Wie hat sich die Corona-Pandemie auf das Stresslevel von Schülerinnen und Schülern ausgewirkt?
Björn Enno Hermans: Die Höhe des Stresslevels war und ist sehr unterschiedlich: je nach den Umgebungsbedingungen der Schülerinnen und Schüler und abhängig von der individuellen Ausprägung von Resilienzfaktoren. Die Corona-Pandemie kam für alle unvorhergesehen und ging mit plötzlichen Entwicklungen einher. Grundsätzlich sind Menschen sehr anpassungsfähig, aber sich an etwas so Unplanbares anpassen zu müssen kann Stress erzeugen.
Welche konkreten pandemiebedingten Veränderungen empfinden Schülerinnen und Schüler als belastend?
Björn Enno Hermans: Die Belastung von jungen Menschen fängt schon damit an, dass Schule normalerweise ein sehr wichtiges Strukturmerkmal in ihrem Alltag ist. Das ist wie die Arbeit für Erwachsene, die eine Routine darstellt, die Sicherheit gibt. Wenn das plötzlich wegbricht, dann bricht eine ganz wesentliche Strukturierung und damit auch Sicherheit des Alltags erst einmal zusammen.
Außerdem ist Schule der Sozialisationsort, an dem junge Menschen in der Regel am meisten und am häufigsten soziale Peer-to-Peer-Kontakte habe, wo sie ihre Freundinnen und Freunde sehen. Ohne den Schulbesuch sind die sozialen Kontakte von Kindern und Jugendlichen sehr beschränkt – diese Kontakte sind aber wichtig für den sozialen Austausch und die Entwicklung. Wenn sich dieser Kontakt nur noch auf einzelne beschränkt oder über eine lange Zeit im virtuellen Raum stattfindet, dann sind das Ersatzmöglichkeiten, aber es ist natürlich nicht dasselbe.
Zu der Entwicklungsphase des Jugendlich-Seins gehören auch bestimmte Entwicklungsaufgaben dazu. Da geht es um die Selbstwerdung, um Autonomie, darum sich auszuprobieren, sich abzugrenzen, abzulösen – all solche Phänomene. Das sind Dinge, die eigentlich zum Erwachsenwerden dazugehören, die in gewisser Weise bewältigt werden müssen – das ist auch für die Persönlichkeitsentwicklung relevant. Denken Sie beispielsweise an die ganzen Abschlussjahrgänge, die keine Mottowoche, keinen Abschlussball, keine Partys oder keine Zeugnisvergabe hatten und haben werden. Wenn das alles wegfällt, haben Jugendliche ein deutliches Mangelerleben. Insgesamt können bestimmte Entwicklungsschritte vielleicht nicht so gut gegangen werden.
Welche Rolle spielen Ängste bei den Schülerinnen und Schülern?
Björn Enno Hermans: Bei dem Thema Angst gibt es verschiedene Dimensionen: Die Angst davor, sich selbst zu infizieren und die Angst andere zu infizieren. Die allermeisten Jugendlichen, mit denen ich zu dem Thema Kontakt hatte, hatten größere Angst selbst ein Infektionsrisiko darzustellen, weil sie in die Schule gegangen oder anderen Freizeitaktivitäten nachgegangen sind – insbesondere Jugendliche, die mit Menschen aus Risikogruppen zusammenleben oder engen Kontakt zu Risikogruppen haben.
Eine andere Angst im Schulbereich war sicherlich, Dinge nicht so gut hinzubekommen oder zu scheitern. Da denke ich an die Schülerinnen und Schüler in Abschlussklassen, die das Gefühl haben, nicht gut genug auf ihre Prüfungen vorbereitet zu sein, nicht genug Stoff beigebracht oder nicht genug Unterstützung von den Lehrkräften bekommen zu haben. Der Fernunterricht ist sehr unterschiedlich gelaufen. Ich kenne sowohl Rückmeldungen von Lehrenden und von Schülerinnen und Schülern, die sagen: "Das ist so gut gelaufen, dass wir weder in den Leistungen noch in dem subjektiven Lehr- und Lerngefühl größere Differenzen wahrnehmen." Und es gibt andere, die sagen: "Der Fernunterricht ist eine Katastrophe." Das hängt von vielen Einflussfaktoren ab: von den Lehrer-Schüler-Beziehungen, methodischen Kompetenzen, aber natürlich auch von sozialen Kontextfaktoren.
Über unseren Interviewpartner
Dr. Björn Enno Hermans ist Psychologe und Externer Link: Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapeut. Beim Externer Link: Institut für Systemische Therapie, Supervision und Organisationsentwicklung (ifs) in Essen ist er für die Psychotherapieausbildung von Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten und Psychologischen Psychotherapeuten im Vertiefungsgebiet Systemische Therapie zuständig. Zudem hat er seit 2019 eine Professur für Systemische Therapie und Beratung an der Externer Link: MSH Medicalschool Hamburg.
Wie ist es aus psychologischer Sicht zu bewerten, dass Jugendliche, in einer klassischen Phase der Abgrenzung so viel Zeit zuhause, bei der Familie verbringen müssen?
Björn Enno Hermans: Das spielt eine große Rolle für das Stressempfinden. Deswegen sind auch räumliche Bedingungen so ausschlaggebend und verschärfen in vielen Fällen die Problemlagen. Daher glaube ich, dass es ein ganz wichtiger Faktor ist, dass alle da auf sich und auf die anderen achten, aufkommende Konflikte miteinander reflektieren und besprechen und für so viel Ausgleich wie möglich sorgen, insbesondere wenn es räumlich und emotional eng zuhause ist.
Welche Altersgruppe ist ihrer Einschätzung nach am stärksten betroffen?
Björn Enno Hermans: Ich glaube, wenn man zu Beginn der Pandemie so 15, 16 Jahre alt war, dann ist das ganz ungünstig, weil die zentralen Übergänge von Lebensabschnitten, beispielsweise vom Schulabschluss, nicht wie üblich stattfinden können. Das sind schon besondere Belastungsfaktoren in dieser Pandemie für die junge Generation. Aber das ist meine subjektive Einschätzung. Andere Kolleginnen und Kollegen würden vielleicht sagen, dass jüngere Kinder viel gefährdeter sind – das stimmt, wenn es um das Thema Kindeswohl und Kinderschutz geht. Klar, Kleinkinder können nicht so gut für sich sorgen wie Jugendliche und sind unter prekären Bedingungen noch gefährdeter. Andererseits erlebe ich immer wieder, dass jüngere Kinder ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit haben, weil sie viele Dinge schneller als eine Art von Normalität wahrnehmen.
Wie wirkt sich die derzeitige Situation auf die Zukunftspläne der Schülerinnen und Schüler aus?
Björn Enno Hermans: Kurzfristig wirkt die Pandemie einschränkend, weil vieles, beispielsweise Auslandsaufenthalte, nicht möglich ist. Das schränkt Zukunftspläne erstens ein und führt zweitens dazu, dass man vielleicht gar nicht so viele Pläne macht. Ich erlebe viele Menschen, nicht nur Schülerinnen und Schülern, die sagen: "Ich plane jetzt erst mal gar nichts mehr." Es entsteht eine Unverbindlichkeit, weil die Perspektive so unklar ist. Vorhersehbarkeit ist ein wichtiger Faktor, damit es uns gut geht. Unvorhersehbarkeit hingegen kann sich negativ auf das individuelle Stresserleben auswirken.
Wie könnte das Stresslevel von Schülerinnen und Schülern in der Pandemie reduziert werden?
Björn Enno Hermans: Strukturell ist das gar nicht so einfach, weil wir mit dieser Pandemie-Situation einfach noch eine gewisse Zeit umgehen müssen. Es wäre wichtig zu beantworten, ob und wann ein Ende absehbar ist – da bin ich wieder bei der Vorhersehbarkeit. Die Debatte hat sich durch das Aufkommen der Mutationen des Coronavirus nochmal verändert. Ich glaube, da wird auch das Thema der Impfungen bei den unter 18-Jährigen eine Rolle spielen, denn der Fortschritt beim Impfen lässt ein Ende der Pandemie ja zumindest vermuten. Bisher sind Kinder und Jugendliche davon noch ausgeschlossen, stellen aber mittlerweile eine relevante Gruppe beim Infektionsgeschehen dar.
Außerdem wäre Klarheit und Vorhersehbarkeit der Corona-Maßnahmen notwendig. Ich finde gar nicht, dass die Maßnahmen für die Schulen immer gleich bleiben müssen, aber klare Regeln halte ich für notwendig. Das muss logisch, nachvollziehbar, herleitbar und damit vorhersehbar sein. Das würde den Schülerinnen und Schülern, aber auch den Familien, aus meiner Sicht sehr helfen.
Ansonsten kann man seitens der Schulen auch im Distanzunterricht versuchen, so viele soziale Beziehungen und Interaktionsmöglichkeiten wie möglich zu schaffen – auch zu Lehrpersonen. Sei es hybrid, digital oder auch analog vor Ort, wenn es möglich ist. Alles was sozial unterstützend wirken kann, sollte genutzt werden. Und es sollte sich damit auseinandergesetzt werden, wie didaktische Konzepte hinsichtlich sozialen Lernens in einer Pandemie umgestellt werden können und wie auch mittelfristig etwas nachgeholt werden und dabei angemessene Unterstützung erfolgen kann. Individuell ist es für die Schülerinnen und Schüler wichtig, bei allen Veränderungen die eintreten, auch bestimmte Strukturen zu bewahren. Hilfreich sind Rituale im Alltag und das Aufrechterhalten wichtiger sozialer Beziehungen. Auch das Weiterführen von Dingen, die einem wichtig sind, die einem Freude bereiten, können helfen. Und vielleicht doch auch Zukunftspläne zu machen, um damit eine Perspektive zu schaffen – auch wenn sie dann eben erst für das Jahr 2022 sind.
Zum Weiterlesen
COPSY Studie des UKE zu den Auswirkungen und Folgen der COVID-19 Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland:
Berichterstattung des Robert Koch-Instituts zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie:
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Externer Link: Nummer gegen Kummer: Das Kinder- und Jugendtelefon bietet anonyme und kostenlose Beratungsgespräche an. Montag bis Samstag von 14 bis 20 Uhr unter der Rufnummer 116 111 oder Externer Link: online per Mail oder im Chat.
Externer Link: Corona und Du: Infoportal zur psychischen Gesundheit für Kinder und Jugendliche.