Die Menschheit wusste wohl noch niemals zuvor gleichzeitig so viel und doch so wenig voneinander. Fernreisen zu Billigtarifen führen in die entlegensten Winkel der Welt, Klassenfahrten in die USA, das FSJ nach Asien. Gleichzeitig kommen Menschen aus aller Welt nach Europa und leben Tür an Tür mit Alteingesessenen. Die Andersartigkeit, die Differenz, kommt nahe, wird sichtbar und bleibt dennoch häufig unverständlich.
Der und die Andere, das Andere – Gegensätze machen Vertrautes bewusst und Unbekanntes erkennbar. Erst das Erkennen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten ermöglicht sowohl den aktiven Umgang und damit die Verarbeitung wie auch entschiedene Akzeptanz und Hinnahme des Anderen und vermeidet das Verharren in Vorurteilen und Vermutungen. Die erfolgte Auseinandersetzung kann dann Voraussetzung sein für die Ablehnung und Kritik an bestimmten Vorstellungen, wenn diese mit den eigenen nicht in Einklang zu bringen sind.
Fremde Welten, vertraute Bilder
Dass Menschen verschieden sind, leben und glauben, hat Denkerinnen und Denker aller Jahrhunderte vor große Herausforderungen gestellt. Im Koran heißt es, dass Gott die Menschen unterschiedlich gemacht habe, damit sie gemeinsam um das Gute wetteiferten (5:48), ganz ähnlich der biblische Prophet Jeremia, der die Menschen dazu aufruft, gemeinsam stets der Stadt Bestes zu suchen (29:7). Für den französischen Philosophen Jean-Paul Sartre waren "die Anderen" indes die Hölle (wenn man sie beziehungsmäßig dazu werden ließ)
Informationssendungen, Dokumentationen oder Streaming-Kanäle senden permanent Informationen, die trotz allem fremd bleiben, solange es keine eigenmächtige Beschäftigung mit den Inhalten gibt. Medienrezeption alleine ist noch nicht per se aktive Aneignung. Schon lange vor dem Internet hat die Zeitforscherin Helga Zeiher davon gesprochen, dass Fernsehen und Telefon zwar den Blick und die Verbindung in die Ferne ebenso wie gleich nach nebenan erlaubten, dadurch aber letztlich auch nur "Scheinräume" – oder heute "virtuelle Welten" – erzeugt würden: Räume des "scheinbaren" Wissens und Verstehens, der "scheinbaren" Nähe (Zeiher 1983, 188).
Themen bearbeiten mit Spaß und Medienkompetenz
In der Schule findet religiöses Lernen in vielen Bundesländern nach wie vor in konfessionell getrennten Gruppen statt. Auch dort, wo kooperativ-gemeinsamer Religionsunterricht stattfindet (NRW) oder im Rahmen von Ethik (Berlin; L-E-R in Brandenburg) gesellschaftliche Werte vermittelt werden, bieten sich über Projekte mit Medienbezug anregende Gelegenheiten, ökumenisch und sogar interreligiös zu arbeiten. Wichtig erscheint es aber insbesondere, die selbstzweckhafte Beschäftigung mit Medien zu vermeiden und Teilnehmende aktiv mit dem jeweiligen Thema zu verbinden. So kann aus "scheinbarer Nähe" (siehe oben) eine Form der aktiven Aneignung werden.
Wie feiern Familien, Kulturen und Menschen in anderen Ländern Feste? Wie ereignen sich Hochzeiten und Volksfeste? Wie sehen Friedhöfe in anderen Ländern aus? Themen für interreligiöse Medienarbeit liegen auf der Hand und bieten sich bei genauerem Hinsehen in der allernächsten Umgebung. Anlässe für hitzige Diskussionen in Schulen und Jugendgruppen sind häufig auch Zeitungsartikel oder TV-Beiträge. So haben Medienberichte, nach denen islamische Politikerinnen und Politiker oder Parteien in Schweden und in Belgien getrennte Bahnabteile für Frauen und Männer forderten, für Aufregung gesorgt. Doch was wurde überhaupt gefordert und was bedeutet das? Handelt es sich um Geschlechtertrennung – Gender Apartheid? Werden Familien auseinandergerissen? Müssen sie getrennt fahren? Menschen mit Angehörigen in islamischen Ländern könnten hier mit Alltagsbildern oder kurzen Videoclips abhelfen, die solche Abteile zeigen und die Vor- und Nachteile deutlich erkennen lassen – so können eigene Denkprozesse angeregt und individuelle Standpunkte entwickelt werden. Es finden sich mühelos weitere Themen, denen es sich zu nähern lohnt: der jüdische Fußballverein, die koptische Heimatgemeinde, der spanische Bauernhof oder die rumänische Tanzgruppe.
Was kann man praktisch tun?
Private Kontakte und Schulpartnerschaften sind Netzwerke, die sich für interreligiöse Projekte nutzen lassen. Viele Schulen oder einzelne Klassen verfügen über Partnerschaften innerhalb Deutschlands oder mit dem Ausland. Lehrende und Schülerinnen und Schüler sind ihrerseits Multiplikatorinnen und Multiplikatoren mit privaten und familiären Kontakten im In- und Ausland. Auch kleine Schulen verfügen damit über das, was große Redaktionen mit viel Geld aufbauen müssen: ein "internationales Korrespondentensystem". Mit ein wenig motivierender Steuerung können solche Schulpartnerschaften auch für gemeinsame Themenrecherche belebt werden – und das ohne großen logistischen Aufwand.
Manche Frage kann auf diese Weise unkompliziert beantwortet werden, ohne Reisen, ohne Dokumentarfilm, sondern indem Kontakte genutzt werden, die häufig bereits bestehen. Mitglieder von Projekt- oder Arbeitsgruppen aus Schulpartnerschaften oder Verwandte und Bekannte in anderen Ländern können per Skype interviewt werden oder losziehen, um zum Beispiel eine Fahrt in der U-Bahn in einem anderen Land mit dem Mobiltelefon aufzunehmen. Um das genannte Beispiel aufzugreifen: Was ist das, ein nach Geschlechtern getrenntes Bahnabteil? Werden Frauen immer gezwungen, in einem bestimmten Abteil zu fahren? Oder geschieht das manchmal auch freiwillig? Empfinden sie das als Erleichterung oder würden sie lieber gemeinsam mit den Männern Bahn fahren?
Um diese und andere Fragen zu beantworten, könnten Schülerinnen und Schüler zunächst das Umfeld der Schule oder den Freundes- und Verwandtenkreis befragen: Wer kennt jemanden, der jemanden kennt? Hat jemand Verbindungen in ein bestimmtes Land? Mittels moderner Kommunikation ist ein Kontakt schnell gefunden. Außerdem wird das private Umfeld an Schulthemen herangeführt und es dauert oft nicht lange, bis erste Antworten oder sogar Bilder, Beschreibungen oder Videoclips aus einem oder mehreren Ländern vorliegen. Die Ergebnisse einer solchen Recherche können aufbereitet werden für die Schulzeitung, das schulinterne Blog oder ein Projektportal, von dem weitere Menschen außerhalb der Schule profitieren.
Neben der Themenfindung und dem technischen Know-how wäre in einem Bildungsprojekt auch zu erörtern, wie offen die Ergebnisse zur Verfügung gestellt werden, ob Dritte diese bearbeiten dürfen oder sollen und ob möglicherweise bei hochgeladenen Ergebnisvideos oder -präsentationen eine Kommentarfunktion deaktiviert werden soll.
Auch wenn in vielen Ländern und Kulturen Selfies ein verbreitetes und gesellschaftliches Thema sind, müssen selbstverständlich die Regeln und Gesetze vor Ort eingehalten werden. Das Beachten von Persönlichkeitsrechten oder der Verzicht auf die Abbildung von militärischen oder sonstigen Objekten mit sicherheitspolitischer Bedeutung können an dieser Stelle sehr gut zum Unterrichtsthema werden. Im Zweifel sollte darauf verzichtet oder aber vorher ein Konsulat in der Nähe befragt werden.
Medien- und religionspädagogische Rahmung
"Jugendliche artikulieren sich in Online-Räumen auf vielfältige Weise"
Ein Nutzen selbstwirksamer Mediennutzung geht schnell weit über den zunächst an eine konkrete Frage geknüpften Erkenntnisgewinn hinaus, denn das Beispiel kann inspirieren und Schule machen ohne große Kosten zu verursachen. In Bildungskontexten lassen sich zudem alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, begleitet durch Lehrende, sicher nutzen und pädagogisch vertiefen. Das ist wichtig, denn eine Sensibilität gegenüber den Gefahren medial vernetzter Lebenswelten lässt sich weniger frontal vermitteln, als vielmehr aktiv aneignen, wie andere Medienkompetenzen auch.
Interreligiöse Medienarbeit kann so alltägliche Ressourcen nutzen und Ergebnisse beispielsweise über Videoportale auch anderen zur Verfügung stellen. Ohne großen Aufwand kommt man dadurch schnell in den Austausch über Fragen von Religion und Gesellschaft und vor allem über den alltäglichen Umgang damit. Vor allem aber würde die Bedeutung interpersonaler und internationaler oder interkultureller Netzwerke, die später im Beruf von immenser Bedeutung sind, in Bildungseinrichtungen hinein transportiert und früh auf kreative und spielerische Art den Umgang mit dem "Anderen" vermitteln.
Quellen:
Piasecki, Stefan (2017a): Credere et Ludere. Glauben und Spielen: Computer- und Videospiele aus religionspädagogischer Perspektive, Baden-Baden: Tectum
Piasecki, Stefan (2017b): Education, "Pointsification", Empowerment? A critical view on the use of gamification in educational contexts. In: Ebner, Martin / Sad, Nihad (Ed.): Handbook of Research on Digital Tools for Seamless Learning, Hershey / PA: IGI Global (peer reviewed), S. 93-119
Sartre, Jean-Paul (1986): Geschlossene Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Wagner, Ulrich / Brüggen, Niels / Gebel, Christa (2010): Artikulationsformen von Jugendlichen online. Neue Spielräume für mediales Handeln, in: Lauffer, Jürgen / Röllecke, Renate (Hrsg.): Dieter Baacke Preis - Handbuch 5. Jugend - Medien - Kultur. Medienpädagogische Konzepte und Projekte, München: kopaed, S. 32-39
Zeiher, Helga (1983): Die vielen Räume der Kinder. Zum Wandel räumlicher Lebensbedingungen seit 1945, in: Preuss-Lausitz, Ulf u.a. (Hrsg.): Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, Weinheim und Basel 1983, S. 188