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Ideen zur Rolle von künstlicher Intelligenz im Klassenzimmer der Zukunft

Tom Mittelbach

/ 8 Minuten zu lesen

Wenn Roboter bei medizinischen Operationen eingesetzt werden, warum sollten sie nicht auch im Bildungsbereich tätig sein? Lehrer Tom Mittelbach wagt in seinem Community-Beitrag ein Gedankenspiel über Bildung an der Schnittstelle von Mensch und Maschine.

Künstliche Intelligenz wird zunehmend Teil der Klassenzimmer der Zukunft werden (meddygarnet / bearbeitet / Externer Link: flickr / Externer Link: CC BY 2.0 )

Rechenleistung von Computern hat sich seit ihrer Erfindung lange Zeit exponentiell weiterentwickelt. Diesem rasanten Fortschritt soll eines Tages die sogenannte technologische Singularität folgen, der Zeitpunkt also, an dem künstliche Intelligenzen (KI, im Englischen AI/Artificial Intelligence) in der Lage sein werden, autonom noch intelligentere Maschinen zu erschaffen. Über diese Theorie wird selbstverständlich diskutiert, sie ist beinahe eine Glaubensfrage. So führen Kritikerinnen und Kritiker die mangelnde Wissenschaftlichkeit dieser Theorie an, während andere sie schlicht für eine Verschwörungstheorie der sogenannten Transhumanisten halten (die Transhumanisten glauben daran, dass die nächste Evolutionsstufe die Verschmelzung von Mensch und Maschine ist). Die Vertreterinnen und Vertreter der Theorie argumentieren wiederum mit den sich rasant entwickelnden technologischen Möglichkeiten, die nicht von der Hand zu weisen sind.

Bei der Krebsfrüherkennung kann eine künstliche Intelligenz weit besser als jeder Arzt junge Krebszellen erkennen, sie entziffert Verkehrszeichen für (selbstfahrende) Autos oder handelt für Banken und Anleger an der Börse. Das selbstständige Lernen von Maschinen erobert heute schon das Smartphone: So nutzen in Deutschland bereits Millionen Menschen Googles Assistenten Now und Assistant, Apples Siri oder Microsoft Cortanas.

Der Autor Nick Bostrom konstatiert dazu in seinem Band Superintelligenz: "Es gibt Roboter-Haustiere, Reinigungsroboter, Rasenmähroboter, Rettungsroboter, OP-Roboter und über einen Million Industrieroboter. Insgesamt "leben" weltweit etwa 10 Millionen Roboter auf diesem Planeten."

Das Klassenzimmer der Gegenwart

Kinder erschließen sich schon heute mit Augmented-Reality-Bilderbüchern zusätzliche Inhalte und benötigen hierfür nur ein Smartphone und das passende Programm. Augmented Reality fügt dem realen Bild eine hypertextuelle Ebene hinzu und ist damit – nach dem Einsatz von Apps, Tablet-Klassen, Wikis und YouTube-Tutorials – der nächste Trend im Bereich digitale Bildung.

Ein Teil der Lehrenden hält es mit den digitalen Medien dagegen vielfach noch wie mit neuen Lehrplänen: Sie sitzen das Thema aus. Die Lernenden haben als Digital Natives viele Lehrende in puncto Medienkompetenz bereits überholt. Die KIM-Studie von 2016 führt an, dass 98 Prozent aller Haushalte mit Kindern im Alter von 6 bis13 Jahren über ein Smartphone verfügen. Dagegen nutzen im Jahr 2015 nur 68% aller 45- bis 54-Jährigen Smartphones, bei den 35- bis 44-Jährigen sind es 79%. Im Klassenzimmer der Gegenwart arbeiten bislang nur wenige Lehrende mit Interner Link: BYOD (Bring Your Own Device)-Konzepten , bei denen die Lernenden ihre eigenen Endgeräte im schulischen Kontext nutzen. An der Tagesordnung stehen in den meisten Schulen herkömmliche Computerräume, Laptops, Beamer und interaktive Whiteboards. Professor Dr. Christian Spannagel der Pädagogischen Hochschule Heidelberg hat recht, wenn er sagt "Wenn Schüler*innen Medienkompetenzen erwerben sollen, müssen Lehrer*innen diese bereits besitzen (...)."

Einen Eindruck davon, wie das Klassenzimmer der Zukunft aussehen könnten, kann man in Japan gewinnen. Dort wurden Roboter bereits im Unterricht eingesetzt, beispielsweise von der Universität Osaka in verschiedenen Grundschulen. In diesen Versuchen erhöhte sich durch den Einsatz eines Softbots (ein kissenartiger Roboter) laut Professor Hidenobu Sumioka die Aufmerksamkeit der Lernenden. Im "Kopf" des Softbots ist ein Kommunikationsprogramm verbaut, über das die Lehrenden im Japanisch-Unterricht Texte vorlesen. "Die Kinder erinnerten sich besser an die vorgelesenen Inhalte, wenn sie Hugvie im Arm hatten und während des Zuhörens mit ihm kuscheln konnten", so Professor Sumioka. Roboter sollen faszinieren, so auch ein kleiner Android, der eigenständig Vorträge hält. Dem Vortrag folgt noch keine Fragerunde oder Diskussion, das kann er (noch) nicht. Daher kann er auch nur bedingt als KI verstanden werden. Die Entwicklung schreitet aber auch hier voran: Im Jahr 2015 wurden von der Firma SoftBank die ersten eintausend humanoiden Roboter vom Typ Pepper an Unternehmen verkauft, die nun schon Gefühle erkennen und sogar darstellen können. Pepper gilt als sogenannter Volksroboter und ist als informativer und kommunikativer "Roboter-Gefährte" (companion robot) konzipiert. Humanoide Roboter sollen in Zukunft in der Pflege oder in Büros eingesetzt werden. Nadine etwa, der humanoide Roboter der Nanyang Technological University in Singapur, begrüßt die Besucher und merkt sich, wen er schon einmal getroffen hat und über was sie sich unterhalten haben.

Auch die von nahezu allen Schülerinnen und Schülern genutzten Smartphones sind schon heute mit künstlicher Intelligenz ausgestattet: etwa Gesichts- oder Spracherkennungsprogrammen. Solche KIs lernen vor allem durch Daten, die sie sammeln und auswerten. Durch den immer größer werdenden Datensatz wird die Leistung und Trefferquote stetig besser. Künstliche Intelligenz soll aber zukünftig mehr können als den selbstständigen Aufbau von Daten und deren Auswertung, sie soll intelligente Aufgaben (im Gegensatz zu reinen Rechenaufgaben) lösen können. Diese zeichnen sich laut Prof. Dr. Werner Dilger (Lehrstuhl künstliche Intelligenz TU Chemnitz, verstorben 2007) dadurch aus, dass es Problemlösungsaufgaben sind: "Die Besonderheit dieser Art von Aufgaben ist, dass zu Beginn eine Beschreibung eines (Anfangs-) Zustands und eine Aufgabenbeschreibung vorliegen sowie eine Menge möglicher Operationen (z.B. in Form von Regeln). Der Problemlöser hat nun die Aufgabe einen Zustand zu finden, der eine Lösung der Aufgabe darstellt." Künstliche neuronale Netze und maschinelles Lernen sind in der Lage aus Beispielen zu lernen und aus die Ergebnisse als Grundlage für zukünftige Entscheidungen zu verwenden ("Deep Learning").

Zukunftsmusik: KI im Klassenzimmer

Auf der Online Educa Berlin 2016, einer europäischen Konferenz für digitale Aus- und Weiterbildung, lautete die Eingangsthese: "Künstliche Intelligenz kann, sollte und wird Lehrer ersetzen." Was aber wird eine künstliche Intelligenz im Klassenzimmer der Zukunft tun? Was wäre, wenn jedem Lernenden, gesteuert durch Gesichtserkennung, beim Betreten des Klassenzimmers ein persönlicher Lernassistent zur Seite stünde? Wenn dieser Assistent dann auch noch sofort mit passgenauem Wissen zur Stelle wäre, aus dem Verhalten und den Biowerten des Lernenden dessen körperlichen und geistigen Gesamtzustand ermitteln und in Sekundenschnelle entsprechende Lernangebote generieren könnte.

Eine KI, die dazu in der Lage wäre, würde Bildung grundlegend verändern – und damit auch das System Schule. Die Schülerinnen und Schüler könnten die Kontrolle über ihre Bildung übernehmen. Das nahezu unbegrenzte Wissen der Welt stünde ihnen individuell zugeschnitten zur Verfügung. Die Auswahl des Lehrstoffs träfen sie selbst oder gemeinsam mit der KI auf der Grundlage persönlicher Daten, die die künstliche Intelligenz von den Lernenden erhebt. Die künstliche Intelligenz könnte aber auch die Selbstbestimmung der Schülerinnen und Schüler ad absurdum führen und die Informationsmöglichkeiten kontrollieren, somit beabsichtigt bestimmte Inhalte zur Verfügung stellen oder eben ausblenden. Denn bei einer Datenerhebung stellen sich immer auch Fragen nach der Kontrolle über sie: Was ist das erklärte Ziel der KI? Wer legt dieses fest? Wer speichert die Daten und wie lange? Wer hat Zugriff? Wer wertet sie nach welchen Kriterien aus und wofür werden die Daten zusätzlich genutzt?

Die Informationsweitergabe, das individuelle Zuschneiden von Bildungsplänen, Methoden und Erklärweisen, die passgenauen Schritte, die der Adressat benötigt, um erfolgreich zu lernen – all dies hängt von Big Data ab und birgt daher unweigerlich die Gefahr eines Datenmissbrauchs. Allerdings schaffen erst eine bestimmte Menge an persönlichen Daten sowie ihre intelligente Verknüpfung die Grundlage für die Erstellung neuer Lernumgebungen mit individuellen Aufgabenstellungen, innerhalb derer eine künstliche Intelligenz autonom auf die Wünsche und Lerninteressen der Lernenden reagieren kann. Hier eine Balance zwischen Datensicherheit und Individualisierbarkeit herzustellen, wird eine zentrale Herausforderung beim Einsatz von KI im Klassenzimmer sein.

Ähnliche Fragen lassen sich mit Blick auf die Lehrinhalte stellen: Wer bestimmt den Lehrplan der Zukunft? Welche Kompetenzen sollen die Lernenden erwerben und wer definiert, was relevante Lerninhalte sind? Kann die künstliche Intelligenz autonom auf die Wünsche und Lerninteressen der Lernenden reagieren oder wird ein Filter eingebaut? Und wie viel Autonomie gestehen wir den Schülerinnen und Schülern der Zukunft bei der Auswahl ihrer Lerninhalte zu? Die Perspektive für jeden einzelnen jungen Menschen, jenseits von Eltern und Lehrern, sich Wissen mithilfe der KI selbstbestimmt zu erschließen und aneignen zu können, wäre einer Revolution gleichzusetzen. Gegenüber diesen neuen Möglichkeiten sieht jeder aktuelle individualisierte Lernprozess dilettantisch aus.

Vom Lehrenden zum Coach

Gelingende Bildung hat sehr viel mit Pädagogik zu tun. Dennoch fristen Erziehung und Beziehungsarbeit heute nach wie vor ein Schattendasein in der Lehrerbildung. Hier gälte es, den neuseeländischen Bildungsforscher John Hattie ernst zu nehmen, der das simple wie deutliche "what teachers do matters" formulierte. Die äußeren Strukturen hätten nichts mit dem Erfolg von Lernen zu tun. Wenn der Lehrende erfolgreich sein wolle, so Hattie, müsse er sich als Regisseur, als "Activator" verstehen. Für immanent wichtig hält Hattie die emotionale Seite des Lernens, Respekt und Wertschätzung, Fürsorge und Vertrauen.

Auch im Klassenzimmer der Zukunft wird der Lehrende derjenige sein, der verantwortlich ist für die Motivation der Lernenden, der es schafft jenseits des Einflusses der KI (und der globalen Firmen, die dahinterstehen) Themen zu setzen, und vor allem derjenige, der für das Mit- und Zwischenmenschliche im Klassenzimmer verantwortlich ist. Die Hauptaufgabe der Lehrenden im Klassenzimmer der Zukunft könnte das Coaching sein, also das Begleiten und Beraten der Lernenden. Durch den Einsatz von KI wird voraussichtlich viel Zeit frei werden. Diese Zeit könnte im Coaching sehr effektiv eingesetzt werden.

Dafür wäre eine komplette Neuausrichtung der Lehrendenausbildung erforderlich. Pädagogische und psychologische Kompetenz, Coaching- und Präsentationsfähigkeiten, Kreativität und kritisches Denken, Empathie, Toleranz, Widerstandsfähigkeit, Courage sowie eine in sich ruhende Persönlichkeit würden Vorrang vor Fachwissen haben. Die KI wird zumindest nicht mehr in diesem Jahrhundert in der Lage sein, die soziale Komponente des Lernens zu übernehmen. Dem deutschen Neurobiologen Gerhard Roth zufolge gibt es keinen Grund zu glauben, dass eine typische künstliche Intelligenz von menschlichen Gefühlen bewegt sein würde: Diese komplexen evolutionären Anpassungen müsste man ihr erst mit viel Zeit und Mühe einprogrammieren. Genau diese für unser Zusammenleben wichtigen "soft Skills“ werden daher noch mehr in der Verantwortung der Lehrenden liegen. Es wird maßgeblich darum gehen, Fragen zu stellen, die eine künstliche Intelligenz nicht stellen wird oder beantworten kann. Und noch viel wichtiger wird es sein, Antworten auf Fragen zu geben, die sich nur der Mensch stellt.

Nach einem Jahrzehnt als Streetworker ist Tom Mittelbach nun seit fast einem weiteren Jahrzehnt Fachlehrer, Multimediaberater und Fachberater. Der Autor ist 43 Jahre alt, verheiratet und hat drei Töchter.