Welche Rolle spielen digitale Medien bei der Beschäftigung mit dem Thema Nachhaltigkeit im Bildungsbereich? Wir haben eine Bildungs-Aktivistin, einen Wissenschaftler und eine Lehrerin nach ihrer Einschätzung gefragt.
Zusammenfassung
"Es ist wichtig, dass Lernorte ökologisch nachhaltiger werden – nur so können wir ein tiefgreifendes Verständnis für Nachhaltigkeit bekommen." (Elena Keil)
"Aus Befragungen wissen wir, dass nicht die Schule, die berufliche Bildung oder die Hochschule beim Erwerb von Wissen über Nachhaltigkeit an erster Stelle stehen, sondern die digitalen Medien." (Gerhard de Haan)
"Die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit ermöglicht nicht nur auf Fakten ausgerichtete Bildung, sondern auch soziales Lernen bzw. "Service learning"." (Johanna Reitz)
Im 3x3 stellen wir drei Akteurinnen und Akteuren dieselben drei Fragen. Für den Themenschwerpunkt Digitale Bildung und Nachhaltigkeit haben wir das Mitglied des Jugendpanels zu Bildung für nachhaltige Entwicklung (youpaN) Elena Keil, den Professor für Zukunfts- und Bildungsforschung Gerhard de Haan und die Lehrerin Johanna Reitz interviewt.
1. Welche Rolle spielt "Nachhaltigkeit" im Bildungsbereich?
Elena Keil: Meiner Einschätzung nach verändert sich der Blick auf Nachhaltigkeit im Bildungsbereich aktuell enorm. Es gibt immer mehr Lernorte, an denen Nachhaltigkeit gelebt wird: von plastikfreien Schulen, veganen und vegetarischen Mensen bis hin zu außerschulischen Angeboten zum Thema in Museen und Stiftungen. Es ist wichtig, dass Lernorte ökologisch nachhaltiger werden – nur so können wir ein tiefgreifendes Verständnis für Nachhaltigkeit bekommen. Ob ich im Unterricht nur Zahlen und Fakten zum Plastikgehalt im Meer vermittelt bekomme oder ob ich außerdem in der Cafeteria auf Alternativen zum Plastikbecher treffe, macht einen großen Unterschied. Daneben ist auch soziale Nachhaltigkeit an Lernorten von großer Bedeutung. Es muss so früh wie möglich ein Verständnis dafür geschaffen werden, wie wir fürsorglich und solidarisch miteinander umgehen können und dass jegliche Art von Diskriminierung weder in der Schule noch sonst irgendwo einen Platz hat.
Gerhard de Haan: Nachhaltigkeit spielt immer noch eine untergeordnete Rolle im Bildungsbereich. Wenn man sich den schulischen Bereich anschaut, dann ist das Thema Nachhaltigkeit zwar in den neuesten Lehrplänen durchaus zu finden, aber eine durchgängige, umfängliche Verankerung fehlt weiterhin. In der Sekundarstufe I wird Nachhaltigkeit gerade einmal in rund zehn Prozent der Unterrichtszeit thematisiert. Lernende wie Lehrende würden es aber gut finden, wenn mehr als ein Drittel der Unterrichtszeit einen deutlichen Bezug zur Nachhaltigkeit hätte – so das Ergebnis unserer Befragung von mehr als Externer Link: 2000 jungen Menschen und Externer Link: 500 Lehrkräften von 2018.
Fächer wie Mathe, Ethik oder Geografie lassen sich mit dem heute so zentralen Thema Klimawandel sehr gut verbinden – was punktuell in Projekten ja auch schon geschieht. Eine Schule, die Lebensnähe praktiziert, sollte auch Themen wie nachhaltige Mobilität, Konsum, Gründe für Migration und Globalisierung aufgreifen. Doch um dies umzusetzen, müssten andere Lehr- und Rahmenpläne gelten als heute. Auch in den Hochschulen ist das Thema Nachhaltigkeit in seiner Komplexität noch wenig verankert – selbst in der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer. Ähnlich defizitär ist die Lage in der beruflichen Bildung. Im Kita-Bereich dagegen finden sich in den neueren Bildungsplänen schon deutliche Formen der Verankerung. So heißt es beispielsweise im Externer Link: Bildungsplan von Thüringen: "Alle Kinder haben ein Recht […] sich als Teil der Gesellschaft zu verstehen und diese […] im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung mitzugestalten."
Johanna Reitz: Was mein Bundesland Sachsen betrifft, lässt sich das Thema mit vielen, schon relativ lang etablierten Inhalten des Lehrplans verknüpfen. Dazu zählen die seit der letzten Lehrplanreform 2004 eingeführte Kategorisierung der Lernziele in "Wissen – Kompetenzen – Werte", das Konzept "Lernen lernen", das an Schulen individuell umgesetzt wird und den Schülerinnen und Schülern Lern- und Organisationsstrategien vermittelt, aber auch der Profil- sowie der fächerverbindende Unterricht. Vor dem Hintergrund der aktuellen Fragen zum Klimawandel rückt das Thema bei Lehrenden sowie Schülerinnen und Schülern stärker ins Bewusstsein. Die Aufgabe jeder Lehrperson ist es, in seinem oder ihrem Unterricht Anknüpfungspunkte zu finden.
Jedes Fach soll sich laut sächsischem Lehrplan mit Nachhaltigkeit beschäftigen. Das ermöglicht und erfordert fächerverbindende Herangehensweisen und ist für Schulen eine große Chance, gewohnte Bahnen zu verlassen und die einzelnen Fächer stärker zusammenzuführen. Doch nicht nur Fächer können hier miteinander verbunden werden, sondern alle am Schulleben beteiligten Personengruppen: Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrende. An unserem Gymnasium hat sich auf eine Elterninitiative hin eine AG "BNE" (Bildung für nachhaltige Entwicklung) gegründet. Insofern ermöglicht die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit nicht nur auf Fakten ausgerichtete Bildung, sondern auch soziales Lernen bzw. "Interner Link: Service learning": Wie arbeite ich mit anderen zusammen? Für wen oder für welche Ziele setze ich mich ein?
Nachhaltig und digital
2. Wie können digitale Medien eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Thema Nachhaltigkeit unterstützen?
Elena Keil: Digitale Medien schaffen natürlich viel mehr Möglichkeiten, Nachhaltigkeit zu erleben. So gibt es Plattformen, die eine digitale Videokonferenz mit Menschen am anderen Ende der Welt ermöglichen und so den Austausch und das Verständnis für verschiedene Lebensweisen fördern, Apps, durch die spielerisch nachhaltiges Handeln vermittelt wird und E-Learning-Programme, die in der Lehrer- und Lehrerinnenfortbildung eingesetzt werden.
Dabei ist eines besonders wichtig: Nicht nur die technischen Geräte sollten finanziert werden. Vor allem muss auch der sichere und bewusste Umgang mit diesen, beispielsweise bezüglich des Ressourcenverbrauchs oder des Datenschutzes, vermittelt und gewährleistet werden.
Gerhard de Haan: Die digitalen Medien tragen ja heute schon zur reflektierten Auseinandersetzung mit dem Thema Nachhaltigkeit bei. Aus der oben genannten Befragung wissen wir, dass nicht die Schule, die berufliche Bildung oder die Hochschule beim Erwerb von Wissen über Nachhaltigkeit an erster Stelle stehen, sondern die digitalen Medien. YouTube-Videos zum Klimawandel, wie der Externer Link: Faktencheck von Professor Harald Lesch zu einem Klimaquiz der AfD, erreichen regelmäßig hohe Klickzahlen.
Nahezu alle Probleme, die in der Agenda 2030 angesprochen werden (Hunger, extreme Armut, Biodiversitätsverlust, Klimawandel, Kriege, Konflikte usw.), kennen wir im globalen Norden zumeist nur aus den Medien, nicht aus der eigenen Erfahrung. Diese Probleme sind jedoch der zentrale Treiber für die Auseinandersetzung mit der aktuellen globalen, nicht-nachhaltigen Entwicklung. Medien wie YouTube oder das Fernsehen emotionalisieren die Probleme, ja dramatisieren sie zum Teil.
Speziell das Internet kann aber auch eine reflektierte Auseinandersetzung – z.B. mit dem Klimawandel – fördern, da online Positionen zu finden sind, die im Widerspruch zur eigenen Meinung oder der des eigenen Umfelds stehen. Um die Widersprüche aushalten und bewerten zu können wäre es sehr hilfreich, wenn diese in der Schule, Hochschule oder in der außerschulischen Bildung zum Thema gemacht würden – was bisher zu wenig geschieht. Sich bei der Meinungsbildung allein auf die digitalen Medien zu verlassen, ist ein Problem, insbesondere da sich in sozialen Medien schnell Gruppen bilden, bei denen die Externer Link: Bestätigung der eigenen Meinung und Vorurteile im Vordergrund stehen. Aktiv wird man in der Regel dort, wo man sich konkret vor Ort engagieren kann, und da sind die außerschulischen NGOs und ehrenamtlich aktiven Gruppen gegenüber den digitalen Medien deutlich im Vorteil.
Johanna Reitz: In erster Linie helfen digitale Medien bei der Informationsbeschaffung und dem Informationsaustausch, aber auch, um Inhalte neu aufzuarbeiten und Aktionen zu einer breiten Öffentlichkeit zu verhelfen. Schulen können so z.B. über laufende Projekte informieren oder erfolgreiche Aktionen dokumentieren. Aktive Schülerinnen und Schüler treten Aktionen oft spontan und mit viel Herzblut los. Ein gezielter Aufruf über die Schulwebsite und soziale Medien oder ein abschließender Bericht können dabei helfen, eine Aktion in den richtigen Zusammenhang zu bringen, Unterstützerinnen und Unterstützer zu gewinnen und sich selbst der Erfolge zu versichern. Wir haben beispielsweise Projekte unserer AG "BNE", wie unseren Aktionstag Nachhaltigkeit, die Verleihung des Titels "Klimaschule" oder die Pflanzung des Klimaschulbaums, auf unserer Schul-Website präsentiert und damit auch öffentlich zeigen können, dass wir in kurzer Zeit schon relativ viel erreicht haben. Das motiviert vielleicht sogar potenzielle neue Mitstreiter und Mitstreiterinnen, sich in unserer Arbeitsgruppe zu engagieren.
3. Welche Rolle spielen digitale Medien und Plattformen für Bewegungen wie Fridays for Future (FFF)?
Elena Keil: Hier spielen verschiedene Aspekte eine Rolle: Durch digitale Medien und Plattformen können internationale Bewegungen wie FFF überhaupt so groß werden. Menschen sind viel schneller miteinander verbunden, und die Aufmerksamkeit für Themen wird durch soziale Medien verstärkt. Andererseits kann es für einige Menschen auch eine Hürde sein, sich digital zu beteiligen.
Tatsächlich besitzt nicht jeder Mensch ein Smartphone oder hat schlichtweg keine Lust, sich mehrere Stunden nur digital zu engagieren. Das Gefühl, durchgehend erreichbar sein zu müssen, kann zu Stress führen und eher demotivieren. Auch Missverständnisse kommen wegen der verkürzten Kommunikation in digitalen Medien häufiger vor.
Digitale Medien und Plattformen unterstützen die Organisation und die Vernetzung, aber sie ersetzen nicht den zwischenmenschlichen Austausch im Rahmen von Offline-Angeboten. So sind es für Bewegungen wie FFF auch gerade die Begegnungen jeden Freitag auf der Straße, lustige Banner- und Demoschilder-Basteltage, oder Parents-for-Future-Cafés, die neue Kraft und Motivation schenken.
Gerhard de Haan: Fridays for Future wäre ohne digitale Plattformen weder denkbar noch zu organisieren. Die sozialen Medien sind dabei ebenso entscheidend für die Meinungsbildung wie das Internet und (für die ältere Generation) das Fernsehen. Es ist aber auch nicht zu übersehen, dass durch die Kommunikation über das Smartphone, Instagram, Facebook und andere Plattformen nichts innerhalb der Gruppen der aktiven Akteurinnen und Akteure verbleibt. Wir wissen alle, dass unsere Bewegungsprofile, Seitenaufrufe und Posts abgeschöpft und ausgewertet werden. Wir stehen unter Beobachtung. Manche sprechen inzwischen vom "Farming": Unsere Daten werden geerntet. Futter für die Algorithmen, die unser Handeln kalkulierbar machen. Das ist der zu zahlende Preis – auch für Bewegungen wie FFF. Aber die Ambivalenz bleibt: Digitale Medien mögen uns dadurch, dass sie aufrütteln, vor schlimmerem bewahren. Damit aber Demokratie und freie Meinungsbildung nicht am Ende durch Bots, Fake News etc. untergraben werden, bleibt die Kompetenz, die Glaubwürdigkeit der Inhalte zu hinterfragen, eine wachsende Aufgabe für die Bildung.
Johanna Reitz: Da FFF gemeinhin als eine Jugendbewegung angesehen wird, sind die digitalen Medien hier von enormer Bedeutung, weil junge Menschen digitale Medien intensiv nutzen. Die Aktivistinnen und Aktivisten organisieren sich so, tauschen Informationen aus und arbeiten zusammen. Reichweite und Schnelligkeit der Kommunikation über digitale Medien haben es möglich gemacht, dass FFF zu einer globalen Bewegung geworden ist und es hoffentlich bleiben wird. Die Herausforderung, auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen, gehört und einbezogen zu werden, wird in der nächsten Zeit weiter bestehen bleiben. Hier können digitale Medien natürlich unterstützen, doch kommt es letztlich vor allem auf überzeugendes Auftreten am Verhandlungstisch an.
Über unsere Interviewpartnerinnen und -partner
Elena Keil ist Teil von Externer Link: youpaN, dem Jugend-Panel zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), und setzt sich für nachhaltige Bildung und mehr Beteiligung von jungen Menschen in politischen Prozessen ein.
Gerhard de Haan ist Professor für Zukunfts- und Bildungsforschung an der Freien Universität Berlin. Er hat dort 2010 den Masterstudiengang "Zukunftsforschung" etabliert. Von 2005 bis 2014 war er Vorsitzender des deutschen Nationalkomitees der UN-Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung". Seit 2015 ist er Wissenschaftlicher Berater des BMBF für das UNESCO-Weltaktionsprogramm "Bildung für nachhaltige Entwicklung".
Johanna Reitz ist seit 2009 im sächsischen Schuldienst tätig. Sie arbeitet seit 2013 als Lehrerin am Bertolt-Brecht-Gymnasium in Dresden, das seit September 2019 den Titel "Klimaschule" trägt. Sie ist außerdem Mitglied der dortigen Arbeitsgruppe "Bildung für nachhaltige Entwicklung".
Theresa Kühnert ist seit Juli 2019 als Redakteurin für Externer Link: werkstatt.bpb.de tätig. Davor studierte sie Sozial- und Politikwissenschaften in Leipzig sowie Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts an der FSU Jena. Seit 2020 betreut sie außerdem verschiedene Projekte im Bereich der historisch-politischen Bildungsarbeit.
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