Wann spricht man davon, dass Schülerinnen und Schüler benachteiligt sind?
Nina Bremm: Es gibt verschiedene Ansatzpunkte, um Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern zu fassen. Oftmals ist Benachteiligung intersektional geprägt, das heißt, Menschen werden durch die Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen mehrfach und verstärkt benachteiligt. Zudem sehen wir empirisch eine aus Segregationsprozessen entstehende Verräumlichung sozialer Ungleichheit. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen sind in Folge der
Benachteiligung kann zudem aus einer Ferne oder Nicht-Passung bestimmter sozialer Gruppen zu den inhaltlichen Anforderungen, die Schulen an Menschen und Familien stellen, entstehen. Manche Familien verfügen über Ressourcen, die nicht direkt in schulischen Kontexten beziehungsweise in institutionalisierten Bildungskontexten einsetzbar und verwertbar sind. Englisch oder Türkisch zu sprechen ist beispielsweise zunächst einmal das Verfügen über zwei verschiedene Sprachen. Während aber Englischkenntnisse direkt im schulischen Kontext, zum Beispiel im Englischunterricht, verwertbar sind, gilt das für das Türkische zumeist nicht. Vielmehr gab es in der Vergangenheit sogar gesellschaftliche Diskurse darüber, ob das Türkische in Schulen nicht verboten werden sollte, um den Gebrauch des Deutschen zu stärken. Es besteht die Gefahr, dass Fähigkeiten entwertet werden werden und Leistung nur in Bezug auf eine schulische Norm gedeutet wird. Abweichungen zu dieser Norm gelten dann als Defizite. Kinder können also auch durch eine fehlende Übereinstimmung der eigenen Ressourcen zu schulischen Inhalten benachteiligt werden.
Welchen Einfluss haben materielle Faktoren, wie etwa Wohnraum und technische Ausstattung bei der Beschulung im Fern- bzw. Teil-Präsenzunterricht?
Nina Bremm: Wohnraum und die technische und materielle Ausstattung in den Familien können einen Einfluss auf das Lernen generell und aktuell auf das Fernlernen von zu Hause haben. Die Diskussionen in der Öffentlichkeit, gerade zu Beginn der Fernlernphase, war aber übermäßig stark auf die materiellen Aspekte fokussiert. Es konnte fast der Eindruck entstehen, dass die Mehrheit sozial benachteiligter Familien nicht über die notwendige Infrastruktur für das Fernlernen verfügen, dass sie zu weiten Teilen kein WLAN, keine Laptops und keine Handys haben und auch, dass es an ruhigen Arbeitsplätzen für die Kinder fehle. Die ersten großen Initiativen sind dementsprechend vor allem auf die materielle Ausstattung mit digitaler Infrastruktur ausgerichtet.
Wenn man sich die vorliegenden Daten jedoch genau anschaut, sind die Unterschiede zwischen privilegierten und benachteiligten Familien in vielen Bereichen der Ausstattung, die für das Lernen wichtig sind, gar nicht so groß, wie man das vermuten könnte. Laut der PISA-Studie 2018 haben 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die eine benachteiligte Schule besuchen, zuhause einen ruhigen Platz zum Arbeiten und 98 Prozent einen Internetanschluss.
Und wie steht es um die Ausstattung an den Schulen?
Nina Bremm: Hier ist die Situation weitaus desaströser. Hinsichtlich der Ausstattung der Schulen belegt Deutschland im internationalen Vergleich einen der letzten Plätze. Nur ungefähr 30 Prozent der Schulen verfügen überhaupt über eine funktionierende und belastbare digitale Infrastruktur. Dort gibt es Unterschiede von etwa fünf Prozentpunkten zwischen privilegierten und benachteiligten Schulen.
Hat die soziale Herkunft im Kontext Fernunterricht einen größeren Einfluss auf den Bildungserfolg von Kindern als unter normalen Umständen?
Nina Bremm: Zunächst muss man einmal überlegen: Wer ist denn in einer heterogenen und diversen Demokratie wie der unseren dafür zuständig, dass die Jugend Bildung erfährt und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann? Das sind die Bildungsinstitutionen. Eltern werden von diesen gesellschaftlichen Institutionen wie selbstverständlich als Bildungsressource herangezogen und Eltern, die die Kapazitäten haben, investieren neben Zeit und Nerven ein monetäres Vermögen, um ihre Kinder bestmöglich zu fördern. Und natürlich ist es positiv für die Bildungskarriere von Kindern und Jugendlichen, wenn Eltern unterstützen können. In Deutschland ist der Bildungsweg weiterhin stark vom Bildungsabschluss und der ökonomischen Lage der Eltern abhängig. Unterschiede in der sozialen Herkunft oder auch sprachliche Unterschiede auszugleichen, das muss ein zentrales Handlungsfeld von Schule sein, wenn die gesellschaftliche Zielperspektive mehr Bildungsgerechtigkeit ist.
Und es gibt eben Schulen, die schaffen es besser als andere, Bildungsgerechtigkeit zu befördern. Erfolgreiche Schulen in benachteiligten Lagen kompensieren besser, schaffen es aber auch, Ressourcen der Schülerinnen und Schüler als Ressource für Bildung zu sehen. Gleichzeitig reflektieren sie, dass in der Institution Schule zum Teil Erwartungen und Anforderungen gestellt werden, die Ungleichheit verstärken. Statt der Perspektive auf die Schule geht es mir im Diskurs hingegen viel zu stark darum, dass benachteiligte Familien ihre Kinder nicht unterstützen können oder wollen und die Kinder deswegen in der Schule oder während des Fernlernens nicht mitkommen.
Wir brauchen Untersuchungen, die schulische Qualität und Potenziale genauer unter die Lupe nehmen. Lassen sich benachteiligte Schulen finden, deren Schülerinnen und Schüler systematisch besser durch den Fernunterricht gekommen sind als andere? Und was zeichnet diese Schulen aus? Welche Fähigkeiten haben sie gegebenenfalls schon vor der Corona-Pandemie gefördert? Gibt es zwischen Schulen vielleicht systematische Unterschiede hinsichtlich digitaler Kompetenzen oder metakognitiven Strategien und eigenverantwortlichen Lernens?
Können digitale Kompetenzen und metakognitive Strategien das Fernlernen erleichtern?
Digitale Ausstattung und digitales Lernen sind in unserer heutigen Zeit substanziell -auch für schulische Bildungsprozesse. Digitale Kompetenzen haben sich aber schon vor den Schulschließungen zwischen benachteiligten und privilegierten Schülerinnen und Schülern unterschieden. Schulen scheinen es auch unabhängig von der Corona-Zeit nicht zu schaffen, herkunftsunabhängig ausreichend digitale Kompetenzen aufzubauen.
Hinsichtlich der metakognitiven Strategien, also Lernstrategien und Strategien der Selbstorganisation, wissen wir schon lange, dass sie sehr wichtig für das Bewältigen von freien Lernsettings, wie Arbeiten mit Wochenplänen, Projektarbeit und eigenständiges Lernen, sind. Wir wissen auch, dass sie von benachteiligten Schülerinnen und Schülern im Mittel weniger gut erlernt sind. Kinder starten daher bezogen auf ihre metakognitiven Strategien mit unterschiedlichen Fähigkeiten in das Fernlernen. Es wird nun interessant sein zu sehen, ob Schulen, die bisher schon viel in die Bereiche digitale Kompetenzen und metakognitive Strategien investiert haben, besser durch die Phase des Fernlernens gekommen sind. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass das der Fall sein wird.
Ist die Annahme, dass benachteiligte Kinder Defizite im reflektierten Umgang mit Medien aufweisen, also gerechtfertigt?
Nina Bremm: Aus der Externer Link: ICILS-Studie, einer international vergleichenden Studie zu Medienerziehung, Digitalisierung und digitalen Kompetenzen, geht hervor, dass 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Klassenstufe 8 auf dem Handy weder systematisch Dinge suchen noch Lernprogramme benutzen können, sondern wirklich nur klicken und wischen. Der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit solch geringem Kompetenzniveau ist in benachteiligten Schulen größer.
Die Schere zwischen den digitalen Kompetenzen von bevorzugten und benachteiligten Schülerinnen und Schülern ist in Deutschland sehr groß – signifikant größer als beispielsweise in Hongkong, Norwegen oder der Russischen Föderation.
Über unsere Interviewpartnerin
Nina Bremm ist Bildungswissenschaftlerin und Professorin für Schulentwicklung an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Schwerpunktmäßig beschäftigt sie sich mit Fragen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem und Schul- und Bildungssystementwicklungsforschung.