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OER – was wir von Norwegen lernen können | Open Educational Resources – OER | bpb.de

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OER – was wir von Norwegen lernen können

Theresa Samuelis

/ 6 Minuten zu lesen

Norwegen ist ein Vorreiter im Bereich Open Educational Resources. Prof. Dr. Frank J. Müller ist durch das Land gereist, um herauszufinden, welche Erfahrungen Norwegen mit OER gemacht hat und wie andere Länder darauf aufbauen können.

OER und die gemeinsame Weiterentwicklung von freien Bildungsmaterialien haben in Norwegen einen anderen Stellenwert. (© Public Domain, Externer Link: Unsplash/ bearbeitet / Externer Link: Lizenz)

werkstatt.bpb.de: In Ihrer aktuellen Studie haben Sie Interner Link: Open Educational Resources (freie und offene Bildungsmaterialien) in Norwegen untersucht. Welchen besonderen Stellenwert haben OER in Norwegen und was macht die Bedingungen für freie digitale Bildungsmaterialien dort so besonders?

Prof. Dr. Frank J. Müller: Die Nasjonal Digital Læringsarena (NDLA/ engl.: Norwegian Digital Learning Arena) aus Norwegen gilt in der Diskussion um OER als ein positives Beispiel dafür, wie eine staatliche Förderung von OER aussehen kann. Norwegen hat 2006 eine mit dem Digitalpakt in Deutschland vergleichbare Initiative zur Ausstattung der Schulen mit Computern gestartet. In der Folge stellte sich die Frage: Was fangen wir damit an? Durch ein neues Gesetz wurden die Verwaltungsbezirke verpflichtet, qualitativ hochwertige digitale Materialien zur Verfügung zu stellen. Die Verwaltungsbezirke, die die Verantwortung für die Sekundarstufe II haben, haben sich dann zusammengeschlossen in der NDLA, einer virtuellen Organisation, die sich der Bereitstellung freier Bildungsmaterialien widmet. Dafür bringen sie 20% ihres Schulbuchetats auf. Die NDLA ist damit eine Plattform, die in großem Umfang und über einen langen Zeitraum – seit 2006 – OER entwickelt oder einkauft und sie anschließend bereitstellt.

Was genau wollten Sie mit der Studie herausfinden?

Das Ziel war herauszufinden, was genau Norwegen im Bereich OER anbietet, welche Erfahrungen es in den letzten zehn Jahren gesammelt hat und wie andere Länder darauf aufbauen können. Als Vertreter der inklusiven Pädagogik wollte ich auch untersuchen, inwieweit OER genutzt werden können, um Lehrkräfte dabei zu unterstützen, der Heterogenität aller Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden.

Wie sind Sie bei Ihrer Untersuchung vorgegangen und wie müssen wir uns Ihre Reise durch das Land vorstellen?

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der NDLA sind über ganz Norwegen verteilt und arbeiten überwiegend online zusammen. Gemeinsam mit Øivind Høines, dem damaligen Leiter der NDLA, habe ich Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für verschiedene Bereiche identifiziert. Dabei wurden auch Kooperationspartnerinnen und -partner und Gegnerinnen und Gegner der NDLA einbezogen. Ausgehend von einer Mindmap mit offenen Fragen und Themenschwerpunkten wurden die Interviews an den spezifischen Kompetenzen der Befragten orientiert. 6295 km und 14 Interviews später, zwischen Kristiansand und Tromsø, haben wir nun einen genaueren Einblick in die Situation in Norwegen.

Reiseroute von Prof. Dr. Frank J. Müller durch Norwegen (Externer Link: Google Maps) Lizenz: cc by/1.0/deed.de

Was sind die zentralen Ergebnisse Ihrer Studie?

Von entscheidender Bedeutung für die staatliche Finanzierung von OER ist die Entwicklung einer entsprechenden Rechtsgrundlage. In Norwegen wurde ein rechtlicher Rahmen gesetzt und dank der Klage der Schulbuchverlage ist auch vor dem Gericht der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) auf europäischer Ebene im Jahr 2012 geklärt wurden, dass es sich bei dem Modell von NDLA nicht um eine unzulässige staatliche Beihilfe handelt. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass sich andere Staaten an dem Gesetz orientieren können und so vergleichbare Klagen nationaler Schulbuchverlage geringe Erfolgsaussichten haben.

Interessant an der Diskussion ist auch, dass die Schulbuchverlage nicht offenlegen, wie hoch ihre Kosten für die Produktion von Materialien unter einer freien Lizenz sind. Auch die ursprünglich von der NDLA gewünschte Kooperation wird von den Schulbuchverlagen verweigert. Insgesamt werden 70 Prozent der Fördergelder, die von den Verwaltungsbezirken an die die NDLA fließen, über öffentliche Ausschreibungen vergeben. Das heißt, nach wie vor stehen 94% der verfügbaren Mittel für Schulbücher weiter dem Markt zur Verfügung. Da sich die nationalen Verlage aber weigern, an den Ausschreibungen teilzunehmen, entsteht ein neuer Markt. Die NDLA musste sich hier frühzeitig professionalisieren, um beispielsweise europaweite Ausschreibungen rechtssicher umzusetzen.

Für NDLA ist das individuelle Lernen im Austausch mit Mitschülerinnen und Mitschülern ein zentraler Bestandteil des pädagogischen Konzepts. Die NDLA bietet in vielen Fächern bereits nach Schwierigkeitsstufen differenziertes Material an. Über anpassbare Lernpfade können Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern individuelle Angebote zur Verfügung stellen. Diese Angebote beziehen auch Offline-Aktivitäten ein. Wichtig ist – auch für die NDLA –, dass die Digitalisierung in den Schulen nicht dazu führen soll, dass Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte nur noch mit Kopfhörern wischend vor ihren Tablets sitzen und individuell angepasste Aufgaben bearbeiten. Das Lernen erfordert auch weiterhin den Dialog und die Möglichkeit, Lernpfade auch zu verlassen und selbstbestimmt weiterzuentwickeln.

Wir können lernen, nicht immer wieder von vorne zu beginnen, sondern es uns durch größtmögliche Offenheit ermöglichen, auf den Ideen von anderen aufzubauen. Wichtig für die staatliche Finanzierung von OER ist Entwicklung einer entsprechenden Rechtsgrundlage. Inklusive Pädagogik meint für mich - in Anlehnung an Georg Feuser - ein gemeinsames Lernen, Spielen und Arbeiten aller Kinder und Jugendlichen in Kooperation, auf ihrem jeweiligen Niveau und am gemeinsamen Gegenstand.

Ein Schwerpunkt der Studie ist das Thema Inklusion – und allein das ist ja schon ein weites Feld. Wie steht es um inklusive Pädagogik im Vergleich von Deutschland und Norwegen und was können OER in diesem Bereich leisten?

In meinem Verständnis meint inklusive Pädagogik, in Anlehnung an den deutschen Erziehungswissenschaftler Georg Feuser, das gemeinsame Lernen, Spielen und Arbeiten aller Kinder und Jugendlichen in Kooperation, auf ihrem jeweiligen Niveau und am gemeinsamen Gegenstand. Der Ansatz von NDLA greift die individuellen Perspektiven der Schülerinnen und Schüler systematisch auf, berücksichtigt aber noch nicht hinreichend die Dimension 'Beeinträchtigung'. Die übrigen Dimensionen (Geschlecht, kulturelle und soziale Herkunft aber auch die Affinität zu digitalen Medien) werden bei der Entwicklung der Materialien durch sogenannte Personas repräsentiert, also durch fiktive Beschreibungen von Lernenden und Lehrenden. Diese nutzen die Entwicklerinnen und Entwickler von OER, um zu testen, inwieweit die Bildungsmaterialien für unterschiedliche Personenkreise nutzbar sind.
In den letzten Jahren stellt die NDLA vor allem die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler als Nutzende in den Mittelpunkt der Entwicklung. Dementsprechend werden sie zum Beispiel über Kooperationsschulen einbezogen. So kann es gelingen, die Bedürfnisse aller Lernenden im Blick zu behalten.

Zurück nach Deutschland: Was kann unser Bildungssystem denn nun von Norwegen lernen, was möglicherweise übertragen und was ist und bleibt spezifisch norwegisch?

Die Idee, Lernende mit und ohne Beeinträchtigungen in die Entwicklung von OER einzubeziehen, haben wir an der Externer Link: Universität Bremen beispielsweise in einem OER-Projekt zum inklusiven, interessengeleiteten Schriftspracherwerb aufgegriffen. In dem gemeinsam mit den Sophie-Scholl-Schulen durchgeführten und von der Aktion Mensch geförderten Projekt wird die Perspektive der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Förderbedarf von Anfang an berücksichtigt, sodass die Materialien nicht am Bedarf vorbeientwickelt werden.

Darüber hinaus kann Deutschland in vielfältiger Art und Weise von der Arbeit der NDLA profitieren. Wir können auf den Inhalten und der Software, aber auch auf den Strukturen aufbauen. Möglich wird dies durch die Offenheit der Norwegerinnen und Norweger. Inhalte und Software stehen jeweils unter freien Lizenzen und können daher kostenfrei weitergenutzt werden. Aber auch die Strukturen der Organisation wurden in den von mir geführten Interviews ausführlich beschrieben, sodass bestimmte Erfahrungen in Deutschland nicht durch eigene Projekte selbst gemacht werden müssen. Wir können lernen, nicht immer wieder von vorne zu beginnen, sondern durch eigene Offenheit auf den Ideen von anderen aufzubauen. Wenn wir konsequent auf offenen Quellcode und Lizenzen für Inhalte setzen, lassen sich enorme Einsparungen umsetzen und dadurch mehr differenzierte Angebote im Sinne der Schülerinnen und Schüler schaffen.

Zahl der Schülerinnen und Schüler (Klasse 1-10), gerundet nach KMK-Statistik 2017/2018 (eigene Darstellung) Lizenz: cc by/1.0/deed.de

Spezifisch norwegisch bleiben Möglichkeiten, die auf die geringe Zahl an Einwohnerinnen und Einwohner zurückgehen. So bietet die NDLA beispielsweise eine Filmbibliothek an, die ohne Login und Passwort nicht nur für Lernende, sondern auch für alle übrigen Norwegerinnen und Norweger zugänglich ist. Solche Lizenzvereinbarungen sind für Deutschland nicht realistisch.

Bildung ist in Deutschland Ländersache. Welche Vision zur Nutzung von OER haben Sie für die föderalistische Bildungslandschaft bzw. was würden Sie den deutschen Strukturen mit Blick auf die Implementierung von OER wünschen?

In Norwegen sind die Verwaltungsbezirke für die Sekundarstufe II verantwortlich. 18 der 19 Bezirke beteiligen sich an der Finanzierung der NDLA. Ein solches gemeinsames Vorgehen würde ich mir auch in Deutschland wünschen. Aber auch wenn sich nur ein paar Bundesländer zusammenschließen würden, könnten wir schnell viel erreichen. Die Grafik zeigt die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Bundesländern. Wenn wir pro Schülerin beziehungsweise Schüler und pro Fach einen Euro in die Hand nehmen würden, würden enorme finanzielle Mittel bereitstehen. Die Kernanliegen Digitalisierung und Inklusion könnten so nachhaltig gemeinsam bearbeitet werden.

Hintergrundinformationen zum Interview

Die Studie Chancen und Herausforderungen staatlich finanzierter, frei verfügbarer Bildungsmaterialien (OER) am Beispiel der Plattform ndla.no in Norwegen. Ein Weg zu mehr Inklusion? finden Sie hier:

Weitere Informationen finden Sie außerdem auf dem Externer Link: Twitter-Projektprofil von Prof. Dr. Frank J. Müller.

Im November 2019 wird an der Uni Bremen außerdem die Arbeitstagung "Externer Link: @OERinklusive – Chancen der Digitalisierung für den Umgang mit Heterogenität" stattfinden, um Stakeholderinnen und Stakeholder aus Politik, Schulverwaltungen, Landesinstituten und Interessierte zum länderübergreifenden Netzwerkaufbau zusammenzubringen.

Mehr Informationen zur Nasjonal Digital Læringsarena (NDLA) finden Sie hier: Externer Link: http://www.ndla.no

Prof. Dr. Frank J. Müller lehrt und forscht als Juniorprofessor für Inklusive Pädagogik an der Universität Bremen im Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften. In diesem Zusammenhang entwickelte er unter anderem OER-Materialien für den Deutschunterricht mit Studierenden. Vorher setzte er freie Lehr- und Lernmaterialien als Lehrer an der Grünauer Gemeinschaftsschule Berlin im eigenen Informatik-Unterricht ein. In seiner aktuellen Studie hat er den Umgang mit Open Educational Resources in Norwegen und ihr Potential für die Inklusion erforscht.

Theresa Samuelis ist seit Oktober 2016 Redakteurin für werkstatt.bpb.de. Sie studierte Theaterwissenschaft, Französische Philologie und Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und an der Université Laval Quebec in Kanada. Während des Studiums hospitierte und arbeitete sie unter anderem für die Pressestelle der Schaubühne Berlin sowie die Onlineredaktionen des ZDFtheaterkanals und des Suhrkamp Verlags. Neben ihrer Tätigkeit für die KOOPERATIVE BERLIN ist sie als freie Autorin für Online und Hörfunk tätig.