Hinweis: Die hier formulierten Thesen bilden - stark verkürzt, ohne vollständige Argumentationslinie und Quellen - Erkenntnisse aus den genannten Vorträgen im Rahmen der Fachtagung "Intersektional forschen, Diversität (er)fassen" ab. Sie sind bewusst aus dem wissenschaftlichen Kontext herausgelöst und redaktionell für interessierte Leserinnen und Leser aus der Praxis aufgearbeitet.
Vielfalt ist ein weites Feld. Obwohl es bei werkstatt.bpb.de in erster Linie um die Bildungspraxis geht und wir uns nur selten um die Bildungsforschung kümmern, soll genau dies heute einmal geschehen. Im Kontext des neuen Themenschwerpunktes "Gesellschaft der Vielfalt" sollen exemplarisch drei Thesen aus der Bildungsforschung vorgestellt werden, um einen Eindruck von den weitreichenden Forschungsansätzen zu Intersektionalität und Diversität in Bildungskontexten zu erhalten.
1. Gesellschaft: Zum Spannungsfeld Diversität und Neoliberalismus
Professorin Dr. Katharina Walgenbach (FernUniversität Hagen): "Abschied von der Gleichheit? Diversity und Intersektionalität als Signaturen neuer Vergesellschaftungsmodi in der Spätmoderne"
Katharina Walgenbach nahm mit ihrem Vortrag auf der Fachtagung "Intersektional forschen, Diversität (er)fassen" eine kritische und historische Einordnung der Konzepte von Intersektionalität und Diversität vor. So tauchte ihr zufolge in den 1970er Jahren erstmals die Idee der Chancengleichheit in der Bildung auf: Durch sogenannte "kompensatorische Pädagogik" sollten gleiche Startchancen für alle Lernenden geschaffen werden. Dieses Konzept sei im damaligen sozialen und politischen Kontext an politische Verteilungsgerechtigkeit, Solidarität und Umverteilungspolitik gekoppelt gewesen.
In den 1990er Jahren rückten Kategorien wie Wettbewerb und Leistung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Chancengleichheit, so Walgenbach, wich einer Vielzahl von Gerechtigkeits-Formen (Teilhabegerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit etc.). Mit dieser Neuordnung von Ökonomie, Staat und Bildung wurden auch Konzepte wie Diversität und Intersektionalität zunehmend wichtiger. Vielfalt wurde in der neuen, neoliberalen Gesellschaftsordnung nun vor allem im Sinne einer Ressource (z.B. als Training für interkulturelle Kompetenzen) oder unter dem Aspekt der Verwertbarkeit (z.B. Ehe für alle als Entlastung für den Staat) interpretiert. Die Analyse von Vielfalt im Bildungskontext müsse daher stets mit einer Analyse von individuums-, ressourcen- und wettbewerbsorientierter Pädagogik zusammengedacht werden.
Intersektionalität
Intersektionalität beschreibt – kurz gefasst – die Überschneidung mehrerer Differenzen und Diskriminierungsformen, etwa Rassismus und Sexismus. Die verschiedenen Kategorien werden dabei nicht einzeln betrachtet, sondern ergeben zusammen eine eigene Diskriminierungserfahrung. Intersektionalitätsforschung untersucht diese verschiedenen Phänomene auf Ähnlichkeiten und Berührungspunkte. Weiterführende Informationen finden Sie
2. Mobilität: Millennials als "super-diverse" Kategorie im Hochschulkontext
Professorin Dr. Cristina Allemann-Ghionda (Universität zu Köln): "Diversität und Intersektionalität in der Bildungsforschung"
Cristina Allemann-Ghionda stellte in Hildesheim zwei Kategorien vor, die für die Debatte um Diversität und Intersektionalität von wachsender Bedeutung seien: Migration und Millennials. Sie bezog sich dabei auf den britischen Soziologen Steven Vertovec, der in diesem Kontext auch von "Super-Diversität" spricht. In Bezug auf Migration mag sich das auf den ersten Blick erklären, bei den Millenials, also der Generation der zwischen 1980 und 2000 Geborenen, ist es jedoch weniger offensichtlich: Diese Generation sei laut Allemann-Ghionda besonders divers – etwa was die Herkunftsländer von Studierenden betrifft. Hinzu käme, dass eine Vielzahl an Hochschulprogrammen wie Erasmus und Co. diesen Effekt weiter verstärkten und die Einbettung der sogenannten Digital Natives in interkulturelle Netze festigten. Aus diesem Grund sei für Allemann-Ghionda die Einbeziehung internationaler Perspektiven in die Bildungsforschung essenziell.
3. Geschlecht: Das Problem des feminisierten Grundschullehrberufes
Jennifer Seifert (Leibnitz Universität Hannover): "Gendered Beliefs"
Der Männeranteil im Grundschullehramt ist bereits gering und sinkt immer weiter: Laut Jennifer Seifert liegt er aktuell bei rund neun Prozent. Seifert zufolge werde daher häufig das Problem der "Verweiblichung" des Lehrberufes thematisiert. Diese wirke sich, so die Argumentation aus traditionell männlicher beziehungsweise klassisch zweigeschlechtlicher Perspektive, ungünstig auf Jungen aus: (Alleinerziehende) Mutter, Kindergärtnerin, Grundschullehrerin – es fehle den Jungen in den frühen Jahren an männlichen Vorbildern. Seifert kommt demgegenüber zu der These, dass das Grundschullehramt als Care-Arbeit "stigmatisiert" sei und damit außerhalb der klassischen Männlichkeitsgrenze läge. Sie plädiert für eine Dekonstruktion von Männlichkeitsbildern. Hier ergibt sich eine Schwierigkeit: In Bezug auf Geschlecht identifiziert sie ein, wie sie es nennt, "Neutralitäts-Dispositiv", das die Lehrenden umgebe. Man könne beobachten wie Lehrende in ihrer professionellen Rolle die eigene Geschlechtlichkeit hinter sich ließen, also etwa das "Eine-Frau-sein" zugunsten ihrer Rolle als Bildnerin zurückstellten. Aus dieser Neutralität heraus sei es jedoch umso schwieriger, das Thema Geschlecht mit Schülerinnen und Schülern zu thematisieren.
Zum Weiterlesen auf bpb.de: Ina Kerner:
Hintergrundinformationen zur Veranstaltung
Die Fachtagung "Intersektional forschen, Diversität (er)fassen – Spannungsfelder der Bildungsforschung" fand am 10. November 2017 als gemeinsame Veranstaltung der Stiftung Universität Hildesheim und der Leibnitz Universität Hannover statt. Ausgehend von zwei Keynotes wurden in anschließenden Panelvorträgen und Diskussionen unterschiedliche Forschungsfelder näher betrachtet (Der schulische Raum; Eltern; Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt; Übergänge; Jugend und Erwachsenenbildung). Das vollstände Programm finden Sie Externer Link: hier.