werkstatt.bpb.de: Warum ist es wichtig, Lehrende auf den Umgang mit Vielfalt vorzubereiten?
Constanze Fuchs: Der Anspruch an den Umgang mit Vielfalt und die damit verbundene individuelle Förderung aller Lernenden findet seine Entsprechung in der von Deutschland seit 2009 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention. Dieser Rechtsanspruch findet sich auch in den Schulgesetzen der Länder. In den Schulklassen sitzen Lernende mit den unterschiedlichsten Lernvoraussetzungen, von lernentwicklungsverzögerten Schülerinnen und Schülern bis hin zu Hochbegabten. Daneben finden sich ebenso sozial emotional herausfordernde Kinder oder Jugendliche, deren Verhalten immer gute Gründe hat. Für den Umgang mit diesen unterschiedlichen Voraussetzungen im Unterricht benötigen die Lehrenden einen gut gefüllten Koffer mit Handwerkszeug.
Wie können Lehrende auf das vielfaltssensible Unterrichten angemessen vorbereitet werden?
Schon im Studium sollten Praxisprojekte, schulpraktische Studien und vielleicht sogar Praxissemester in Schulen mit beispielsweise inklusiver Beschulung und angeleiteten Beobachtungs- und Reflexionsaufträgen verpflichtend sein. Außerdem ist eine Auseinandersetzung mit innovativer Schulgestaltung etwa über Projektorientierung oder das Lernen in selbstorganisierten und individualisierten Unterrichtssettings, wie zum Beispiel in Fachbüros sinnvoll. Lernende können so zum einen in sinnstiftenden Zusammenhängen und zum anderen kompetenzorientiert im individuellen Rhythmus Wissen erwerben und einüben. Teamarbeit und Kooperation sind wichtige Faktoren für den Umgang mit Diversität und sollten im Studium gleichberechtigte und wiederkehrende Inhalte neben den fachlichen Inhalten sein. Dies wäre ein Schritt zu einer inklusionssensiblen Ausgestaltung der Hochschuldidaktik.
Des Weiteren zeigt etwa das hessische Schulgesetz erhebliche Spielräume zur Ausgestaltung der Individualisierung, beispielsweise über Nachteilsausgleiche und pädagogische Leistungsbewertung. Diese sollten in der Praxis stärker genutzt werden. Mit einer Lese-Rechtschreibschwierigkeit kann zum Beispiel so umgegangen werden, dass mündliche Leistungen in einem höheren Maße berücksichtigt werden können als die schriftlichen oder man ein Wörterbuch zur Verfügung stellt.
Welche inhaltlichen und didaktischen Kompetenzen brauchen Lehrende konkret?
Überfachliche Kompetenzen sind bei langjähriger Unterrichtserfahrung neben der Fachdidaktik unerlässlich. So muss schon bei der Unterrichtsplanung mit bedacht werden, welche überfachlichen Kompetenzen in der Einheit in der gesamten Lerngruppe oder bei einzelnen Lernenden gefördert werden sollen.
Zudem ist für Lehrende ein Blick auf die fachlichen Kompetenzen mit unterschiedlichen Abstraktionsstufen unverzichtbar, um ein individualisiertes Lernangebot machen zu können. Eine differenzierte Absprache über verschiedene thematische Zugänge und Niveaus, bestenfalls im Team, ist wiederum Grundvoraussetzung für eine Verständigung über Arbeitsteilung. Das bedeutet, dass es im Vorfeld der Planung einer Unterrichtseinheit sinnvoll ist, sich über die unterschiedlichen Kompetenzen und die verschiedenen kognitiven Niveaustufen zu verständigen, um dann wiederum getrennte Aufgabenformate zu entwerfen. So sollte etwa der Unterrichtsstoff für eine nicht-lesende Schülerin anschaulich und selbst erlebbar vermittelt werden. Dies muss entsprechend auf das konkrete Thema in Form einer Kompetenzbeschreibung heruntergebrochen werden.
Daneben ist die Kenntnis über allgemeine Entwicklungsstadien von Kindern ebenso von Bedeutung. Sie ermöglicht es, die individuellen Gründe für herausforderndes Verhalten von Lernenden zu verstehen und dann entsprechend darauf reagieren zu können. Nehmen wir das Beispiel eines 14-jährigen Schülers, der den Unterricht stört, indem er andere Schüler vom Lernen abhält: Es kann sein, dass er nicht seinem Alter entsprechend agiert, sondern in der "Angst vor Unfähigkeit" gefangen ist. Er erwartet also, dass er zu wenig kann und eine negative Bewertung bekommt. Die Kenntnisse über Interventionsstrategien und entsprechendes Handlungswerkzeug für solche Situationen sollten Lehrenden von Beginn an vermittelt werden. Hier ginge es etwa drum, das erwünschte Verhalten zu vermitteln, anstelle hilflos Strafen aufgrund von Regelverstößen zu erteilen.
Welche Angebote in der Aus- und Fortbildung gibt es zum Thema Diversität an der Goethe-Universität Frankfurt?
In der ersten Phase der Lehrendenbildung wird an der Goethe-Universität das Projekt Externer Link: LEVEL – Lehrer*innenbildung vernetzt entwickeln gefördert. Ziel des Projektes ist es, angehende Lehrerinnen und Lehrer besser auf die Lehrsituation vorzubereiten. Als Forschungsmethode steht die Videoanalyse von Aufzeichnungen unterschiedlicher Unterrichtsarten und -konstellationen in verschiedenen Schulen im Vordergrund. In der zweiten Phase geht es verstärkt um die Auseinandersetzung mit Diversität – etwa im Kontext von Bildungstheorien, Diagnose, Förderung und Leistungsbewertung oder auch die Vermittlung von Methoden und Medien zur produktiven Nutzung von Diversität. In der dritten Phase bietet unsere Arbeitsstelle unter anderem Fortbildungen zum Thema "Umgang mit heterogenen Lerngruppen" an. Das Angebot beschäftigt sich mit Differenzierungsmöglichkeiten im Frontalunterricht und gibt Impulse sowie praktische Anregungen für Differenzierungsformen im offenen Unterricht: Wochenplan, Stationenarbeit, Projektarbeit, forschendes Lernen, freie Arbeit, Differenzierung mit unterschiedlichen Aufgabenformaten, geschlossene Aufgaben, offene Aufgaben etc.
Welche Herausforderungen sehen Sie für diese (Aus-)Bildungsprozesse?
Die größten Herausforderungen ergeben sich meiner Meinung nach aus den normativen gesellschaftlichen Ansprüchen: Gibt es eine generelle Haltung, die Diversität wertschätzt, oder ist der gesellschaftliche Wunsch nach Kategorien und Ausgrenzung deutlich ausgeprägter? Bewegen wir uns mit dem Anspruch auf individuelle Förderung in einem Dilemma, wenn wir an einem gegliederten Schulsystem festhalten?
Sie haben selbst Lehrerfahrung und als Inklusionsberaterin gearbeitet. Wie sieht ein inklusives Lehrendenprofil aus?
Das inklusionsorientierte Projekt Externer Link: Teacher Education for Inclusion ist ein gutes Beispiel dafür, wie so ein inklusives Lehrendenprofil entwickelt wird. Das Projekt hat sich mit der Frage beschäftigt, welche Lehrkräfte eine inklusive Gesellschaft in der Schule des 21. Jahrhunderts benötigt. Dabei wurden vier zentrale Werte deutlich: 1. die Wertschätzung der Diversität der Lernenden, 2. die Unterstützung aller Lernenden, 3. mit anderen zusammenzuarbeiten und 4. die persönliche berufliche Weiterentwicklung im lebenslangen Lernen. Diesen Werten werden erwünschte Kompetenzen zugeordnet, die sich aus den Elementen Einstellungen, Wissen und Fähigkeiten zusammensetzen. Das heißt: Eine bestimmte Einstellung erfordert ein bestimmtes Wissen und schließlich Fähigkeiten, um das Wissen umzusetzen. Diese Werte nicht nur in der inklusiven Lehrendenbildung zu verankern, erscheint mir wichtig.
Ein Blick in die Praxis: Welche drei Tipps können Sie Lehrenden für das Unterrichten in heterogenen Lerngruppen mit auf den Weg geben?
Das Herstellen einer guten Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden ist die Grundlage für erfolgreiches Lernen, unabhängig von der Methode.
Trotz normativer Anforderungen den Mut zur individuellen Förderung haben und dabei in die intrinsische Motivation der Schülerinnen und Schüler vertrauen, wenn ihnen der Raum zur Selbstwirksamkeit gegeben wird.
Stärkung des Blicks auf überfachliche Kompetenzen als Vorrausetzung für fachliches Lernen.
Über unsere Interviewpartnerin:
Constanze Fuchs ist Geschäftsführerin der Externer Link: Arbeitsstelle für Diversität und Unterrichtsentwicklung – Didaktische Werkstatt am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Vorher war sie unter anderem als Klassenlehrerin im gemeinsamen Unterricht an einer integrativen Gesamtschule, in der inklusiven Beschulung in einer Grundschule sowie als Inklusionsberaterin beim Staatlichen Schulamt Frankfurt tätig.