ebd., S 51f.). In Korrespondenz dazu verstehen sich die befragten Expertinnen und Experten vorrangig als "Anwalt oder Anwältin" der Jugendlichen und reagieren auf diese prekäre Lage, indem sie Jugendangebote in besonderer Weise betreuen und vermarkten. Dabei versuchen sie die sogenannte "Bürgeröffentlichkeit" mitzudenken: Denn je kleiner die Gemeinde ist, desto größer ist die Tendenz, Angebote für Jugendliche mehrgenerational zu vernetzen und so nicht nur Sichtbarkeits-, sondern auch Anerkennungsstrukturen herzustellen.
Aus diesen Prozessen geht eine starke mehrgenerationale Eingebundenheit der kulturellen Jugendarbeit hervor, die – so eine vorläufige These – auf den mehr-generationalen Bezug verweist, der von Bätzing (vgl. 2020, S. 44 ff.) als ein zentrales Kennzeichen "des Landlebens" herausgearbeitet wurde. Dabei nimmt die Organisation wiederkehrender und seit Jahrzehnten veranstalteter Feste oder Sommerlager viel Raum ein. Demgegenüber muss sich jedes neue Angebot erst als überhaupt kulturell wertvoll erweisen. Sogar jugendszenische Angebote, die sich explizit von traditionellen Bräuchen und Ritualen abgrenzen und jugendszenetypische Formen oder Netzwerke aufgreifen, bleiben implizit in die jeweilige "Dorfkultur" eingebunden, bzw. auf diese bezogen – so etwa, wenn Jugendliche in einer Graffiti-Aktion selbstverständlich und undiskutiert regionale Codes und Symbole in ihre Bilder mit einbeziehen (Flasche/Jörissen 2021). In dieser eher zyklisch ausgerichteten Logik werden in einzelnen Fällen innovative kulturelle Angebote von und für Jugendliche verhindert oder ausgebremst.
Wie können Ansätze der Medienbildung in ländlichen Räumen wirksam werden?
Vor dem Hintergrund post-digitaler Lebenswelten und im Rahmen einer an Medienbildung orientierten Pädagogik gilt es, diese zyklischen Logiken mit ihren tradierten Anerkennungsprozessen zu durchbrechen. Neue – eher netzwerkförmige – und weniger hierarchische Prozesse in der ländlichen Jugendarbeit können post-digitale Dynamiken stärker aufgreifen.
Erste Ergebnisse des Projekts BiDiPeri verweisen positiv auf Ansätze, die im Sinne eines "
Wenn post-digitale Bildungskonzepte nicht auf das Vermitteln von Kompetenzen oder das Entschlüsseln von medialen Techniken abzielen, sondern sich grundlegend mit Selbst- und Weltverhältnissen in immer schon medialen Kulturen auseinandersetzen, dann können gerade mit den oben genannten Ansätzen spielerisch pädagogische Möglichkeitsräume auch in der ländlichen Jugendarbeit eröffnet werden.
Baacke, D. (1997): Medienpädagogik. Tübingen: Niemeyer.
Bätzing, Werner (2020): Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. München: C.H. Beck.
Beierle, S./Tillmann, F./Reißig, B. (2016): Jugend im Blick – Regionale Bewältigung demografischer Entwicklungen. Abschlussbericht. Deutsches Jugendinstitut e. V. https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/jugendimblick/Abschlussbericht_Final.pdf [08.06.2021].
Blossfeld, H.-P. et al. (2018): Digitale Souveränität und Bildung. Münster: waxmann, https://www.waxmann.com/index.php?eID=download&buchnr=3813 [27.07.2021]
Flasche, V./Carnap, A. (2021): Zwischen Optimierung und ludischen Gegenstrategien - Ästhetische Praktiken von Jugendlichen an der Social Media Schnittstelle. In: Zeitschrift für MedienPädagogik, 40 (Im Erscheinen).
Flasche, V./ Jörissen, B. (2021): Bibliotheken, Digitalisierung und kulturelle Bildung in ländlichen Räumen – Kulturorte im Kontext post-digitaler Jugendkultur. In: Kolleck, N./Büdel, M./ Fobel, L. (Hrsg.): Forschung zu Kultureller Bildung in ländlichen Räumen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa (Im Erscheinen).
Jörissen, B./ Schröder, K./Carnap, A. (2020): Postdigitale Jugendkultur: Kernergebnisse einer qualitativen Studie zu Transformationen ästhetischer und künstlerischer Praktiken. In: Timm. S. et al. (Hrsg): Kulturelle Bildung: Theoretische Perspektiven, methodologische Herausforderungen, empirische Befunde. Münster u. New York: Waxmann, S. 61-78.
Kurzeja, M./Thiele, K./Klagge, B. (2020): Makerspaces. Dritte Orte für eine zukunftsfähige (Postwachstums-)Gesellschaft? In: Lange, B. et al. (Hrsg.): Postwachstumsgeografien. Raumbezüge diverser und alternativer Ökonomien. Bielefeld: transkript, S. 159-176.
Herrenknecht, A./Hillig C. (2015): Mobile Jugendarbeit in differenzierten lokalen Sozialräumen. IN: Deutsche Jugend, 63, 3, S. 121-133.
Herrenknecht, Albert (2000): Jugend im regionalen Dorf. In: Deinet, U./Sturzenhecker, B. (Hrsg.): Jugendarbeit auf dem Land. Opladen: Budrich.
Opitz, S./Pfaffenbach, C. (2018): Lebensqualität im ländlichen Raum. Wiesbaden: VS.
Zahn, M. (2020): Ästhetische Praktik als Kritik. In: Dander, V. et al. (Hrsg.): Digitalisierung – Subjekt – Bildung. Opladen: Budrich, S. 213-233.