Geheime Informationen zwischen vergilbten Papierseiten, unzählige Geschichten versteckt in langen, schweigenden Bücherwänden – Bibliotheken als Orte (verborgenen) Wissens, das allein Gelehrten vorbehalten ist, sind nicht nur ein beliebtes Filmsetting, sondern auch Bestandteil unserer kulturell gewachsenen Vorstellungen von Wissenserwerb, Lernen und Lehre. Wer im Jahr 2018 eine Bibliothek besucht, merkt schnell: Es ist Zeit, sich von diesem Bild zu verabschieden.
Heute verfügen Bibliotheken neben Büchern über digitale Angebote und Plattformen im Internet, bieten Workshops an und werden als Treffpunkt und Begegnungsort genutzt. Weil Informationen über das Internet jederzeit abrufbar sind, haben Datenbanken und mobile Endgeräte viele der klassischen Funktionen von Bibliotheken als (Wissens-) Archive übernommen. Stattdessen treten der Austausch und die Vernetzung der Bibliotheken untereinander noch stärker in den Vordergrund.
Wissen teilen statt horten
Laut Barbara Lison (Bundesvorsitzende des Deutsche Bibliothekenverbands) konnten die öffentlichen Bibliotheken in Deutschland 2017 rund 120 Millionen Besuche verzeichnen. Damit sind sie "die am meisten frequentierte Kultur- und Bildungseinrichtung", so Lison in der Studie "Bibliotheken/Digitalisierung/Kulturelle Bildung. Horizont 2018" des Rates für Kulturelle Bildung
Die Bibliothek als "Dritter Ort"
Um das Jahr 2010 fand der Begriff "Dritter Ort" des amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg Eingang in die deutsche Fachdiskussion um das Bibliothekswesen. Seitdem nutzen ihn öffentliche Bibliotheken strategisch, um ihr Selbstverständnis als sozialer Ort der Kommunikation zu etablieren. In Oldenburgs Publikation "The Great Good Place" von 1989 beschreibt er als "Third Place" öffentliche Lebensräume, die vor allem durch ihre Offenheit und den inklusiven Charakter als Orte der Zugehörigkeit und des Ausgleichs soziokultureller Unterschiede charakterisiert sind. Gemeint sind alltägliche Lebensräume der Kommunikation und des Austauschs, wie beispielsweise Kaffeehäuser der Jahrhundertwende. Damit bilden diese "Dritten Orte” neben rein privaten Bereichen ("Erster Ort") und Lern- oder Arbeitsorten ("Zweiter Ort”) zentrale Räume gesellschaftlichen Lebens. Die öffentliche Bibliothek hat sich zu einem Ort entwickelt, der zwei dieser Funktionen vereint – sie ist gleichermaßen Lernort und sozialer Ort der Kommunikation.
Neuere Raumkonzepte für Bibliotheken, etwa das der Externer Link: Q-thek
Neue Konzepte der Wissensvermittlung
Ein weiteres Angebot, das in immer mehr Bibliotheken anzutreffen ist, sind Makerspaces - also Räume, in denen sich Menschen mit gemeinsamen Interessen zusammenfinden, um sich unter professioneller Anleitung bestimmte Fertigkeiten beizubringen, selbst Dinge herzustellen oder existierende umzubauen. In den Makerspaces tauschen die Teilnehmenden neben Wissen auch Equipment aus und gestalten Inhalte aktiv mit, wie Annabell Huwig von der Stadtbibliothek Ludwigshafen in der Kampagne "Externer Link: Netzwerk Bibliothek" des Deutschen Bibliotheksverbands in ihrem Externer Link: Tutorial für den YouTube-Kanal der dbv zusammenfasst. Sie verstehen sich als partizipative Orte des Wissensaustauschs.
Beispiele für Makerspace-Angebote können Virtual Reality-Kurse sein, in denen gemeinsam VR-Brillen getestet werden oder wie in der Externer Link: Kölner Stadtbibliothek eigene VR-Szenarien kreiert werden. Aber auch Zeichenwerkstätten oder andere handwerkliche Projekte, darunter Nähkurse oder das Bedrucken von T-Shirts, finden in den Makerspaces statt. Auch Veranstaltungen wie Hackathons gehören zu den neueren Formaten der Wissensvermittlung und werden von verschiedenen Bibliotheken angeboten, u.a. "Externer Link: Hack To The Future" in Baden-Württemberg. 2017 programmierten in der Stadtbibliothek Minden bei "Externer Link: Jugend hackt: Hello World Minden" zwei Tage lang Jugendliche ab zehn Jahren und übernachteten sogar dort. Wie aus der Studie "Externer Link: Bibliotheken/Digitalisierung/Kulturelle Bildung" des Rates für Kulturelle Bildung (August 2108) hervorgeht, avanciert die kulturelle Bildung neben den Fragestellungen der Digitalisierung und der Bibliothek als "Drittem Ort” zur Kernaufgabe zukunftsgerichteter öffentlicher Bibliotheken. Innovative und niedrigschwellige Formate unterstützen dabei die Auseinandersetzung mit Literatur, Film, Comics, Theater und Musik.
Digitale Bildung
Vor dem Hintergrund der Digitalisierung werden öffentliche Bibliotheken als Lernorte, die eine dezentrale Organisation von Wissen fördern, immer wichtiger. Selbstlernkompetenzen oder produktive Dynamiken innerhalb von Lerngruppen werden durch Strukturen und Angebote von Bibliotheken begünstigt. Mit ihren Ressourcen und Bildungsangeboten ermöglichen sie unabhängig von Lehrplänen Zugang zu Wissen und Kernkompetenzen des zukünftigen Arbeitsmarktes. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Quellen des Wissens alte oder neue, digitale oder analoge Medien sind. Kernaufgaben wie die Bereitstellung von Medien werden durch Vermittlungsangebote, z.B. Medienwerkstätten und Projekte kreativer Medienproduktion oder Veranstaltungen zu medienkritischen Themen (u.a.Cybermobbing und Fake News) ergänzt. Beim jährlichen Safer Internet-Day beteiligen sich daher viele städtische Bibliotheken mit Aktionen und Projekten. Daneben existieren Bildungsangebote, die methodisch mit digitalen Lernwerkzeugen wie Online-Kursen arbeiten. Im November 2016 startete in sieben Bibliotheken im Bundesland Baden-Württemberg das Modellprojekt "Externer Link: Deutsch lernen im virtuellen Klassenzimmer", ein Live-Online-Kurs zur Sprachvermittlung von Dozierenden des Instituts für Berufliche Bildung (IBB). Dabei wurden Lernbegleitung und Hausaufgabenbetreuung durch das Bibliothekspersonal übernommen.
Ein Platz mit Potenzial
Mit den wachsenden Angeboten und Aufgaben öffentlicher Bibliotheken stellt sich auch die Frage der Qualifizierung des Bibliothekspersonals: Inwiefern sollte es durch die Mitarbeit von externen Fachleuten unterstützt werden und wie kann eine Ausbildung aussehen, die den Anforderungen der Digitalisierung und den wachsenden Wirkungsbereichen der Bibliotheken gerecht wird? Neben der technischen Ausstattung von Bibliotheken - gerade auch derjenigen außerhalb der Großstädte - stellt die Qualifizierung des Personals die zentrale Herausforderung für ein zeitgemäßes Bibliothekswesen dar.
Ob als Kooperationspartner im Bildungswesen, Kulturzentrum oder technisches Labor: Die Bedeutung der öffentlichen Bibliothek liegt vor allem in ihrer Funktion als Ort sozialer Gleichheit und Begegnung, an dem Wissen frei zugänglich ist und ausgetauscht werden kann. Gleichzeitig birgt sie Potenzial für Innovation und nicht zuletzt auch für (digitale) Inklusion. Wie die Wiener Tageszeitung Externer Link: Der Standard berichtet, eröffnete erst vor kurzem in Salzburg die erste inklusive Bibliothek im deutschsprachigen Raum. So werden dort viele Bücher in einfacher Sprache angeboten, die Räumlichkeiten und die Homepage sind barrierefrei, und die Bibliothek wird von Beschäftigten der österreichischen Lebenshilfe geführt.
Als wichtiger Ort gemeinschaftlichen Lebens und Lernens benötigen Bibliotheken die Unterstützung ihrer Kommune, um in jeglicher Hinsicht Teilhabe ermöglichen zu können. Modelle der Partizipation und Kooperation sind auch hier der Schlüssel, um sie als gesellschaftliche Zentren zu fördern, ihnen einen sicheren Platz in der Bildung einzuräumen und ihrer Funktion im Stadtraum oder der Gemeinde gerecht zu werden.