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"Schubs mich nicht!" – Nudging als politisches Gestaltungsmittel

Stefan Piasecki

/ 8 Minuten zu lesen

Nudging ist die absichtsvolle Führung von Individuen durch das gezielte Auslösen unbewusster Verhaltensänderungen. Welche Bedeutung das für eine selbstbestimmte digitale Zivilgesellschaft hat, erklärt Stefan Piasecki im Gastbeitrag.

Die Piano-Treppe am Odenplan in Stockholm ist ein bekanntes Beispiel für den Effekt von Social Nudging. Indem beim Betreten Töne erzeugt werden, ziehen viel mehr Menschen die Treppe der Rolltreppe vor. ( KJ Vogelius / bearbeitet / Externer Link: flickr / Lizenz Externer Link: CC BY-NC-SA 2.0 )

Kurz & knapp:

  • "Nudging" ist die absichtsvolle Führung von Individuen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung ihrer Wahlfreiheit – das Prinzip arbeitet mit motivierender Steuerung statt mit Zwang oder Verboten.


  • Politische Akteurinnen und Akteure machen sich Nudges zunutze, da diese, verglichen mit Gesetzen oder Verordnungen, weniger Konflikte erzeugen.


  • Gefahren für eine selbstbestimmte digitale Zivilgesellschaft entstehen, weil politische Entscheidungsträgerinnen und -träger ihre Agenden mit Hilfe von Nudging unterschwellig durchsetzen und als selbsternannte und häufig unerkannte „Auswahlarchitektinnen“ und „-architekten“ politischer Entscheidungen fungieren.

Stefan Piasecki ( Foto: CVJM-Gesamtverband in Deutschland e. V. / bearbeitet )

Als Landwirtschafts- und Ernährungsminister Christian Schmidt im November 2014 seine Pläne für eine Politik gegen Übergewicht und Fettleibigkeit vorstellte, überhörte die Öffentlichkeit ein wichtiges Detail: Schmidt sagte, dass er Nahrungsmittelhersteller wie Vertriebe mittels "Nudging" dazu bewegen wolle, die Verpackungen ungesunder Lebensmittel weniger attraktiv zu gestalten und Waren im Handel unvorteilhafter zu positionieren (Ehrenstein & Gaugele, 2014). Konsumentinnen und Konsumenten sowie Produzenten sollten mit Erkenntnissen aus der Verhaltensforschung in ihrem Verhalten so beeinflusst werden, dass klassische direktive Reglementierungen nicht notwendig würden. Bereits im August 2014 hatte Kanzlerin Merkel drei Spezialisten aus den Bereichen Verhaltensökonomie, Psychologie und Anthropologie für ihren Beraterstab suchen lassen (Plickert & Beck, 2015). Eine breite öffentliche Debatte blieb aus.

Ob Veggie-Day, Dieselfahr- oder Rauchverbote – an eindeutig artikulierte politische Vorstöße haben die Menschen sich gewöhnt. Befürworterinnen, Gegner und einschlägige Lobbygruppen reagieren jeweils routiniert auf Stichwörter aus dem politischen Raum, um ihre Kontakte in den Medien mit den jeweiligen Positionen zu füttern und die öffentliche Auseinandersetzung zu führen. Viel weniger Widerstand ist jedoch zu erwarten, wenn mit vorbereiteten Angebotsstrukturen Entscheidungen und Handlungen der Bürgerinnen und Bürger so "angestoßen" werden, dass weder sie noch der politische Gegner das merken und schlichtweg tun, was man von ihnen verlangt.

Social Nudging

Was genau ist nun ein "Nudge"? Nudges sind "Anstupser" oder Denkhilfen. Ein guter politischer Nudge ist – kurz gefasst – ein Programm zur Verhaltensänderung im alltäglichen Bereich: zur Abfallvermeidung, Verringerung der Energieverschwendung, zur gesünderen Ernährung etc. Dies wird erreicht, indem gut verständliche Informationen und Anreize mit "motivierender Hilfe" verbunden werden, sanfter Druck nicht ausgenommen. Werden in Kantinen Obst und Gemüse frei ausgelegt, während Süßigkeiten aus einem Schrank genommen werden müssen, lässt sich bereits von einer Verhaltenssteuerung sprechen. Der in Eile befindliche Mensch scheut im Zweifel den Mehraufwand und greift zu dem, was leicht verfügbar ist.

Versuche, den Willen von Menschen unterhalb der Wahrnehmungsebene zu manipulieren, sind nicht neu. Für Marketing (Packard 1957) und Verhaltensforschung (Kahneman und Tversky 1974) sowie Verkaufsförderung (Cialdini 1984) wurde Möglichkeiten der Verhaltensmodulation untersucht, auf die Thaler und Sunstein später aufbauen konnten. Neu ist allerdings, dass Nudging zum politischen Gestaltungsprinzip wird.

"Nudging" bedeutet also die absichtsvolle Führung von Individuen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung ihrer Wahlfreiheit. Nudging arbeitet mit motivierender Steuerung und nicht mit Zwang oder Verboten. Dies lässt sich erreichen durch das Ausnutzen des menschlichen Bedürfnisses nach Zugehörigkeit, bspw. durch das aktive Einbeziehen individueller Beziehungen zum sozialen Umfeld (peer support bzw. peer pressure). Kernelemente des Nudgings sind der informative Vergleich, eine gute Begründung für das erwartete Handeln sowie Anreize, Zukunftsaussichten und auch ein gewisser Konformitätsdruck gegenüber anderen.

Gute "Nudges" versuchen daher häufig, Kollektive von Individuen (also bspw. Nachbarschaften, Belegschaften) gemeinsam anzusprechen, um überzeugende Ergebnisse zu erzielen und appellieren etwa in Präventionskontexten an das Sozialverhalten. Eine Vielzahl von motivationalen Faktoren muss bei der Gestaltung von Nudges berücksichtigt werden, die sich nach den zu erreichenden Zielen richten und daher kaum allgemeingültig formuliert werden können.

Einschränkung oder Erweiterung von Wahlfreiheit und Selbstbestimmung?


Während die traditionelle Theorie der "rational choices", wie etwa nach Robert Axelrod (1987) oder James Coleman (1986), kritisiert von Amartya Sen (1977, S. 323 ff.), davon ausgeht, dass jedes Individuum entsprechend des eigenen Willens und der eigenen Ziele und Einschätzungen zukünftiger Entwicklungen handelt, haben verhaltenspsychologische Studien ergeben, dass die Vielfalt externer Einflüsse deutlich größer ist: soziale Normen, Traditionen und Regeln ebenso wie die Facetten der eigenen Persönlichkeit, die eigenen Hoffnungen und Ängste – all diese formen den Hintergrund täglicher Entscheidungen von Menschen – ganz zu schweigen vom Gewicht der Sphäre öffentlicher Meinung inkl. Politik, Bildung und Medien (hierzu: Steiger & Lippmann, 2013, S. 146 ff.). Da das menschliche Verhalten nicht rational ist, werden auch vernünftige oder gebotene (und verbotene) Optionen nicht rein rational bewertet, sondern stehen im Konflikt mit Vorurteilen, Angewohnheiten, Bequemlichkeit usw. (Baron 2008).

Welche Bedeutung hat Nudging im politischen Bereich?


Der Begriff selbst geht auf das Buch "Nudge" (2008) von Richard Thaler und Cass Sunstein zurück. Richard Thaler wurde für seine verhaltensökonomische Arbeit jüngst mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet. Sunstein und er machten Erkenntnisse aus den Verhaltenswissenschaften für politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger nutzbar mit dem Hinweis, dass, verglichen mit Gesetzen oder Verordnungen, "Nudges" billiger seien, bedeutend weniger Konflikte erzeugten als zum Beispiel Verbote, sie Menschen sowohl eine Wahl ließen (auch wenn Süßigkeiten weniger günstig positioniert werden, kann man sie immer noch erwerben) wie sie auch an moderne Kommunikation anschlussfähig wären, indem Soziale Netzwerke und E-Mails für eine direkte Verbindung zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Verwaltungen genutzt werden könnten. Mit heuristischen Verfahren der Entscheidungsfindung, also dem Treffen von Entscheidungen ohne genaue Sachkenntnis und vornehmlich emotional auf Basis von Vorerfahrungen und Vorurteilen, hatte Thaler sich schon in den frühen 1980er Jahren befasst und dabei auch mit Kahneman gearbeitet. Mit Sunstein beriet er später die amerikanische und britische Regierung, die unter Premierminister Cameron im Jahr 2010 auf Regierungsebene eine Verhaltensanalyseeinheit unter Leitung von David Halpern einrichtete (Behavioral Insights Team, siehe: Jones / Pykett / Whitehead, 2013, S. 33 ff.). Mit dem Eindringen in die politische Sphäre ergaben sich nun allerdings sowohl neue Möglichkeiten wie auch Gefahren (zu den bürgerrechtlichen Implikationen auch ausführlicher: Piasecki 2017a).

Ein Nudging-Ansatz würde nicht mit dem Zwang zu einem vegetarischen Gericht arbeiten, sondern eher mit Hilfe einer besseren Präsentation oder einer optimierten Angebotsauswahl, bei der vegetarische Menüs durchaus den Hauptteil des Angebots ausmachen dürften. Auch Fahrverbote sind nicht im Sinne erfolgreichen Nudgings, sondern flexible Fahrpreise je nach Tages- bzw. Stoßzeit oder flexible Haltestellen und kürzere Taktraten, die das Leben der Bürgerinnen und Bürger erleichtern und sie gleichzeitig in ihrer Individualität ernst nehmen. Auch gamifizierende Elemente, die das Verhalten unterhaltsam steuern, können erwogen werden (Piasecki 2017b). Trotzdem stellt bereits die Planung von Handlungsoptionen eine Manipulation des Willens von Menschen dar, die sich dessen nicht bewusst sind und bringt sie damit möglicherweise in Dilemmata, die für sie nicht absehbar sind. Vor einigen Jahren wurde öffentlich die Frage diskutiert, wie die Zahl von Spenderinnen und Spendern für lebensnotwendige Organtransplantationen erhöht werden könnte. Einer der Vorschläge beabsichtigte, die Empfängerinnen und Empfänger neuer Führerscheine bei der Gegenzeichnung der Übergabe per Vorauswahl als mögliche Organspenderinnen und -spender zu registrieren ("Perso als Organspendeausweis. Alles auf eine Karte?", 2011). Dieser Vorauswahl hätten die Fahranfängerinnen und -anfänger zwar aktiv durch Streichung widersprechen können, aber es bestand offensichtlich die Annahme, dass Menschen im Augenblick der Vorfreude auf den Führerschein diese Vorauswahl akzeptieren würden, ohne die damit verbundenen persönlichen, kulturellen und religiösen Fragen für sich und ihre Familien ausreichend zu berücksichtigen (zu diesem Thema: Abouna 2003).

Gefahren für eine selbstbestimmte digitale Zivilgesellschaft


Die Implementation von Nudges gerade mit Hilfe digitaler Werkzeuge ist auch aus bürgerrechtlicher Sicht nicht unproblematisch. Soziale Netzwerke, Polls, Votings jederzeit und überall fragen nicht nur Positionen und Meinungen ab, sie gestalten, schärfen und steuern sie auch. Politische Akteurinnen und Akteure entziehen sich durch Nudging teils harten Auseinandersetzungen mit Lobbygruppen und inhaltlichen Gegnerinnen und Gegnern und setzen ihre Agenda eher unterschwellig durch. Die Initiatorinnen und Initiatoren einer Verhaltensänderung bleiben dadurch häufig unerkannt und es wäre selbstverständlich die Frage zu stellen, was sie zur Definition des "besseren Verhaltens" berechtigt oder qualifiziert. Ergebnisse von Nudging sind andererseits jedoch getragen von schnellerer Gewöhnung an neue Umstände, Akzeptanz und freiwilliger Mitwirkung der Betroffenen und dadurch tendenziell beständiger, als sie dies durch Verbote oder Einschränkungen selbst je sein könnten. Da Nudges im sozialen Kontext mit Vergleichen und Motivatoren arbeiten, werden die initiierten Prozesse schnell zum Teil des persönlichen Strebens nach Selbstverwirklichung (siehe das Gewicht von sozialer Anerkennung und Respekt: Maslow, 1978, S. 89). Also ist doch alles in Ordnung?

Politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger fungieren mittels "Nudging" als "Auswahlarchitekten", wie Alemanno und Spina darlegen (Alemanno / Spina 2014, S. 438). Als solche präparieren sie sowohl Kontexte, Prozesse wie auch Inhalte und das gesamte öffentliche Umfeld der Entscheidungsstruktur. Moderne IT-Technologie, Augmented Reality, ein überall verfügbares (und jederzeit online hinter den Kulissen veränderbares) Informationsangebot rahmt die Wahrnehmung von Welt und Individuum und begründet die Reaktionen darauf. Die Konvergenz von medial vermittelten Konsum-, Partizipations-, Politik- und Selbstverwirklichungsangeboten bindet das Individuum in ein enges Korsett von Erwartungen und Handlungsoptionen bei gleichzeitiger Behauptung des Gegenteils.

Gesellschaftlich muss die Frage beantwortet werden, inwiefern "Entscheidungs- oder Auswahlarchitekten" das letztlich verdeckte, aber in das soziale Leben von Menschen eingreifende Handeln gestattet werden soll. Die Erwartungen zu formulieren und den Prozess zu überwachen wird die Aufgabe einer neuen Generation von Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern sein.

Literatur

Abouna, G. M. (2003). Ethical Issues in Organ Transplantation. Medical Principles and Practise, 12, 54-69.

Alemanno, A. / Spina, A. (2014). Nudging legally: On the checks and balances of behavioural regulation. International Journal of Constitutional Law, Vol. 12, Issue 2, 429-456.

Axelrod, R. (1987). Die Evolution der Kooperation. The evolution of cooperation. München: Oldenbourg

Baron, J. (2008). Thinking and Deciding. 4th. Ed., Cambridge: Cambridge University Press

Cialdini, R. B. (1984). Influence: How and Why People Agree to Things. The new Psychology of modern Persuasion. New York: Quill

Coleman, J. S. (1986). Social theory, social research, and a theory of action. American Journal of Sociology, 91, 1309–1339.

Ehrenstein, C., Gaugele, J. (2014, November, 17). Das „Nudging“ soll die Deutschen umerziehen. Retrieved August, 21, 2015, from http://www.welt.de/politik/deutschland/article134388508/Das-Nudging-soll-die-Deutschen-umerziehen.html

Jones, R., Pykett, J., Whitehead, M. (2013). Changing Behaviours. On the Rise of the Psychological State. Cheltenham: Edward Elgar

Kahneman, D., Tversky, A. (1974). Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases. Science, New Series, Vol. 185, No. 4157. (Sep. 27, 1974), 1124-1131

Kahneman, D. (Ed.) (1985). Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases. Cambridge: Cambridge University Press

Maslow, A. (1978). Motivation und Persönlichkeit. Olten: Walter

Packard, V. (2007). The hidden Persuaders. Brooklyn / NY: Ig Publishing

Perso als Organspendeausweis. Alles auf eine Karte?. (2011, February, 11). Autobild.de. Retrieved August,15, 2015 from http://www.autobild.de/artikel/perso-als-organspendeausweis-1554330.html

Piasecki, S. (2017a): ‘Nudging: „Soft” mind-bending through politics and media – an issue for civil rights activists?’, International Journal of Media & CulturalPolitics, 13: 1+2, pp. 149–164, doi: 10.1386/macp.13.1-2.149_1

Piasecki, S. (2017b): Education, „Pointsification", Empowerment? A critical view on the use of gamification in educational contexts. In: Ebner, Martin / Sad, Nihad (Ed.): Handbook of Research on Digital Tools for Seamless Learning, Hershey / PA: IGI Global, S. 93-119

Plickert, B., Beck, H. (2014, August, 28). Kanzlerin sucht Verhaltensforscher. Retrieved August, 21, 2015, from http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/kanzlerin-angela-merkel-sucht-verhaltensforscher-13118345.html

Schnabel, U. (2015). Was kostet ein Lächeln? Von der Macht der Emotionen in unserer Gesellschaft, München: Karl Blessing Verlag

Sen, A. (1977). Rational Fools. A Critique of the Behavioural Foundations of Economic Theory. Philosophy & Public Affairs, Vol. 6, No. 4 (Summer, 1977), 317-344

Steiger, T., Lippmann, E. (2013). Handbuch angewandte Psychologie für Führungskräfte. Führungskompetenz und Führungswissen. Berlin / Heidelberg: Springer

Thaler, R. H. / Sunstein, C. R. (2008). Nudge. Improving decisions about health, wealth, and happiness. New Haven / CT: Yale University Press

Prof. Dr. rer. pol. habil. Stefan Piasecki lehrt Soziologie und Politikwissenschaften an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung des Landes NRW. Er promovierte in Politikwissenschaften an der Universität Duisburg (2008) und habilitierte an der Universität Kassel in Religionspädagogik mit einer explorativen Studie zur Religion in Computer- und Videospielen (2015). Seine Forschungsschwerpunkte richten sich auf die Rolle von Medien im Hinblick auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse, (Inter-)Kulturen des Religiösen und Populären sowie Formen religiösen und politischen Extremismus'. Er ist Jugendmedienschutzprüfer bei der FSK in Wiesbaden und Lehrbeauftragter an der Universität Duisburg-Essen, Lehrstuhl Praktische Theologie/Religionspädagogik.