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Digitale politische Bildung für Geflüchtete | Digitale Bildung und Geflüchtete | bpb.de

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Digitale politische Bildung für Geflüchtete

Marie Illner

/ 4 Minuten zu lesen

Ankommen in Deutschland bedeutet für Geflüchtete nicht nur, die deutsche Sprache zu lernen, sondern auch zu verstehen, wie das politische System funktioniert und welche Werte im gesellschaftlichen Zusammenleben von Bedeutung sind. Welche Möglichkeiten digitale Angebote hierbei bieten, welche Risiken sie mit sich bringen und warum die digitale politische Bildung nicht ohne die analoge auskommt, schreibt Marie Illner vom Jugend-Online-Magazin f1rstlife.de in diesem Gastbeitrag.

Digitale Medien in der politischen Bildung. (Esther Vargas/Externer Link: Flickr/ bearbeitet) Lizenz: cc by-sa/2.0/de

Barbara Thomaß ist Professorin für Medienwissenschaften an der Ruhr-Uni Bochum. Sie betrachtet die aktuellen Flüchtlingsbewegungen stets aus zwei Blickwinkeln – "als Bewegung hin zu Ländern, deren politisches System sie befürworten, und als Bewegung weg von ihren Heimatländern", deren politischem System sie kritisch gegenüberstehen. "Neuorientierung ist da extrem wichtig. Flüchtlinge kommen nach Deutschland, weil sie unser politisches System gut finden", sagt sie. Um sich integrieren und mit einem Land identifizieren zu können, sei das Wissen um das politische System, das gesellschaftliche Zusammenleben und demokratische Grundwerte wie Toleranz, Meinungsäußerung und demokratische Teilhabe in allen seinen Ausprägungen wichtig.

Einsatz von digitalen Medien in der politischen Bildung

Wo soll die Vermittlung politischer Bildung primär stattfinden? Im Unterricht? Lässt sich der Klassenraum in die digitale Welt verschieben? Ist selbstständiges digitales Lernen denkbar? Der Einsatz von Medien in der politischen Bildung ist nicht neu. "Medien sind immer Vermittlungsinstanzen. In einer pluralen Gesellschaft wie der unseren können politische Debatten nur medial geführt werden", sagt Anja Besand, Politikwissenschaftlerin an der TU Dresden. Die Vorteile digitaler Bildung seien die Erreichbarkeit eines breiten Publikums, der geringe personelle Aufwand und der zeitunabhängige Zugang für die Lernenden.

Digitale Medien sind auch den Neuankömmlingen nicht fremd. "Ich informiere mich mit meinem Handy über das Weltgeschehen, zum Beispiel über die Deutsche Welle", sagt die 16-jährige Areezo, die vor einem Jahr aus Afghanistan nach Deutschland flüchtete. Die Unterschiede zum politischen System in ihrer Heimat sind Areezo schnell aufgefallen. Als Beispiel nennt sie eine weibliche Bundeskanzlerin. Die Wahl einer Frau zum Staatsoberhaupt sei in ihrer maskulin geprägten Heimat unmöglich. Auch Freizügigkeit und hohe Bildungsstandards kennt sie aus ihrem Heimatland nicht. Die Analphabetenrate in Afghanistan liegt bei über 50 Prozent. Momentan besucht Areezo im Rahmen einer Sprachschule einmal pro Woche den Politikunterricht. Am produktivsten sei sie hier, wenn sie gemeinsam mit anderen lerne.

Selbstständiges Lernen hat Grenzen

Selbstständig im Netz lernen? "Das kann nur eine Ergänzung sein!", ist sich Olaf Ring sicher, der als Flüchtlingshelfer aus der Praxis berichtet. "Die Theorie kann auf dem Tablet vermittelt werden. Es muss aber eine Beziehung zur realen Welt bestehen." Digitales Lernen sei nicht weniger und auch nicht mehr wert als persönlicher Unterricht. "Das ist eine Möglichkeit von vielen. Geistige Erfahrungen über Medien und gefühlsbetonte Erfahrungen, die lebendige Menschen vermitteln, gehören zusammen", sagt auch die Medienwissenschaftlerin Barbara Thomaß.

Um Lernenden den Raum zu geben, Demokratie wirklich nachzuvollziehen und keinen interessensgeleiteten Einzelmeinungen aufzusitzen, müsse stets erkennbar sein, wer ein bestimmtes Angebot entwickelt hat. Barbara Thomaß sieht gerade hier Gefahren: "Angebote die in Fremdsprachen über Deutschland informieren, können wir nicht immer kontrollieren. Die Seriosität von Angeboten ist abhängig von den dahintersteckenden Motivationen". Das gelte im Online- und im Printbereich gleichermaßen, erklärt auch Anja Besand.

Quervernetzung zwischen Digital und Analog

Über eines sind sich alle Expertinnen und Experten einig: Damit politische Bildung für Neuankömmlinge erfolgreich gelingt, sind weitere Schritte nötig. "Eine Quervernetzung der Angebote untereinander wäre sinnvoll", empfiehlt Besand und bezieht sich auf die vielen bereits bestehenden Angebote. 
Konkret fordert sie, Portale einzurichten, auf denen politisch und sozialwissenschaftlich geprüfte Materialien gebündelt für Integrationskurse bereitgestellt werden. Bisher gebe es oft nur Plattformen, deren Lehrmaterialien vor allem den Erwerb der deutschen Sprache unterstützen sollen. "Sie enthalten teils falsche Vorstellungen davon, welche Lernangebote Geflüchtete brauchen, um – neben der Sprache – auch politisch und gesellschaftlich in ihrer neuen Heimat anzukommen", sagt sie.

Dagegen wünscht sich Barbara Thomaß, dass die Angebote attraktiver gestaltet werden und die Verbindung zwischen Onlineangeboten und dem notwendigen persönlichen Kontakt gestärkt werde.

Enzyklopädie der Werte

Areezo und Olaf Ring könnten sich auch eine Enzyklopädie vorstellen, die in komprimierter Form theoretische Begriffe und unkonkrete Werte wie "Meinungsfreiheit", "Gleichberechtigung" oder "Pünktlichkeit" definiert und konkrete gesellschaftliche Anknüpfpunkte liefert. Wie wird in Deutschland Meinungsfreiheit ausgelebt? In welchem Kontext ist der Wert "Pünktlichkeit" wichtig? Denkbar wäre eine multiperspektivische Sichtweise, die gemeinsam mit Flüchtlingen erarbeitet wird. Das Prinzip der Schwarmintelligenz, wie es bei Wikipedia zum Tragen kommt, stieße hier allerdings an seine Grenzen. Inhalte müssten einer gewissen objektiven Kontrolle unterliegen.

Im Moment sehen sich Geflüchtete, die sich etwa mithilfe von Videos, Büchern oder Hörbüchern informieren, mit einem weiteren Problem konfrontiert. Der Syrer Mohammad Altayep, der für das bilinguale Flüchtlingsprojekt "AMAL" des Jugendmagazins f1rstlife schreibt, berichtet: "Es häufen sich die Fälle, bei denen Flüchtlinge für illegale Downloads in ihren Unterkünften belangt werden. Auf Copyright wird in unseren Herkunftsländern weniger Wert gelegt als in Deutschland."

Trotz Gefahren und Risiken, die das Internet birgt: Digitale Bildung kann die Brücke in die reale Welt bauen, denn da sollen Flüchtlinge ja ankommen – in der Gesellschaft.

Marie Illner ist Studentin der Medienwissenschaften und Anglistik in der Ruhr-Universität Bochum. Sie schreibt unter anderem als freie Mitarbeiterin in der Lokalredaktion der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Für das Jugendmagazin firstlife schreibt sie als Autorin in den Rubriken Politik & Gesellschaft sowie Lifestyle.