Die Technologien Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) finden vermehrt Einsatz im Bildungsbereich.
Historische Spuren im Raumbild durch AR
AR bezeichnet die Erweiterung (Augmentation) der physischen Welt durch digitale Elemente wie Animationen, Texte, Daten oder Audio, sowohl in 2D als auch 3D.
Ein Beispiel für die Nutzung von AR in der historisch-politischen Bildung ist eine von der Universität Pompeu Fabra in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen entwickelte AR-Tablet-Anwendung, die Besucherinnen und Besuchern die eigenständige Erkundung der Gedenkstätte ermöglicht.
Im Sinne einer als "realism" bezeichneten Herangehensweise
Es ist davon auszugehen, dass solche AR-Apps für Tablets oder Smartphones im Museums- und Gedenkstättenbereich in Zukunft verstärkt für die Wissensvermittlung und die Führung von Besucherinnen und Besuchern eingesetzt werden. Damit diese Anwendungen einen Mehrwert darstellen ist die Umsetzung einer technisch hochwertigen Navigation im Raum und eine inhaltliche und pädagogische Kuratierung von hoher Qualität entscheidend.
Virtuelle Museums- und Gedenkstättenbesuche mit 360°-Videos
Als VR wird eine computergenerierte, artifizielle Wirklichkeit bezeichnet, die entweder vollständig imaginär oder eine 3D-Reproduktion der physischen Welt ist. VR wird über Großbildleinwände, in speziellen Räumen oder über ein Head-Mounted-Display (Virtual-Reality Headset oder ähnliches) projiziert. Die Nutzerinnen und Nutzer tauchen komplett in die virtuelle Realität ein (Immersion), die physische Welt tritt in den Hintergrund.
Die derzeit verbreitetste Form der VR in der Bildungsarbeit sind 360°-Videos, mittels derer Museen und Gedenkstätten virtuell besucht werden können. Die 360°-Erfahrung erlaubt eine interaktive Erkundung der zuvor gefilmten Orte, die Nutzerinnen und Nutzer bleiben dabei an den Standpunkt der Kamera gebunden und können nicht mit der physischen Welt interagieren. Ein Beispiel ist die 2017 vom WDR produzierte 9-minütige 360°-Dokumentation Inside Auschwitz, die als weltweit erste Dokumentation dieser Art Ausschnitte aus Zeugnissen überlebender Frauen des Konzentrationslagers einbindet.
Ein weiteres Beispiel ist die App Anne Frank House VR, die von der Firma Force Field für das Anne Frank Haus entwickelt wurde. Im Unterschied zu dem Museum im Hinterhaus in Amsterdam, in dem auf Wunsch des Vaters von Anne Frank nur leere Zimmer besichtigt werden können, ist das virtuelle Hinterhaus in der VR-App im Stil der 1940er Jahre eingerichtet.
Eine Antwort auf das Ende der Zeitzeugenschaft?
Derzeit findet neben einer radikalen digitalen Transformation der Gesellschaft auch ein erinnerungskultureller Wandel statt. Dabei rückt für die historisch-politische Bildung die Frage in den Vordergrund, wie eine Erziehung über Auschwitz ohne direkte Begegnungen mit Überlebenden aussehen kann und wie der Sorge, dass nachfolgende Generationen das Interesse an dem Thema verlieren, begegnet werden kann. Entsprechend werden große Hoffnungen auf die Attraktivität digitaler Technologien gesetzt.
Ein interaktives, digitales Zeitzeugengespräch mit Anita Lasker-Wallfisch (© USC Shoa Foundation)
Ein interaktives, digitales Zeitzeugengespräch mit Anita Lasker-Wallfisch (© USC Shoa Foundation)
Seit Jahren wird dem Ende der "Era of Witnesses"
Die Interviews wurden mit einer Technologie gefilmt, die in Zukunft eine holografische Darstellung der Interviews ermöglichen kann. Obwohl aktuell der interaktive Aspekt des Projekts im Vordergrund steht und bislang keine Hologramme existieren, sorgte diese Entscheidung für Bewertungen des Projekts als ‚Erinnerungscyborg‘, der Projektionen als ‚Gespenster’, und ‘Auto-Ikonen’.
Mithilfe einer Spracherkennungssoftware (ASR) ermittelt das System die passenden Antworten auf die Fragen der Nutzerinnen und Nutzer und ermöglicht so eine interaktive Auseinandersetzung mit den Zeugnissen Überlebender. Die DiT-Anwendung ist derzeit in ausgewählten Museen zugänglich, in Zukunft sind laptopbasierte Einsätze im Schulunterricht geplant. Entscheidend für ein erfolgreiches interaktives Lernen im musealen Bereich ist eine quellenkritische und historische Kontextualisierung der Interviews.
Einen Schritt weiter geht die USC SF mit dem 17-minütigen VR-Film The Last Goodbye (2017), der Nutzerinnen und Nutzer als komplett immersive Erfahrung unter Führung des virtuell projizierten Überlebenden Pinchas Gutter durch das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek führt.
Gutter wurde bei einem Rundgang durch das ehemalige KZ vor einem Greenscreen gefilmt und im Nachhinein als 3D-Augmentation mit der unmittelbar im Anschluss an seinen Rundgang als VR gefilmten Gedenkstätte verknüpft. Dies ermöglicht den Nutzerinnen und Nutzern, die Gedenkstätte eigenständig zu erkunden und dabei Gutters Erzählungen zu folgen. The Last Goodbye ist derzeit in mehreren US-amerikanischen Museen zugänglich.
(Interaktives) Lernen oder emotionale Überwältigung?
Sanna Stegmaier (© privat)
Sanna Stegmaier (© privat)
Es ist wichtig, sich die gesellschaftliche Bedeutung von Überlebenden und historischen Orten vor Augen zu führen, will man die vorgestellten Projekte als technologische Antworten auf das Ende der "Era of Witnesses" analysieren. Aufgrund ihres jahrzehntelangen Ringens um Anerkennung und Entschädigung, aber auch durch ihre Rolle als Mahnende gegen die Gefahr des Leugnens, des Vergessens und des Verdrängens sind Überlebende vor allem in Deutschland ein wichtiges politisches Korrektiv. Direkte Begegnungen mit ihnen gelten als besonders eindrückliche Bildungserfahrungen.
KZ-Gedenkstätten erinnern als historische Orte sowohl an die Leiden der Opfer als auch an die NS-Verbrechen und haben eine wichtige Bedeutung für das Lernen über den NS und Holocaust. In vielen Fällen wurden sie von Überlebenden gegründet und sind daher eng mit ihrer Zeugenschaft verbunden. Die Besonderheit des Lernens an diesen Orten des Terrors ist die Verbindung ihrer historischen Topografie mit der Vermittlung historischen Wissens. Diese Besonderheiten sind an die realen Personen und Orte geknüpft und können nicht in einer virtuellen Realität nachgestellt werden.
Gleichzeitig verdeutlichen die vorgestellten AR- und VR-Projekte, dass pauschale Urteile über ihre Verwendbarkeit in der historisch-politischen Bildung wenig sinnvoll sind. Vielmehr sind sie nach ihrem fachspezifischen und didaktischen Nutzen für das jeweils angedachte Zielpublikum zu bewerten.
Die hier genannten Beispiele zeigen, dass Einsatzszenarien von AR/VR-Technologie den Nutzerinnen und Nutzern die Chance für eine selbstbestimmte und dennoch kuratierte Geschichtsvermittlung eröffnen. Voraussetzung hierfür ist eine enge Zusammenarbeit von Historikerinnen und Historikern, Kuratorinnen und Kuratoren, Pädagoginnen und Pädagogen sowie App-Entwicklerinnen und -Entwicklern bei der Konzeption und Umsetzung von digitalen Angeboten, die die Erkundung der historischen Orte unterstützen, diese aber nicht auf das Digitale reduzieren.
Alle hier vorgestellten Angebote – besonders jene, die auf komplett immersive Lernerfahrungen setzen, bedürfen didaktischer Kontextualisierung. Besonders im musealen Bereich, wo sie hauptsächlich von Einzelbesucherinnen und -besuchern genutzt werden, ist unklar, wie diese praktisch gewährleistet werden soll.
Besonders herausfordernd ist der Zusammenhang von Immersion und Empathie in Bezug auf die Darstellung von Überlebenden des Holocaust. Angebote der historisch-politischen Bildung sollten nicht allein eine emotionale Identifikation mit den Opfern zum Ziel haben.
Insgesamt wird deutlich, dass AR/VR-Angebote in verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen unterschiedlich verhandelt werden und daher lokal adaptiert bzw. ergänzt werden müssen. In den USA, wo Empathie als identifikationsstiftendes Element ein zentraler Bestandteil der "Holocaust Education" ist, gibt es weniger Vorbehalte gegenüber dem Einsatz immersiver und affektiver Anwendungen. In Deutschland hingegen müssen sich die Anwendungen am so genannten
Festzuhalten bleibt, dass vor allem die Vor- und Nachbereitung entscheidend sind, um kognitive und affektive Elemente zu verknüpfen. Gerade der Einsatz von immersiven Technologien bietet ein großes medienpädagogisches Potenzial, solange auch hier die Erfahrung der Nutzerinnen und Nutzer entsprechend aufbereitet wird.