Der Einsatz digitaler Medien in der Grundschule stellt für Schulen und Lehrkräfte nach wie vor eine große Herausforderung dar: Neben der Skepsis in Bezug auf den Mehrwert des Einsatzes digitaler Medien im Unterricht, mangelnder technischer und medienpädagogischer Kompetenz sowie fehlenden Unterrichtskonzepten werden eklatante Defizite im Bereich der medialen Ausstattung in den Schulen beklagt (vgl. Breiter et al 2013, 248 f.). Über die Art der Ausstattung herrscht jedoch nach wie vor Uneinigkeit.
Mit dem Whiteboard allein ist es nicht getan: Unterricht unter den Bedingungen von Digitalisierung und Digitalität
Bis heute richten Grundschulen Computerräume mit festen Standrechnern ein, die im Schulalltag meist nur sporadisch genutzt werden. Mit Whiteboards und Dokumentenkameras nachgerüstete Klassenzimmer ermöglichen Lehrkräften in erster Linie eine digitalisierte Form der Präsentation von Unterrichtsinhalten. Die Anschaffung mobiler Geräte als Teil einer vorbereiteten multimedialen Lernumgebung ist die Ausnahme. Lehr- und Lernprozesse werden auch unter Bedingungen der Digitalisierung weiterhin an der printmedialen Buchkultur ausgerichtet und sind nach wie vor behavioristisch geprägt. Digitale Medien werden dabei als Werkzeuge betrachtet, die analoge Medien ersetzen und weder Einfluss auf unterrichtliche Strukturen und Abläufe haben noch Kinder zur Partizipation anregen.
Grundsätzlich wird Unterricht allein durch das Vorhandensein digitaler Medien nicht motivierender. Auch die Rolle der Lehrkraft ändert sich nicht automatisch. Und die vielfach propagierte Selbststeuerung und -verantwortung der Lernenden wird beim Kauf der Geräte nicht mitgeliefert. Die Verfügbarkeit digitaler Technik in Klassenzimmern steigt zwar insgesamt an, aber der Einsatz wird auch zukünftig wenig Wirkung zeigen, wenn die Veränderung der Ausstattung nicht mit einer grundsätzlichen Veränderung der Lernkultur einhergeht (vgl. Kerres 2018, 2), die aktuellen Bildungsanforderungen gerecht wird und veränderte Lebenswelten der Kinder berücksichtigt.
"Kinder rezipieren Geschichten längst nicht mehr ausschließlich über Bücher"
Der frühe und selbstverständliche Kontakt von Kindern zu digitalen Verbreitungs- bzw. Kommunikationsmedien prägt grundlegend ihr Denken und Handeln (vgl. Doebeli Honeg-ger 2016, 44 ff., Wampfler 2017, 17). Bereits im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren verändern Kinder in Folge kultureller Praktiken ihre Art zu kommunizieren und ihre kulturellen Ausdrucksformen. Veränderungen sozialer und sprachlicher Praktiken sollten auch in der Bildung verstärkt in den Blick genommen werden (vgl. Kerres 2018, 4). Bei der Planung und Umsetzung mediengestützter Lehr- und Lernszenarien gilt es, diese Auswirkungen von Digitalität zu berücksichtigen. Digitalität verweist dabei auf historisch neue Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung der unterschiedlichsten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure. Der Begriff ist mithin nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure (Stalder 2016, 18).
Im Rahmen zeitgemäßer Unterrichtskonzepte sind es demnach auch "nicht (digitale oder analoge) Medien per se, die einen didaktischen Mehrwert bieten, sondern die geschickte Kombination aus Unterrichtsmethode, Inhalt und Medien" (Döbeli Honegger 2016, 68, vgl. Wampfler 2017, 24, TPACK, Shulman 1986), die sich positiv auf den Kompetenzerwerb von Schülerinnen und Schülern im Umgang mit analogen und digitalen Texten und Medien auswirkt. Dafür bedarf es einer anregenden Lernumgebung, in der Kinder vielfältige analoge und digitale Angebote nutzen können, die sich an die persönliche Lernausgangslage anpassen lassen. Um Kindern im Rahmen des Lese- und Literaturunterrichts passende Lernangebote anzubieten, gilt es nicht nur, den kindlichen Lern- und Leistungsstand mit Hilfe von Testverfahren zu diagnostizieren, sondern auch, individuelle mediale Vorerfahrungen und Vorlieben in den Blick zu nehmen. Kinder rezipieren Geschichten längst nicht mehr ausschließlich über Bücher, sondern ebenso über Kino- und Fernsehfilme, Computerspiele, Hörspiele und zunehmend über Apps am Tablet PC – eine Entwicklung, die sich in Form vielfältiger Angebote an Texten und Medien im Klassenzimmer abbilden sollte. Umfassende Lesekompetenz versteht sich dann als mediale Zeichenkompetenz, die das Erlesen und Schreiben von Buchstaben ebenso mit einbezieht wie die Rezeption und Produktion multimedialer Zeichensysteme.
Geschichten multimedial inszenieren – mit Adaptable Books
Den veränderten Rezeptionsgewohnheiten von Kindern kann durch die Erstellung von Enhanced E-Books am Tablet-PC, konkret entsprochen werden. Ein solches Konzept mit dem Namen Adaptable Books wurde am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik- und didaktik der Ludwig-Maximilians-Universität entwickelt und vielfach im Unterricht erprobt. Kinder rezipieren dabei Geschichten am Tablet-PC auf Grundlage von Texten, die zunächst von Lehrkräften an die Lese- und Verstehenskompetenzen der beteiligten Kinder angepasst werden. Gleichzeitig werden die Kinder zu Ko-Autoren und -Autorinnen der Geschichten, denn die Texte werden im Anschluss durch mediale Eigenproduktionen der Kinder – in Form von Text, Ton, Bild und Film – ergänzt. Die Herstellung der Adaptable Books eröffnet den Kindern eine große Auswahl an vielgestaltigen Lernangeboten, die dazu anregen sich selbstständig oder in Gruppen mit Texten und Medien auseinanderzusetzen. Dabei werden die persönlichen Bedürfnisse der Kinder in Bezug auf Sprachstand, Leseinteresse, Textinhalt und -länge, Komplexitätsgrad, Schriftgröße und bevorzugte mediale Zu- und Umgangsweisen mit Texten und Medien berücksichtigt (vgl. Abb. 1).
Abb. 2: Auditiver Textteil (©Adaptable Books/Screenshot Book Writer, Good Effect)
Abb. 2: Auditiver Textteil (©Adaptable Books/Screenshot Book Writer, Good Effect)
Für schwächere Leserinnen und Leser können auditive Wortschatzerklärungen in den Lesetext integriert werden, um das Textverständnis zu erhöhen. Kinder sprechen diese selbst ein. Die Aufnahme kann optional auch in den jeweiligen Erstsprachen erfolgen. So wird sichergestellt, dass auch Kinder mit geringen Deutschkenntnissen der Geschichte folgen können. Gleichzeitig wird mehrsprachigen Kindern auf diese Weise die Bedeutung ihrer Mehrsprachigkeit verdeutlicht (vgl. Abb. 1). Längere Textpassagen werden teilweise oder vollständig als auditive bzw. audiovisuelle Formate eingebunden. Lesetext wird dabei nicht einfach medial ersetzt, sondern von den Kindern kreativ mitgestaltet und angeordnet (vgl. Abb. 2).
Die nicht-analytische, sinnlich-individuelle und handwerkliche Aneignung von Literatur in Form szenischer, visueller und akustischer Ausdrucksformen kann "[a]llen Begabungstypen und Fähigkeiten gerecht werden" (Haas/Spinner/Menzel 1994, 17) und vielfältige Formen der Textbegegnung ermöglichen (vgl. Abb.3).
Abb. 3: Audiovisueller Textteil (©Adaptable Books/Screenshot Puppet Pals HD, Polished Play LLC)
Abb. 3: Audiovisueller Textteil (©Adaptable Books/Screenshot Puppet Pals HD, Polished Play LLC)
Ästhetische Produktivität entfaltet sich dabei im Sprechen, im Vorlesen, im szenischen Spiel und im Schreiben (vgl. Abb 2). Ein Adaptable Book ermöglicht die einfache digitale Speicherung der Ergebnisse eines handlungs- und produktionsorientierten Umgangs mit Texten und Medien und generiert dadurch einen neuen digitalen Lerngegenstand für den Lese- und Literaturunterricht. Dieser wird von Kindern in vielfältigen "Beteiligungs- und Handlungssituationen" (Prüß 2008, 173) aktiv mitgestaltet; damit trägt diese Form des Unterrichts maßgeblich dazu bei, schulische Bildungsprozesse partizipativer zu gestalten (vgl. Hauck-Thum 2017, 197 ff.). Zudem schließen sich vielfältige Möglichkeiten zur Begleit- und Anschlusskommunikation an. Je nach Verfügbarkeit der Geräte lässt sich ein Adaptable Book im Klassenverband bzw. mehrere Adaptable Books in Kleingruppen erstellen. Ideal ist die Anschaffung eines mobilen Medienwagens, der mit Tablet-PCs in halber Klassenstärke ausgestattet ist. Die fertigen Adaptable Books stehen auf den Tablet-PCs der Klasse zur Rezeption zur Verfügung, können aber auch mit anderen Klassen geteilt werden. Für die Erstellung der Adaptable Books wird die App Book Writer verwendet. Adaptable Books sind bislang nur auf iPads verfügbar. Aus rechtlichen Gründen eignen sich eigene Texte als Textgrundlage oder auch Märchentexte der Brüder Grimm, da diese gemäß der kindlichen Lernausgangslage beliebig verändert und ergänzt werden dürfen.
Fazit: Besonders Kinder mit geringeren Lesekompetenzen profitieren von Adaptable Books
Vor allem für Kinder mit Leseschwierigkeiten und geringen Vorerfahrungen in Bezug auf unterrichtliches literarisches Lesen kann die Verknüpfung unterschiedlicher multimedialer literarischer Ausdrucksformen dazu beitragen, individuelle literaturästhetische Lernprozesse im Unterricht anzuregen. Ziel von Adaptable Books ist entsprechend ein selbstbewusster und kreativer Umgang mit Texten und Medien, der Partizipation im Unterricht ermöglicht. Technologien werden sich auch zukünftig laufend weiter entwickeln. Eine Fokussierung allein auf die digitale Ausstattung von Schulen reicht allerdings nicht aus, um digitale Medien sinnvoll im Unterricht zu integrieren. Was Kinder darüber hinaus benötigen, ist eine neue Rahmung des Lehrens und Lernens und motivierende Aufgaben, die dazu beitragen, dass Kinder die digitalisierte Welt verstehen, sich darin zurechtzufinden und sie aktiv gestalten.
Webseiten:
Externer Link: www.adaptablebooks.com
Externer Link: www.medien-im-deutschunterricht.de
Literatur:
Breiter, A./Aufenanger, S./Averbeck, I./Welling, S./Wedjelek, M. (2013): Medienintegration in Grundschulen. Untersuchung zur Förderung von Medienkompetenz und der unterrichtlichen Mediennutzung in Grundschulen sowie ihren Rahmenbedingungen in Nordrhein-Westfalen.
Doebeli Honegger, B. (2016): Mehr als 0 und 1. Schule in einer digitalisierten Welt, Kornwestheim: hep.
Haas, G./ Spinner, K. H./ Menzel, W.: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht (1994). In: Praxis Deutsch 123 (1994), 17-25.
Hauck-Thum, U. (2017): Adaptable Books - Inszenierungsräume für individuelle sprachliche und literarische Bildungserfahrungen, in: Abraham, Ulf, Brendel-Perpina, Ina (Hg.): Kulturen des Inzenierens, Stuttgart, 197-210.
Kerres, M. (2017): Bildung in der digitalen Welt. Wir haben die Wahl. In: DENK doch Mal.de, Das online-Magazin, [aufgerufen am 20.8.2018].