Hinweis: Bei dem Beitrag handelt es sich um einen Vortrag, den die Autorin ursprünglich bei der Tagung Externer Link: "#digidemos. Kongress zu Digitalisierung und Demokratie" der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin am 20. Juni 2017 gehalten hat. Der Input erfolgte im Panel "Digitale Partizipation – Rettung der Demokratie? Veränderungen politischer Teilhabe und Zivilgesellschaft im Netz". Bei diesem Text handelt es sich um eine redaktionell gekürzte und bearbeitete Fassung des Vortrags.
Im Jahr 1993 beschrieb der Politologe Robert Putnam in seinem Band Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy zivilgesellschaftliches Engagement, Vereinsleben, Sozialkapital und -vertrauen als entscheidende Voraussetzungen für soziale und liberale Demokratien. Gleichzeitig – und das war vor der Verbereitung des Internets – benannte er die Medien als Bedrohung für diesen Gemeinsinn und meinte damit den Einfluss kommerzieller Fernsehsender. Dieser Annahme folgend stellt sich angesichts des Medienumbruchs hin zu digitalen Medien heute die Frage, inwiefern eine digitale Zivilgesellschaft und zivilgesellschaftliches Engagement im Netz ebenso demokratiefördernde politische Kulturen schafft wie zivilgesellschaftliches Engagement in der analogen Welt.
Soziale Netzwerke und politische Beteiligung
Bei aller Unterschiedlichkeit digitaler Plattformen und Engagementpraktiken, scheinen sich folgende Veränderungen zivilgesellschaftlicher Kulturen abzuzeichnen: Misst man Sozialkapital ganz allgemein an der Anzahl von Freunden und Bekannten jedes Einzelnen, so kann man zunächst einmal feststellen, dass die Anzahl sozialer Beziehungen von Einzelpersonen durch die Sozialen Netzwerke gestiegen ist. Diese Vernetztheit, die Anzahl von Followern und Facebook-Freunden, ist die neue Währung, in der die Popularität des Einzelnen gemessen wird. Gleichzeitig ist sie Grundlage für eine virale Medienlogik, nach der Informationen blitzschnell in diesen Netzwerken Verbreitung finden.
Bei aller Kritik an den schwachen sozialen Bindungen unter sogenannten Freunden im Netz, sollte man nicht vergessen, dass durch die Sozialen Medien auch Hilfsappelle und Solidaritätsaufrufe schnell verbereitet werden. Gerade in der Katastrophen- und Flüchtlingshilfe der letzten Jahre zeigte sich, dass sich etwa auf Facebook Wellen von Hilfsbereitschaft entfalten konnten, in denen jenseits klassischer Vereinsstrukturen schnell, unbürokratisch und selbsttätig Hilfe mobilisiert wurde.
Die Stärke der Sozialen Medien zeigt sich bezogen auf zivilgesellschaftliches Engagement auch in neuen Finanzierungsmodellen. So kann Crowdfunding Finanzierungen für Projekte wie etwa Erfindungen im Umweltbereich ermöglichen, etwa wenn eine Kreditaufnahme von Banken verweigert oder erst gar nicht gewünscht wird. Crowdfunding hilft den Betroffenen auch insofern, als schon im Vorfeld der Projektrealisierung geprüft werden kann, ob ein soziales oder ökologisches Projekt wirtschaftlich trägt oder nicht.
Mobilisierung, information overflow und Zeitmangel
Verändert hat sich insbesondere die Mobilisierung zu kollektiven Protestaktionen: Politische Protestpartizipation ist wie politische Partizipation im Allgemeinen abhängig von drei Faktoren: 1. Von den Ressourcen, die für die Beteiligung nötig sind, 2. von der Motivation, sich zu beteiligen, und 3. von der Mobilisierung zur Beteiligung. Unter Ressourcen (1.) sind dabei nicht nur materielle Kosten zu verstehen – etwa im Sinne von Geld, das man etwa braucht, um an einer Veranstaltung an entfernten Orten teilzunehmen –, sondern auch Bildungs- und Zeitressourcen, die die Grundlage für zivilgesellschaftliches Engagement darstellen. Diese Ressourcen sind durch die Digitalisierung deutlich gesunken: Das gilt für die vereinfachte Informationsbeschaffung, wie auch für die Zeit, die man aufwenden muss, um an einer Aktion, etwa einer Protestkampagne gegen TTIP im Netz, teilzunehmen.
Aber auch die Mobilisierung (3.) im Sinne der individuellen Ansprache, wirklich mitzumachen, hat sich verändert. Menschen nehmen bekanntlich nicht an Demonstrationen oder anderen Aktivitäten teil, wenn niemand sie persönlich anspricht und auffordert, teilzunehmen – selbst wenn sie ein Interesse am Thema haben und das Anliegen des Protests unterstützen. Zudem steigt die Motivation (2.), wenn man weiß, wer und wie viele sonst noch hingehen. Die sozialen Netzwerke ermöglichen Organisatoren von Protestaktionen heute eine direktere Ansprache von potentiellen Unterstützerinnen und Unterstützern sowie eine kontinuierliche Einbeziehung in die Protestvorbereitung wie auch Protestdokumentation und -nachbereitung. Die erleichterte personalisierte Ansprache birgt jedoch auch die Gefahr einer Überflutung der Nutzerinnen und Nutzer mit Hilfsanfragen und Unterstützungsaufrufen. Neben dem oft diskutierten information overflow gibt es gerade für zivilgesellschaftlich Aktive neue Selektionsprobleme, um bei der Vielzahl von Angeboten reflektierte und individuelle Präferenzen bilden zu können.
Die Sozialen Netzwerke im Internet sind nicht mehr an räumliche Nähe gebunden und erlauben eine Echtzeitkommunikation, die die zeitliche Dynamik zivilgesellschaftlichen Engagements extrem beschleunigt hat. Dies lässt sich auch in der Konfliktdynamik, etwa in zivilgesellschaftlichen Protesten, erkennen. Eine Kehrseite dieser enormen Beschleunigung ist der damit verbundene Zeitmangel für den intensiven Austausch von Argumenten. Und Demokratie braucht bekanntlich Zeit. Dies gilt auch für die konsulatative Abstimmung im Rahmen von sozialen Engagementprojekten und politischen Protesten.
Fördert soziale Vernetztheit Misstrauen?
Fraglich ist, ob die eingangs geschilderte Annahme von Putnam zum Zusammenhang von Sozialkapital und Gemeinsinn auf die Folgen der sozialen Vernetztheit in den Sozialen Medien überhaupt übertragbar ist. Technische Vernetzung, etwa die Verlinkung von Webseiten untereinander, sagt an sich noch nichts über die sozialen Beziehungen unter den Akteuren aus, die sich verlinken. Man könnte sogar umgekehrt soweit gehen und behaupten, dass die soziale Vernetzung im Internet eher Misstrauen als Vertrauen fördert. Dies muss, bezogen auf die Folgen für die Demokratie, nicht unbedingt problematisch sein. Misstrauen kann durchaus die Demokratie stärken, etwa wenn Bürgerinnen und Bürger die Sozialen Medien nutzen, um direkt demokratische Kontrolle auszuüben. Vor der Digitalisierung wurde die Aufgabe des kritischen Watchdogs (Wachhund) neben der parlamentarischen Opposition vor allem den Massenmedien zugeschrieben. Heute sind die Bürgerinnen und Bürger selbst zum Watchdog geworden.
Einerseits nimmt mit der Digitalisierung die Gefahr staatlicher Überwachung und Datenausbeutung durch Unternehmen stark zu, andererseits steigen die Chancen der Bürgerinnen und Bürger, staatliche Akteure gewissermaßen zu "unterwachen". Dass aus digitalen Unterwachungsaktionen durchaus schlagkräftige und dauerhaft agierende soziale Bewegungen entstehen können, zeigt das Beispiel #BlackLivesMatter, eine Bewegung, die aus der Dokumentation illegitimer Übergriffe von Polizisten gegenüber Schwarzen in den USA hervorgegangen ist. Misstrauen und Kontrolle gegenüber staatlichen Akteuren sind also nicht prinzipiell demokratieschädlich. Positiv betrachtet, führen sie zu mehr Transparenz staatlichen Handelns, wie etwa die Offenlegung kommunaler Haushaltsdaten im Netz belegt. Doch besteht zugleich die Gefahr, dass das Vertrauen in Parteien und Parlamente so stark sinkt, dass eine kritische Schwelle des Systemvertrauens unterschritten wird. Dabei steigt das Risiko der Denunziation und der üblen Nachrede im Netz. Viele Abgeordnete versuchen diesem Vertrauensverlust durch eine verstärkte Nutzung von Social Media entgegenzuwirken. Inwiefern die direkte Kommunikation zwischen Abgeordeneten und Bürgerinnen und Bürgern über Facebook und Twitter die Rückkopllung zwischen beiden nachhaltig verbessern wird, ist jedoch noch unklar und vermutlich wesentlich von der Authentizität dieser Kommunikation abhängig.
Fragen an Partizipation im digitalen Zeitalter
Die Rolle von Vereinen für zivilgesellschaftliches Engagement, wie sie Putnam 1993 formulierte, muss im Lichte der Digitalisierung in vieler Hinsicht neu betrachtet werden:
1. Organisationen sind für die Mobilisierung kollektiven Handelns weniger wichtig geworden. Wie aber sollen durch Clowd- oder Hashtag-Proteste Sozialvertrauen und Gemeinsinn, Gefühle der Zugehörigkeit und damit verbunden Normen und Praktiken der Gegenseitigkeit entstehen?
2. Mangelnde Verbindlichkeit im Internet wird durch eine neue Kultur der Sichtbarkeit beziehungsweise des Sich-Sichtbarmachens kompensiert. Ein Trend zum me going public, zur visuellen Dokumentation persönlicher Bekenntnisse, zeigt sich nicht nur in der öffentlichen Kommunikation kritischer konsumbezogener Lebensstilpraktiken, sondern auch bei der viralen Verbreitung von Solidaritätsappellen.
3. Zivilgesellschaftliches Engagement ist pragmatischer geworden, weniger ideologisiert und zielt häufig auf die selbstwirksame, emotionale Bestätigung des Einzelnen ab. Dies zeigt sich einerseits in einer Tendenz zu alltagsbezogenen Engagementpraktiken, etwa innovativer konsumbezogener Projekte des Tauschens und Teilens, Mietens und Verleihens, des Recycelns, Reparierens und der Abfallvermeidung.
4. Der entscheidende Vorteil der Netzkommunikation besteht darin, dass die vielen, oft wenig aufwendigen Einzelbeiträge durch virale Verbereitung schnell und flexibel zu höchst wirkungsvollen Protestaktionen gebündelt werden können. Diese Bündelung erfolgt zunehmend über spezielle Aggregatoren zivilgesellschaftlichen Protests. Petitions- und Kampagnenplattformen sind zu wichtigen, professionell arbeitenden Anbietern von Protestaufrufen geworden.
Im Social Web agieren Bürgerinnen und Bürger in der Regel aus einer privaten Handlungs- wie Reflexionssphäre heraus. Sie handeln weitgehend unorganisiert und ohne kollektive Identitäten auszubilden. Kampagnenplattformen und Online-Communities ermöglichen es ihnen, mit geringem Aufwand Position zu beziehen. Auch wenn die Beteiligung an elektronischen Petitionen oft als
Zivilgesellschaftliches Engagement im Netz – neue Formen der Personalisierung und Mobilisierung
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Schnelle Hilfe in Krisenfällen aber wenig tatsächliche Auseinandersetzung mit politischen Themen: Wie verändern Soziale Medien politische Beteiligung? Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Sigrid Baringhorst.
Prof. Dr. Sigrid Baringhorst ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Siegen. Sie promovierte an der WWU Münster, absolvierte ihre Habilitation an der JLU Gießen und arbeitet zu den Forschungsschwerpunkten Neue Formen der politischen Partizipation, Politik im Netz sowie Vergleichende Migrations- und Integrationsforschung.
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